Nicht gedrehte Filmsequenzen sind meist das Interessanteste, wovon Filmemacher berichten können: »Auf der Bootstour auf dem Amazonas von Manaus zu der Stelle, wo der Rio Negro und der Rio Branco zusammenfließen, hat eine brasilianische Crew ein Video für die Touristen produziert. Auf der Rückfahrt saßen dann alle an Deck und haben konzentriert auf die Leinwand geschaut, kein Blick mehr für den phantastischen Amazonas. Und ich hatte keine Kamera dabei«, erzählt der australische Dokumentar-Ethnofilmer Dennis O'Rourke kürzlich beim Freiburger Film Forum. Mit Cannibal Tours (1988), der teils auf einem Luxusboot spielt, das deutsche Touristen zu Kannibalismus praktizierenden natives auf Papua-Neuguinea bringt, hatte er visuelle Feldstudien filmästhetisch und thematisch zum großen Sprung nach vorn verholfen. Indem er Gegenstand und Feld seiner Disziplin - das Herstellen von Bildern - auf das zentrale Thema Ende des 20 Jahrhunderts richtet: Tourismus und Reisen unter den Vorzeichen des Zusammenrückens der Welten, im Licht neuer medialer Möglichkeiten. Damit nimmt er zusammen mit wenigen anderen visuellen Anthropologen filmend vorweg, was sich in der Theorie erst später vollzieht. Etwa James Clifford, Anthropologie-Professor in Kalifornien, bekannt durch seine bahnbrechende Studie The Predicament of Culture, die die wacklig gewordene Position des westlichen Anthropologen in bezug auf sein Gegenüber, den »Anderen«, den »native« beschreibt. Am Beispiel anthropologischer Praxis der Surrealisten, die die magisch-indianische Kultur Mexikos entdeckt und diese fremde Kultur zum Projektionsfeld für die Darstellung der verdrängten Momente der eigenen westlichen Kultur macht. Clifford nahm auch Position gegen die wohlmeinende Politik der Ethnographie, die in ihren zugegeben faszinierenden Feldstudien, untergehende Kulturen beschreiben und dokumentieren, dabei aber Kultur als Teil der Vergangenheit »gewissermaßen einfrieren«. Für Gegenwart und Zukunft dieser ums Überleben kämpfenden Kultur sei in diesem Anthropologie Modell kein Platz. Zu Recht geriet diese letztlich paternalistische Anthropologie ins Kreuzverhör. In seinem neuesten Buch Routs (1997) bricht Clifford mit der heiligen Kuh anthropologischer Wissenschaftlichkeit. Sein Plädoyer lautet, die Grenzen wissenschaftlicher Praxis so weit aufzuweichen, daß Feldarbeit als »Travel-Encounter« - Reise-Begegnung begriffen wird. Clifford befaßt sich mit Reiseberichten von Anthropologen, aber auch mit touristischen Erfahrungen. In der Gegenüberstellung und im Vergleich ethnologischer und anderer Reiseberichte, Bilder, Photographien, Filme zeigt er wie subjektives Erleben ein tiefes kulturelles Verständnis möglich zu machen. Genau das, was Anthropologen bisher für sich allein beansprucht haben. Bei Filmemachern wie Dennis O'Rourke ist das längst geschehen. Während unter Ethnographen teils heute noch - wie bei Wortbeiträgen in Freiburg anklang - eine neutrale (objektive) Haltung verlangt wird, wenn es um Fragen geht, die mit Geschlechts-, mit Rassen-, und Klassenzugehörigkeit zu tun haben. Tabus zu brechen, sei oft die Voraussetzung für weiterführende Kenntnisse, meint Clifford. Um bei O'Rourke zu bleiben: The Good Women of Bankok, das Porträt der Prostituierten Aoi, bricht gleich mit mehreren Tabus. Der Filmemacher verliebt sich in die Thai und erzählt sehr subjektiv die Geschichte ihrer Liebe beziehungsweise Nicht-Liebe. Als Kameramann und Regisseur setzt O'Rourke auf das Spannungsverhältnis zwischen dem, der filmt und dem, der gefilmt wird. Die Komplexität und Widersprüchlichkeit im Fall der Beziehung zwischen dem westlichen, weißen Mann und Filmemacher und der thailändischen Frau und Prostituierten könnte nicht größer sein. O'Rourke bringt filmisch auf den Punkt, was Theoretiker meinen, wenn sie die Bedeutung von Ort und Standpunkt betonen von dem aus Ethnologen sprechen, schreiben und Bilder produzieren. Das meint vor allem auch die relativ neue Erkenntnis, die Perspektive mitzudenken, die bei Begegnung verschiedener Welten entsteht: der Beobachtete beobachtet den Beobachter beim Beobachten. Genau dieses hat O'Rourke in Bildern, Gesten und Worten kongenial dokumentiert und in diesen Szenen bleibt einem die Luft weg.
Wieder einmal neu entbrannt, in den das Filmforum begleitenden Debatten und Workshops, ist die alte Frage, was als ethnographischer beziehungsweise als dokumentarischer Film gelten darf. Die Veranstalter des Kommunalen Kinos signalisieren schon durch ihr Programm, daß sie undogmatisch und offen sind, denn neben Ethno- und Doku- laufen selbstverständlich auch Spielfilme. Wen wundert es, daß gerade bei den Mischgattungen, der Eigenart Dokumentarisch-Ethnographisches und Fiktiv-Erzählendes zu vereinigen, die interessantesten Filme zu finden sind. Ein solches Prachtexemplar ist der als »reiner« Dokumentarfilm geltende Mobuto Roi du Zaire von Thierry Michel (1998). Er verwendet Archivmaterial aus der 30jährigen Karriere des Diktators in seiner informativen Funktion, montiert es kontrapunktisch mit neu produzierten Bildern und Tönen, Interviews mit ehemaligen Ministern Mobutos. Die ruhige Ästhetik langer Einstellungen, die Visionen, Sichtweisen, Ein-Bildungen über den Schreckensherrscher - als Subjekt und Objekt - erzeugt eine semantische Vielfalt, die bei der Vorführung des Films in Zaire in befreiendem Lachen explodierte.
Gut, aber es geht berechtigterweise um Authentizität, Wahrheit, Wirklichkeit und Unmittelbarkeit der Bilder. Was passiert, wenn die Kamera aus der Hand ethnographischer Filmemacher in die Hände der Gefilmten wandert? Wie sehen die Bilder aus, die »native people« von sich selbst produzieren? Das Experiment, die Kamera aus der Hand zu geben, wurde 1966 in den USA gemacht: Navajo Indianer produzierten erstmals ihre eigenen Bilder. Mit dem Projekt Navajo-Filmmakers verband sich der Wunsch der Anthropologen größere Authentizität der Bilder zu erreichen. Das Ergebnis damals war eher enttäuschend. Die Bilder der Navajos ähnelten denen ihrer Begleiter. Doch als Mittel der Kommunikation, die nicht als Einbahnstraße, sondern in zwei Richtungen funktioniert und als Dokumentation, gewann das Medium Film zunehmend an Bedeutung. Das steigerte sich, seit Videokameras das Filmen erleichtern. Ethno-Videos erlebten einen regelrechten Boom. Ein überzeugendes Projekt kommt aus Brasilien: »Video in den Dörfern«. Anthropologen von der Universität von Sao Paulo haben es in den 80er Jahren initiiert. Das Unternehmen zielt darauf, einen konkreten Beitrag zu leisten für die Anerkennung und Autnomie der indianischen Gruppen. Videos und Technik bleiben vor Ort und werden bei anderen Gruppen gezeigt. Nicht den üblichen Musealisierungsprozeß fortzuschreiben, sondern die kulturpolitischen Strategien moderner indianischer Gemeinschaften zu unterstützen, das unterstreichen die paulistanischen Filmemacher Vincent Carelli und Dominique Gallois in ihrem neuesten Essay Der elektronische Indianer. Bilder und neue Übertragungstechnik können dazu beitragen, das Selbstbild in der indianischen Gemeinschaft, gerade unter den jüngeren zu stärken und dazu als politisch-kulturelle Intervention nach außen dienen. Es gilt, einen neuen Status als Individuum und als Gemeinschaft in der brasilianischen Gesellschaft und der Weltöffentlichkeit zu erreichen.
Was bleibt filmenden Ethnographen, Ethnologen, Anthropologen, Dokumentaristen, wenn natives ihre Kulturen, ihr Leben, die Politik selbst erzählen und dokumentieren? Sie suchen neue Gebiete, andere Objekte und Formen. Diese Entwicklung schlug sich beim Freiburger Forum nieder. Das endgültige Ende des Chicano Cinema, das Ende der 60er Jahre aus der Bürgerrechtsbewegung in Kalifornien hervorgegangen war und zur offiziellen Stimme und Bild der »Minderheit« hispanischer, lateinamerikanischer und karibischer Einwanderer wurde. Mitte der 80er Jahre erlebte die cinematographische Bewegung ihren Höhepunkt mit einer Welle von Dokumentarfilmen, die Geschichte und Identität behandelten. Nachdem die guten und wichtigen Filme abgedreht sind, wenden sich Chicano Filmmakers verwandten Themen zu, die der neuen Etappe, den Veränderungen im Verhältnis USA-Mexiko entsprechen. Die bekannte Filmemacherin Lourdes Portillo arbeitet an einem Film über den in Korruptionsskandale verwickelten Ex-Präsidenten Mexikos, Salinas. Er hatte 1990 Chicano Filmemacher zu einem offiziellen Besuch nach Mexiko-City eingeladen, um über das problematische hierarchische Verhältnis zwischen Chicanos und Mexikanern zu sprechen und hatte damit der kulturpolitischen Chicano-Bewegung seine Referenz erwiesen. Paul Espinosa, einer der Hauptvertreter des Chicano Cinema, dreht gerade einen Film über die 2.000 km lange Grenze zwischen Mexiko und den USA, die täglich von Tausenden illegaler Einwanderer überquert wird.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.