Gnadenloser Ungehorsam

Kommentar Es begann mit Hugo Chávez

Vor nicht allzu langer Zeit kursierte bei Wirtschafts- und Handelstreffen das Urteil, Lateinamerika versinke in Vergessenheit. Man bescheinigte dem Subkontinent anhaltende Stagnation, prophezeite schwere Krisen wie Ende der neunziger Jahre, gar afrikanische Verhältnisse. Der Pessimismus bezog sich häufig auf den Umstand, dass im Handel zwischen Lateinamerika und der EU nicht mehr umgeschlagen wurde als im Warenverkehr zwischen der EU und der Schweiz.

Daran hat sich bis heute wenig geändert, doch werden zwischen Caracas und Santiago seit geraumer Zeit ungewohnt selbstbewusste Töne angeschlagen, die jüngst auf dem Amerika-Gipfel im argentinischen Mar de la Plata dazu führten, der von den USA favorisierten Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (ALCA) eine Absage zu erteilen.

Gründe für dieses neue Souveränitätsverständnis liegen in einer durchaus erfolgreichen Handelspolitik, die inzwischen mehr und mehr einem Süd-Süd-Transfer (Lateinamerika/China und Lateinamerika/Südafrika) Priorität einräumt. Der Subkontinent ist zudem in eine Dynamik geraten, bei der sich die Andenländer Chile, Peru, Ekuador, Kolumbien, Venezuela und die Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay nicht länger als Blöcke gegenüberstehen - nicht zuletzt eine Konsequenz der von Hugo Chávez betriebenen Diplomatie des Erdöls. Venezuelas Präsident verantwortet in besonderer Weise jene Veränderungen auf der politischen Landkarte Lateinamerikas, die nach dem Votum für sozialdemokratisch bis sozialistisch geprägte Regierungen in Brasilien, Argentinien, Chile, Uruguay, Bolivien und Venezuela farblich sehr viel stärker changiert als noch vor zehn Jahren. Die Aussicht, dass 2006 mit den Wahlen in Mexiko Lateinamerika mehrheitlich linkssozialdemokratisch regiert wird, ist groß. Inzwischen scheint sogar in Brasilien eine Wiederwahl Lulas (trotz der Korruptionsfälle in seiner Arbeiterpartei) denkbar.

Nach dem "Washington Consensus" von 1990, gleichbedeutend mit dem Implantieren einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, hatte der damalige US-Präsident Clinton 1994 erstmals einen Gesamtamerikanischen Gipfel mit dem Projekt der Freihandelszone ALCA konfrontiert. Mexiko erhielt das Versprechen, am 1. Januar 1994 als erstes Land aufgenommen und damit in die "Erste Welt" katapultiert zu werden - doch dann begann genau zu diesem Zeitpunkt der Aufstand in Chiapas - die Zapatisten verschafften sich Gehör.

Jahre später, im April 2001, setzte die Bush-Regierung beim Amerika-Gipfel im kanadischen Quebec den 1. Januar 2005 als Geburtsstunde für ALCA durch. Nur einer wagte es, diesem Verdikt zu widersprechen - es war Hugo Chávez. Seither ist vieles geschehen zwischen Alaska und Feuerland. Der Chilene José Miguel Insulza, Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), spricht vom "großen Glück Lateinamerikas", geographisch weit von Konfliktzonen wie dem Irak, Afghanistan oder dem Mittleren Osten entfernt zu liegen. Um so erstaunlicher war die aggressive Diplomatie, mit der die USA auf dem Gipfel von Mar de la Plata dem ALCA-Projekt allen Widerständen zum Trotz zum Durchbruch verhelfen wollten. George Bush hatte Argentiniens Präsident Nestor Kirchner, dem Gastgeber der Konferenz, bei einem privaten Treffen zu ködern versucht, indem er von beträchtlichen Fonds für Auslandsinvestitionen in Lateinamerika sprach, von denen Argentinien profitieren könne. Aber eine Regierung in Buenos Aires lässt sich zwischenzeitlich nur noch ungern ins Handwerk pfuschen.

Mit Bushs klarer Niederlage in Mar de la Plata wiederholte sich, was Außenministerin Rice kurz zuvor in Paris widerfahren war: Die USA unterlagen auch dort, sie verloren eine Abstimmung in der UNESCO über ein Internationales Abkommen zu "Schutz und Förderung Kultureller Vielfalt und Künstlerischen Ausdrucks", das auf Brasiliens Kulturminister Gilberto Gil zurückging. Die Vereinigten Staaten, die sich gerade erst - nach 19 Jahren der Abstinenz - der UNESCO wieder zugewandt hatten, um eben dieses Abkommen zu kippen, blieben bei diesem Votum völlig isoliert. Man erinnerte sich unwillkürlich der Blockade des Kyoto-Protokolls oder des Internationalen Strafgerichtshofes (IGH) - was in Mar de la Plata und in Paris geschah, erschien symptomatisch. Lateinamerika lässt sich - von Kolumbien oder Bolivien abgesehen - nicht länger disziplinieren, es entscheidet souverän, es hat begriffen, darin liegt seine Stärke.

Ellen Spielmann, Essayistin und Sozialwissenschaftlerin


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