Hau ab, du Vagabund!

Brasilien im Vorwahlkampf und nach den Gefängnisaufständen Die Opposition will eine zweite Amtszeit des Präsidenten "Lula" da Silva unter allen Umständen verhindern

Ein progressiver Wind weht durch Lateinamerika, seit sich mit Hugo Chávez, Lula da Silva und Evo Morales ein Pol von Mitte-Links-Regierungen gebildet hat, sagt die argentinische Soziologin Maristella Svampa in einem Interview für den Freitag (Seite 8) - damit sind nicht nur sozialreformerische Ansätze in Venezuela, Brasilien oder Bolivien gemeint. Es geht um ein Souveränitätsbegehren (gegenüber den USA), das sich nicht allein auf rechtliche und moralische Ansprüche gründet, sondern auf dem Einsatz strategischer Ressourcen beruht.

Es ist der vierte Tag der so genannten "Blutwoche" von Sao Paulo. Bei den Aufständen in verschiedenen Haftanstalten soll es bisher 94 Tote gegeben haben, die Zahlen steigen Stunde für Stunde. Am Ende werden fast 300 Menschen ums Leben gekommen sein - Häftlinge, Wärter, Polizisten, Unbeteiligte.

An diesem Montag, dem 15. Mai 2006, bin ich zunächst froh, auf meinem morgendlichen Weg zum Campus der Universität einen der wenigen Busse erwischt zu haben. Nach zehn Stationen steige ich um, die Fahrt verlangsamt sich, die Straße ist auf eine Spur verengt. Es geht an Polizisten mit Maschinenpistolen vorbei, seit dem zweiten Tag der Revolten sind "schwere Waffen" befohlen - der Großraum Sao Paulo steht unter Schock.

Am Nachmittag verlasse ich die Bibliothek früher als gewöhnlich, mein Bus zieht eine Riesenschleife über das Universitätsgelände, es wird voller und voller, eigentlich nichts Ungewöhnliches. Dann geht gar nichts mehr, ein Stau ohne Ende auf dem Campus mit seinen dreispurigen Trassen. Aus den Instituten strömen die Mitarbeiter, steigen in Autos, in Busse, auf Motorräder. Zwei Stunden später sind wir keine hundert Meter weiter, ich verlasse den Bus, laufe wie viele zu Fuß und erreiche nach einer Stunde einen der vielen Busbahnhöfe. Trauben von Menschen auch hier. Der größte Verkehrsstau des Jahres in Sao Paulo, 195 Kilometer Länge, wie ich abends im TV erfahre. Bereits am Nachmittag hat man die Gefängnisaufstände offiziell für beendet erklärt. Gleichzeitig aber verkündeten Radio und Television für den Abend eine Ausgangssperre, deshalb wollte ganz Sao Paulo nach Hause rasen und war dabei zunehmend in Panik geraten. Jeder wusste, dass jetzt die Polizei ausrückt.

Das Erste Hauptstadtkommando probt den Aufstand

In den folgenden Tagen gibt es 109 Tote, die laut offiziellem Bulletin bei "Konfrontationen mit der Polizei" starben. Die Gendarmerie-Kommandos durchkämmen Favelas wie Jardim Ema, ein Viertel 50 Kilometer vom Zentrum Sao Paulos entfernt, von dem kaum einer weiß, dass es überhaupt existiert. Die Anschuldigungen, es gebe polizeiliche Exekutionen und Vergeltungsmaßnahmen, werden von Polizeisprechern dementiert, doch zeigen sich bei den vorgelegten Zahlen über die Toten etliche Unstimmigkeiten. Als eine verbindliche Namensliste aller Opfer auch nach acht Tagen noch nicht vorliegt, setzt die Staatsanwaltschaft dem Gouverneur von São Paulo eine Frist von 72 Stunden und droht mit Beugehaft.

Anlass für die Megarebellion in den Gefängnissen und für die parallelen Aktionen draußen ist die Verlegung von 765 Gefangenen des offiziell als "kriminelle Fraktion" bezeichneten Ersten Hauptstadtkommandos (Primeiro Comando do Capital/PCC) in eine Strafanstalt, die 620 Kilometer von Sao Paulo entfernt liegt. Dass sich unter den Deportierten auch der oberste Chef des PCC, der 38-jährige Willians Herbas Camacho ("Marcola") befindet, ist die Initialzündung für eine bewaffnete Revolte.

Der PCC hat sich 1993 im Strafvollzug São Paulos in Anlehnung an ähnliche Assoziationen von Häftlingen in Rio de Janeiro gegründet. Mit ihrem Kürzel tritt die Gruppe erstmals 1997 bei einem Gefängnisaufstand in Sorocaba (Bundesstaat Sao Paulo) in Erscheinung, ein Jahr später gibt sich das Erste Hauptstadtkommando ein Statut, als wäre es eine Partei oder Gewerkschaft. Ableger in anderen Bundesstaaten tauchen auf, begünstigt durch Netzwerke aus Polizisten und Kriminellen - und es werden Mitgliedsbeiträge erhoben: für Vollmitglieder monatlich 750 Real (300 Euro), für assoziierte Mitglieder 550, für Strafgefangene 50 Real. Wer Zahlungen schuldig bleibt, kann sie durch "Leistungen" erbringen. Darunter fallen Operationen gegen die Polizei wie beim Aufstand im Mai - jugendliche Schuldner als Kanonenfutter des PCC.

Im Bundesstaat Mato Grosse do Sul an der Grenze zu Paraguay steuert das Kommando den Transfer von Drogen, in Rio de Janeiro unterhält es Geschäftsbeziehungen zum Syndikat "Rotes Kommando", man liefert Waffen und Crack, und man nutzt die Kanäle zwischen Polizei und Unterwelt, um gesuchte Mitglieder zu verstecken oder hier und da Verwandte unterzubringen.

Das Ende der jüngsten Gefängnisaufstände wird schließlich durch Verhandlungen mit der Stadtregierung von São Paulo erreicht. Die allgemeine Konsensformel lautet: "Die Fraktion knüpfte den Waffenstillstand an Zugeständnisse für die verlegten Gefangenen." Nur bestreitet Claudio Lembo, der Gouverneur von São Paulo, überhaupt verhandelt zu haben. Als Exponent der Rechtsaußenpartei (PFL) weiß er lediglich: "Die Aufstände waren absehbar." Verantwortlich sei "die weiße Elite", sie trage die Schuld für die Gewalt und Armut in Sao Paulo: "Die Bourgeoisie muss aufhören die Gesellschaft auszubeuten, sie muss ihren Geldbeutel öffnen, um das Elend zu verringern."

Als Firmen- und Bankchefs unter Vertrag nehmen

Die Reaktionen auf die Gefängnisrevolten, die allein der Region von Sao Paulo höhere TV-Einschaltquoten bescheren als der 11. September 2001, schwanken zwischen Entsetzen und Hilflosigkeit. Der Ruf nach neuen, schärferen Gesetzen, nach der Todesstrafe wird laut. Mehr Aufmerksamkeit als diese Reflexe verdienen Hinweise auf die Topographie der Mega-Metropole, durch die sich Sao Paulo von Rio unterscheidet. Mit der urbanen Expansion wurde bereits seit den siebziger Jahren die arme Bevölkerung weit hinaus in die Peripherie vertrieben, während für die Reichen und den Mittelstand die neuen Favelas unsichtbar bleiben und somit nicht existieren. Erst die bewaffneten Angriffe des PCC sorgen dafür, dass es Ende der neunziger Jahre mit der Amnesie und Ignoranz vorbei ist.

"Es war das Ende der Illusionen erreicht", kommentiert der Historiker Nicolau Sevcenko rückblickend. Und der Dominikaner und Schriftsteller Frei Betto beschwert sich, Brasilien verfalle mit seiner Verbrechensbekämpfung dem nordamerikanischen Muster: Wie in den USA würden immer mehr und immer gewaltigere Gefängnisse gebaut und Gesetzesänderungen diskutiert, um wieder die Todesstrafe verhängen zu können. Das Gefängnissystem, so Frei Betto, trage heute Züge einer Sklavenhaltergesellschaft. Vier Fünftel der Strafgefangenen gehörten zu den zwei bis drei Millionen Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 21, die im Großraum Sao Paulo seit Jahren ohne Schulabschluss blieben.

Wenig produktiv sind hingegen die Urteile der Anthropologin Alba Zaluar aus Rio, deren Studien über Gewalt in der Favela Cidade de Deus dem gleichnamigen Erfolgsfilm City of God die Story lieferten. Sie will in den Erklärungen des PCC eine politische Rhetorik entdeckt haben, die auf Verbindungen mit "der Linken, mit den Extremisten" in Kolumbien, Bolivien, Venezuela und Peru hindeute. Origineller äußerst sich der ehemalige Rektor der Universität Rio de Janeiro, Carlos Lessa, indem er die Führung des PCC zu den "erfolgreichsten Exekutivkräften des Jahres" erklärt. Angesichts des Unvermögens der Elite Sao Paulos, derartige Eskalationen zu verhindern, räsoniert er sarkastisch, dass die Männer des PCC "wegen ihrer Führungsqualitäten als Firmen- und Bankenchefs" unter Vertrag zu nehmen seien, sie zeigten "umfassende Kompetenz und know how, um Rebellionen und Angriffe zu planen und zu koordinieren".

Präsident Lula für Evo Morales zur Kasse bitten

Versuche der Opposition, nach der "Blutwoche" von Sao Paulo das Thema innere Sicherheit für sich auszuschlachten, werden von der Regierung Lula sofort abgeblockt. Zum frühest möglichen Zeitpunkt habe Brasilia den Einsatz föderaler Militärs angeboten, heißt es, der Präsident habe daher den Gouverneur von São Paulo persönlich angerufen. Warum aber kam der Aufstand des PCC gerade jetzt?

Seit Wochen schon wird die Regierung durch mehrere Untersuchungskommissionen unter Druck gesetzt, die als Antikorruptionskampagne der Opposition daherkommen und von einer medialen Kanonade sondergleichen flankiert werden. Ein unter der Vorgängerregierung von Fernando Henrique Cardoso undenkbarer Vorgang. Unter seiner Präsidentschaft beschäftigte sich keine einzige Kommission mit gesetzwidrigen Privatisierungen oder dem Kauf von Stimmen (auch wenn es dafür an Indizien nicht fehlte), gab es keine Presse weit und breit, die sich dafür ernsthaft interessierte.

Ende April versucht die Opposition gar, ein Impeachment gegen Lula auf den Weg zu bringen, vermutlich der letzte große Anlauf, um seine erneute Kandidatur für die Präsidentenwahlen im Oktober zu torpedieren. Bisher ohne Erfolg. Lula wird des Verrats nationaler Interessen beschuldigt, angeblich betreibe er den Ausverkauf des Landes. Hintergrund sind die vom bolivianischen Präsidenten Evo Morales verfügten Nationalisierungen, für die Lula innenpolitisch zur Kasse gebeten werden soll. Die Zeitung Folha de S. Paulo titelt am 8. Mai: "Bolivien bereitet Enteignung brasilianischen Bodens vor. 200 Latifundien im Grenzgebiet zu Bolivien bedroht!" Dass es sich dabei um brasilianische Sojaplantagen auf bolivianischem Territorium handelt, steht nirgends.

Lulas Chancen, bereits im ersten Wahlgang am 1 Oktober wiedergewählt zu werden, sind zweifellos gestiegen. Als Gegenkandidat firmiert mit Geraldo Alckmin ein bis dato unbekanntes Gesicht der oppositionellen Sozialdemokraten des PSDB. Alckmins Aufstieg begann Ende der neunziger Jahre unter dem Patronat von Mario Covas, des einstigen Gouverneurs von Sao Paulo. Alckmins großer Trumpf ist seine Gattin, die als Präsidentin eines Wohltätigkeitsvereins hier einer Gemeinde ein Fußballfeld stiftet, dort eine Favela mit einer Kindertagesstätte beglückt und so weiter - kurz: Wahlgeschenke gegen Stimmen tauscht.

Wie auch immer, im Großraum Sao Paulo wird Lula kaum gewinnen, doch wie ich bei einem Gespräch mit dem Schriftsteller Milton Hatoum aus Manaus erfahre, würden dort 70 bis 80 Prozent für den jetzigen Präsidenten votieren, für den gesamten Nordosten lägen die Schätzungen bei 60 Prozent.

Die zuletzt eingeführten Sozialprogramme - allen voran Bolsa-Família, das Familien ohne oder mit sehr geringem Einkommen ein Existenzminimum verschafft - beginnen zu greifen. Das Ministerium für Soziale Entwicklung und Hungerbekämpfung legt gerade weitere Programme auf: "Licht für alle" zum einen und "Ausbildung für Jugendliche und Erwachsene" zum anderen. Derartige und andere Vorhaben sollen Familien in kürzeren Zeiträumen als bisher in die Lage versetzen, ohne staatliche Beihilfe auszukommen (ein besonders darauf bezogenes Projekt des Arbeitsministeriums nennt sich Selbsthilfe und Solidarökonomie). Bereits 1998 hatte der Ökonom Paul Singer eine so genannte "Technologische Brutstätte von Volkskooperativen" an der Universität Sao Paulo gegründet. Heute verantwortet Singer den Sektor Solidarökonomie im Arbeitsministerium, seine "Brutstätte" widmet sich nun Projekten des Recyclings, des Kunsthandwerks und der Pädagogik oder kleinen Kooperativen, die als Schneiderateliers oder Restaurants entstehen.

Im Wahlkampf 2002 bestritten Künstler und Musiker die Lula-Kampagne entscheidend mit, heute stellt sich eine Mehrheit von ihnen gegen den Präsidenten. Viele denken wie der Musiker Caetano Velloso, für den sich die Regierung lediglich mit einer linken Aura umgeben hat, ohne eine linke Politik zu machen. Im Unterschied dazu erklärt der Musiker, Dichter und Schriftsteller Chico Buarque de Hollanda ungerührt: "Ich wähle Lula!" Zwar bleibe es auf die Wirtschaftspolitik ohne Einfluss, ob Lula oder ein anderer regiere, aber vorhandene Spielräume, um in der Sozialpolitik zu investieren, die schöpfe Lula besser aus. Für Chico Buarque vergreifen sich die Opposition wie auch die Medien derzeit heftig im Ton, Lula werde als "Vagabund" denunziert, der "zurück in die Sklavenhütte" gehöre. Klassenvorurteile träten offen zu Tage, "als ob es ein Zugeständnis gewesen wäre, dass Lula Präsident wurde ..." Man rufe ihm nach: "Hau ab, du Vagabund!", als ob ein "Dienstbote wieder das Herrenhaus verlassen müsse, dessen Luxus er für kurze Zeit genießen durfte".

Das soziale Ressentiment gegen Lula, so Chico Buarque, "besteht fort und hat sich noch gesteigert. Erst setzte die Opposition Himmel und Hölle in Bewegung, um seine Wahl zu verhindern. Die Regierung Fernando Henrique Cardoso veränderte sogar ihre Mandatszeit, um wiedergewählt zu werden. Und jetzt wird ausgerechnet Lula öffentlich als Esel, Dummkopf, Vagabund, Dieb - selbst als Mörder - beschimpft." Der Präsident habe kaum eine Zeitung, kaum einen TV-Kanal hinter sich - im Gegenteil "unter Journalisten herrsche ein Wettstreit, wer stärker und mehr zuschlägt", beklagt Chico Buarque.


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