Alles auf Zucker

Pansexuell In seinem Roman "Engelsberg" definiert Reinaldo Arenas einen kubanischen Nationalmythos um

Als Heinrich Heine bei einem Treffen mit Goethe in Weimar vom großen Meister gefragt wurde, woran er denn gerade arbeite, lautete die Antwort schlicht: am Faust. Es folgte Stille, denn der Alte wollte lieber nicht wissen, warum Heine den deutschen Nationalmythos um- beziehungsweise neu schreibt.

Anders ging es bei einem Treffen der kubanischen Schriftsteller Cirilio Villaverde, Autor von Cecilia Valdés oder der Engelsberg, und Reinaldo Arenas in der Emigration in New York zu - eine fiktive Begegnung, denn es liegen 100 Jahre dazwischen. Der alte Villaverde fragte, woran Arenas gerade arbeite und erhält die Antwort: an Cecilia Valdés oder der Engelsberg. Anders als Goethe will der Meister der kubanischen Literatur des 19. Jahrhunderts wissen, warum der Junge "sein großes Werk" noch einmal neu schreibt. Schließlich gilt der 1882 in New York erschienene Roman als Nationalepos Kubas.

Arenas zollt Villaverde Hochachtung. Doch er erklärt das literarische Projekt, die spanische Kolonie Kuba in eine zukünftige kubanische Nation zu überführen, für gescheitert. Villaverdes Versuch die Widersprüche, Herr - Knecht, Sklave - Plantagenbesitzer, Schwarz-Weiß mit dem Ideal der Liebe und der Ehe zu überwinden, lässt sich für Arenas selbst auf dem Papier nicht einlösen. Das gilt natürlich nicht für andere nationale Gründungsromane in Lateinamerika.

Cecilia ist die uneheliche Tochter des reichen spanischen Geschäftsmannes und Grundbesitzers Don Cándido de Gamboa und einer Mulattin. Im Viertel "Engelsberg" wird Cecilia als junges Mädchen als "die kleine Bronzejungfrau" verehrt. Wegen ihrer Schönheit verlieben sich viele Männer in sie, zum Beispiel der Mulatte Pimienta und der eheliche Sohn ihres Vaters Leonardo. Um einen Inzest zu verhindern, wird sie auf Betreiben des Vaters eingesperrt, dann von Leonardo entführt. Doch bald schwindet dessen Leidenschaft, und er verbindet sich mit Isabel, einem weißen Mädchen seiner Kreise. Leonardo wird am Hochzeitstag vor dem Altar von Piementa im Auftrag der eifersüchtigen Cecilia getötet.

Die literarische Heldenfigur Cecilia Valdés heiratet nicht, es gibt keine bleibenden Verbindungen zwischen Weißen und Schwarzen. Arenas unterstreicht das Moment mit den Kapitelüberschriften: "Die Schwarzen und die Weißen" und "Die Weißen und die Schwarzen". Um die Gründe des Scheiterns, ein Kuba auf der literarischen Landkarte zu zeichnen, offen zu legen schreibt Arenas Cecilia Valdés oder der Engelsberg in Form einer Parodie neu. Keine Szenerie eignet sich besser zum auf die Schippe nehmen als Bälle oder Hochzeiten, die klassische Situation wie das Duell oder christliche Zeremonien wie das Abendmahl. Dem deutschen Leser entgeht leider ein wichtiger Teil des Genusses, da Villaverdes Roman bisher nicht übersetzt wurde.

Arenas nun erzählt die Geschichte Cecilia Valdés durch die Linse des "Pansexualismus". Ein besserer Begriff für die literarische Praxis Arenas, er stammt von seinem Schriftstellerkollegen Guillermo Cabrera Infante, lässt sich nicht finden. Pansexualismus meint den Zustand "paradiesischer" Unschuld von Sex mit der Natur, dem Meer, den Bäumen, Regen, Luft, unter Kindern, Jugendlichen, Männern, Frauen zu sprechen. Arenas versteht Pansexualismus als Grundform des Austauschs mit der Welt.

In Deutschland wurde Arenas mit der Übersetzung seines Romans Reise nach Havanna (spanisch 1990) entdeckt, der etwa zeitgleich zu Engelsberg entstand. Für deutsche Intellektuelle spielte er die Rolle, die Solschenyzin mit seinem Archipel Gulag in den siebziger Jahren für französische Intellektuelle hatte. Fidel Castro Ruz´ kulturpolitische Losung 1961 lautete: "Innerhalb der Revolution alles, außerhalb der Revolution nichts". Sie führte sehr bald zur Marginalisierung und zum Konflikt mit Schriftstellern der älteren Generation, zum Beispiel den bekannten (homosexuellen) Meistern José Lezama Lima oder Virgílio Piñera, die heute von der jungen Generation kubanischer Autoren als Helden der kubanischen Moderne gefeiert werden.

Virgílio Piñera war Arenas Meister und Mentor. Doch die alten Schriftsteller galten offiziell entweder als nicht "revolutionär" oder "konterrevolutionär". Der italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli, der 1964 und 1965 nach Kuba reist, diskutierte bei seinem Treffen mit dem "Barba Massima" wie er Castro spöttisch nennt, dessen Haltung zu Intellektuellen, Schriftstellern und Homosexuellen: "Große Hochachtung für Alejo Carpentier, aber keinerlei Verständnis für die anderen, die er für Parasiten hält", notierte Feltrinelli in seinem Protokoll, wie man in der 1999 erschienenen Feltrinelli-Biografie Senior Service von Carlos Feltrinelli nachlesen kann.

Als kulturpolitische Lösung wurde angestrebt, eine neue Intelligenz aufzubauen, die aus Arbeiter- und Bauernkindern heranzuziehen war. In dem Bauernjungen Reinaldo Arenas und in Jesús Díaz, einem proletarischen jungen Mann mit philosophischen Allüren, sah man die beiden großen Hoffnungsträger. Beide waren überzeugt, dass mit dem Ende der Bourgeoisie und der Einführung des tropischen Sozialismus das Ziel erreicht würde, ein Kuba zu schaffen.

Anlässlich des ersten Romans von Reinaldo Arenas, Celestino vor dem Morgengrauen, (1967) erschien in der wichtigsten Zeitschrift Kubas, Casa de las Américas, ein Loblied: Reinaldo Arenas wurde als der größte kubanische novelista aller Zeiten gefeiert. Für seinen zweiten Roman Wahnsinnige Welt von 1968 erhielt er in Frankreich einen Preis. In Kuba bestrafte man ihn dafür, ein Manuskript ohne Erlaubnis ins Ausland geschickt zu haben. Er erlebte am eigenen homosexuellen Leib das Scheitern des revolutionären Vorhabens. Auf Publikations-, Schreibverbot folgten Gefängnisstrafe, Umerziehungslager.

1969 dann die (vorläufig) schlimmste Krise der kubanischen Revolution. Mitte der sechziger Jahre versuchte Kuba, einen eigenen, "tropischen" Sozialismus zu entwickeln. Es wurden zwei Strategien verfolgt: der Export der Revolution nach Lateinamerika, flankiert durch die angestrebte ökonomische Unabhängigkeit: dank eigener Devisen sollte ein Industriepark gekauft werden. Mit Che Guevaras Tod war die Verbreitung der kubanischen Revolution in Lateinamerika endgültig gescheitert. Von dem Planziel (1969) zehn Millionen Tonnen Zucker blieben nur sechseinhalb Millionen. Das Aufbegehren und Unbehagen der Schriftsteller unter ihnen Arenas, die zur Verhaftung des Dichters Heberto Padilla führte und zum Bruch der kubanischen Führung mit namhaften internationalen Intellektuellen, war das nach außen sichtbarste Symptom dieser Krise.

Zur Rechtfertigung der Repressionswelle und der unsäglichen Politik, die dem Ersten Nationalen Kongress für Erziehung und Kultur (23. bis 30. April 1971) aufgezwungen wurde und deren Konsequenzen bis heute spürbar sind, gaben das Direktorium der Casa de las Américas 1971 in der gleichen Zeitschrift in der Arenas 1967 gefeiert worden war, folgende Erklärung über die kubanische Situation ab, nachdem sie nachhaltig an die nur 120 Kilometer entfernte Präsenz der USA erinnert hatten: "Es ist gleichermaßen möglich zu vergessen, dass innerhalb unseres Grenzgebiets, wo wir für den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft kämpfen und das Volk schon Herr seines Schicksals ist, dennoch eine Art "fünfter Kolonne" (das schon klassische Bild spanischer Geschichte ist unübersehbar, E.S.) existiert, die je nach Aufgabe vom Sabotieren einer Maschine bis zum ideologischen Aufwiegeln reicht". Das Groteske und Tragische an der Situation ist, dass im Zuge der Repressionswelle gegen Dichter und Intellektuelle 2003 dieselbe Bezeichnung von der "quinta columna" wiederholt wurde.

"Zucker", Hauptstütze und Exportprodukt Kubas, hieß das Motto auch in den achtziger Jahren, als Kuba Vollmitglied in der Handelsvereinigung der sozialistischen Länder war: "Zucker bedeutet Unabhängigkeit, Kultur und Identität". Diese heute als Goldenes Zeitalter der Konsumgesellschaft wahrgenommenen Jahre hatten ihr Gegenstück: das Trauma der massivsten Emigrationswelle in der Geschichte Kubas. Zwischen 1980 und 1982 reisten 125.000 sogenannte "marielitos" - benannt nach Mariel, dem Hafen der Ausreise nach Miami. Einer der "marielitos" war Reinaldo Arenas.

1981 veröffentlichte Arenas das lange Prosagedicht Die Zuckermühle. Als absoluten Kontrapunkt zu dem Slogan "Unabhängigkeit, Kultur und Identität" zeichnet er die Zuckerkultur als Vernichtungsmaschine, Repressionsapparat in der kolonialen Vergangenheit und gegenwärtigen Geschichte Kubas. In Engelsberg greift er das Thema erneut auf. Arenas entwirft parodistisch, hyperbolisch das Szenarium der berühmten Zuckerrohrplantage La Tijana, die auch in Castros Zeiten das Vorführmodell ist, im Moment der Einführung der englischen Dampfmaschine. Als die Maschine sich nicht in Bewegung setzt, werden Sklaven hinaufgetrieben, um die Maschinerie zu überprüfen. Einer öffnet das Sicherheitsventil des Auspuffs und "der Sklave wurde von der Gewalt des Dampfes als schwarze Rauchsäule in die Luft geschossen". Der Besitzer der Zuckermühle befiehlt, den Apparat anzuhalten, er hält die Maschine für Verrat der Engländer (England verfügte 1833 die Abschaffung der Sklaverei): "Ich wusste doch, dass man mit den Engländern keine Geschäfte machen kann. Das ist ein Trick, um die Neger nach Afrika zurückzuschießen." Auf die offenbarenden Worte klettern Hunderte Sklaven in den Auspuff mit dem Schrei: "Auf nach Guinea". Dem "Schauspiel" wird ein Ende bereitet, als der Plantagenbesitzer die Armee ruft, die mit "schweren Geschützen die Höllenmaschine in Trümmer" schießt.

Entscheidend an Arenas postmoderner literarischer Praxis des Wieder-Neu-Schreibens ist, dass es sich nicht lediglich um die Neuinterpretation eines bekannten Stoffes handelt, sondern völlig andere und neue Schlüsse zieht. Exemplarisch dafür und für Arenas "Pansexualismus" ist das Romanende. Zwar wird wie bei Villaverde der junge Plantagenbesitzer Leonardo Gamboa vor dem Altar erstochen. Doch gelingt der Braut Isabel, sie stammt aus einer spanischen Einwandererfamilie, nicht nur die Trauung zu Ende zu führen, sondern auch, durch ein vergnügliches Kopulieren auf den Stufen zum Altar, für Nachkommen zu sorgen. In Arenas´ Hyperbolik haben wir es hier zweifelsohne mit der Inkarnation des "Barba Massima" zu tun.

Reinaldo Arenas: Engelsberg. Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Klaus Laabs. Kommentar von Otmar Ette. Ammann, Zürich 2006, 208 S., 18,90 EUR


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