Barbaren in Peking

Manuskript Santiago Gamboas fulminanter Roman "Die Blender" führt zurück in das China des Boxer-Aufstands

Bis in die sechziger Jahre galten die argentinische und mexikanische Literatur als federführend in Lateinamerika. Die Situation änderte sich mit dem Auftauchen des Kometen García Márquez schlagartig. Ihre Erfolge schufen Raum für eine neue glänzende Generation kolumbianischer Schriftsteller: Santiago Gamboa, Fernando Vallejo, Laura Restrepo und Mario Mendoza sind die Enkel García Márquez; mit magischem Realismus haben sie aber nichts am Hut.

Santiago Gamboa legte 2002 mit Los impostores, "Die Blender", seinen dritten fulminanten Roman vor. Er ist ein Meister im Verweben der Gattungen, Erzähltechniken, im Pastiche von Figuren und Plots. In Die Blender versucht er sich am Agentenroman: Szenen, Figuren, Plots und Erzählhaltungen Graham Greens, John Le Carres, aber auch Joseph Conrads und William Sumerset Maughams werden parodiert. Das eigentliche Kunststück liegt aber im Dazunehmen eines dritten Elements, der Reiseliteratur. Aus einer postkolonialen Perspektive bürstet Gamboa diese Reiseberichte abendländischer Neugier, Sendungsbewusstseins und imperialen Anspruchs mit (selbst-)ironischer Erzählhaltung gegen den Strich.

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist ein altes chinesisches Manuskript. Während des Boxeraufstands von 1900 und der kolonialen Besatzung durch Engländer, Franzosen, Deutsche, Russen und Japaner war das Schriftstück verloren gegangen. 100 Jahre später taucht es zufällig in der Bibliothek der französischen Botschaft wieder auf und wird zum Zankapfel verschiedener Parteien. Zu Beginn des Romans befindet es sich in der Obhut eines katholischen Priesters, der sich in einer Lagerhalle in einem Randviertel Pekings versteckt. Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Manuskript kreuzen sich die Wege der Protagonisten unterschiedlicher Provenienz im Peking der Jahrtausendwende.

Die Erzählerfigur, ein Kolumbianer namens Serafín Suárez Salcedo, wird als "Jemand, der durch die Welt treibt", eingeführt. Er arbeitet als Radiojournalist beim staatlichen französischen Rundfunk in Paris, will Schriftsteller werden, liebt die französischen Reiseschriftsteller Malraux und Céline. Als er erfährt, dass er nach Peking reisen soll, liest er augenblicklich, "was jeder Franzose tun würde", die Seiten über China in Henri Michaux´Ein Barbar in Asien. Er stößt auf die Beschreibungen chinesischer Typen: "Bescheiden, schon fast geduckt, man könnte sagen phlegmatisch, mit Luchsaugen und Filzpantoffeln, schleicht leise, sieht aus, als könnte er kein Wässerchen trüben, ist aber zu allem bereit. Er hat etwas von einem Trinker, etwas Aufgeschwemmtes; als stünde etwas zwischen ihm und der Welt". Fassungslos fragt sich Suárez Salcedo in welchem Jahr Michaux "diesen Unsinn geschrieben" hat. Dann greift Salcedo zu Malraux´ Versuchung des Okzidents: "Was für ein Esprit". Er nimmt das Buch mit ins Reisegepäck.

Die zweite Hauptfigur ist Dr. Gisbert Klaus, ein passionierter Philologe der Universität Hamburg. Aus Interesse für chinesische Literatur, ohne jemals in China gewesen zu sein, avanciert er zum Sinologen. Bei der Lektüre des Reisetagebuchs Pierre Lotis, der als junger französischer Offizier beim Militäreinsatz gegen das chinesische Reich 1900 nach Peking kam und die Greueltaten der Westmächte beschreibt, beschließt Klaus, das erste Mal in seiner Sinologenkarriere nach Peking zu reisen. Er möchte wie Loti ein Tagebuch schreiben und die Werke des chinesischen Autors Wang Mian aufstöbern.

Bei dem dritten Protagonisten handelt es sich um einen peruanischen Literaturprofessor. Nelson Chouchén Otálora, der Sohn chinesischer Emigranten aus Cuzco lehrt an einer nordamerikanischen Universität, fühlt sich aber eigentlich zum Schriftsteller und Nobelpreisträger berufen. Doch trotz geschickter Eigenwerbung und Publikationen im Eigenverlag erreicht er sein ambitiöses Ziel nicht. Geschult in Widrigkeiten und der bitteren Rivalität der akademisch-universitären Welt, scheitert er beim Sprung auf der Karriereleiter an einer selbst eingefädelten Intrige. Der suspendierte Professor tritt eine Chinareise an - auf der Suche nach den Spuren seines nach Peru emigrierten Großvaters.

Der Auftrag des Journalisten Salcedo lautet das geheimnisvolle Manuskript aus den Händen des Geistlichen zu übernehmen, um es seinen Vorgesetzten (dem französischen Geheimdienst?) zu übergeben. Es handelt sich um das einzige Exemplar des Werks Wang Mians: ein Aufruf an das chinesische Volk, gegen die kolonialen westlichen Mächte zu rebellieren. Auf keinen Fall soll es - darüber sind sich westliche und östliche Obrigkeit, inklusive Kirche einig - in die Hände der in Peking agierenden Sekte der "Neo-Boxer", einer Nachfolgeorganisation der Geheimgesellschaft der Boxer, gelangen. Für sie besitzt es emblematischen Wert, kraft dessen es zum erneuten Aufstand gegen die Regierung und die Westmächte kommen könnte. In Peking überstürzen sich die Ereignisse rund um die Jagd nach dem Manuskript. Die "Neo-Boxer" entdecken, dass der Großvater Otáloras der Kopf der aufständischen "Boxer" war. Ihm gelang es, vor der drohenden Verhaftung durch die Westmächte 1900 nach Südamerika zu fliehen. Nun beschließen die neuen Chefs Nelson zum obersten Führer der Sekte zu küren. Er nimmt die Rolle unter einer Bedingungen an: von den USA aus zu agieren.

Die drei Vertreter des Westens fassen, nachdem sie den katholischen Geistlichen in seinem Versteck gefunden und über das Objekt der Begierde verhandelt haben, den gemeinsamen Beschluss: zwei Fälschungen des Manuskripts anzufertigen und das "Original" dem neuen Oberhaupt der Sekte zu überlassen. Dr. Gisbert plant mit einer Kopie zurück nach Deutschland zu fliegen, um sein Werk über Mian zu schreiben. Suárez Salcedo bekommt ein Exemplar für seine Vorgesetzten. Er ist sich sicher, "dass das Manuskript in irgend einem Archiv einer französischen Behörde den Schlaf der Gerechten schlafen würde, bis es in ein- oder zweihundert Jahren wiederentdeckt werden würde, und bis dahin die Zeit so viele Spuren verwischt hätte, dass es wieder als Original würde gelten können". Alles in allem: Ein postkolonialer Roman auf der Höhe der Zeit!

Santiago Gamboa: Die Blender. Aus dem Spanischen übersetzt von Stefanie Gerhold. Roman. Wagenbach, Berlin 2006, 320 S., 20,50 EUR


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