Lang lebe der Patriarch von Macondo

Schlüsselerlebnis Zum 80. Geburtstag von Gabriel García Márquez

Alle guten Dinge sind drei: Gabriel García Márquez feiert am 6. März seinen 80. Geburtstag, sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Nobelpreisträger, und der Welterfolg Hundert Jahre Einsamkeit wird 40 Jahre alt. Hier kommt seine Magie des Erzählens erstmals zur vollen Geltung: im Erfinden von Metaphern und Setzen von Symbolen. Mit Hyperbolik schafft er einzigartige Erzählräume und Romanfiguren aus Fleisch und Blut.

Nehmen wir zum Beispiel "Remedios die Schöne" aus Hundert Jahre Einsamkeit, die als Verkörperung der Unschuld in Macondo nackt herumspaziert, ausgestattet mit einem betörenden Parfüm hat sie eine verheerende Wirkung auf die Männer und das gesamte Dorfleben. Europäische Leser mögen sich 1967 Remedios als Brigitte Bardot vorgestellt haben, heute ist es wahrscheinlich Jennifer Lopez. Was aber passiert mit einer solchen Kreatur im weiteren Romanverlauf? García Márquez grandiose Lösung gehört zu den stärksten Szenen des Romans: Remedios wird eines schönen Tages, als sie bei starkem Wind versucht, Laken auf die Leine zu hängen, in den Tüchern fortgetragen, sie steigt und steigt unter den Blicken der Dorfbewohner zum Himmel auf. "Mit Leib und Seele, nicht einmal Gott hätte sie daran hindern können", kommentierte García Márquez diese Erzählsituation.

Seit 2001 gibt es eine intensive Debatte über den Begriff Weltliteratur. Inzwischen herrscht weitgehend Einigkeit darüber, Ulysses von James Joyce als den repräsentativsten Roman der ersten und Hundert Jahre Einsamkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen. Schon im Vorfeld der Nobelpreisverleihung zeigte sich die große Wirkung dieses Buchs und von Der Herbst des Patriarchen auf etablierte Autoren. Günter Grass´ Der Butt und Tschingis Aitmatows Der Tag zieht den Jahrhundertweg zeugen von der Übernahme des magischen Realismus. Das galt auch für neue Romanciers aus den ehemaligen sozialistischen Ländern wie Milan Kundera und außereuropäischen Ländern, den jungen Inder Salman Rushdie, dem Japaner Kenzaburo Oe sowie für Umberto Eco. Sie entdecken bei García Márquez neue Möglichkeiten zu erzählen.

Der US-amerikanische Schriftsteller Donald Barthelme brachte es auf den Punkt: "García Márquez zeigt uns, was nach Beckett möglich ist", den modernen Roman aus seiner Sackgassensituation herauszuholen, zu neuem Leben zu erwecken. Magischer Realismus, diese neue Erzählstrategie ermöglicht Schriftstellern aus allen Regionen der Welt Gegen-Erzählungen, das heißt, die eigene Geschichte und Geschichtlichkeit, die Mythen und Imaginationen auf eigene Weise zu begründen. Nach der Nobelpreisverleihung wird García Márquez weltweit zur Leitfigur für das Schreiben neuer Romane, selbst in China in der Generation von Mo Yan und Liu Zhenyun. Auch Arundhati Roy zeigt sich mit Der Gott der kleinen Dinge als Enkelin von García Márquez.

Wie aus seinen Reportagen zu erfahren ist, war die familiäre Situation ausschlaggebend für seinen Weg zum Schriftsteller. Die Eltern gaben ihn zu den Großeltern nach Aracataca. Er wuchs in einem Politikerhaushalt mit vier indianischen Bediensteten auf. Sein Großvater, ein ehemaliger Oberst, gehörte zur Partei der Liberalen. Aracataca war in den zwanziger Jahren keineswegs eine verschlafene Siedlung, sondern ein urbaner, wichtiger Teil des Einflussbereichs der United Fruit Company an der atlantischen Küste. Als García Márquiez acht Jahre alt ist, stirbt der Großvater, für den Jungen bricht die Welt zusammen. Aus dem Alptraum-Erlebnis wächst die Notwendigkeit, die Geschichte vom Haus in Aracataca zu erzählen.

Darüber hinaus bringt, wie man in seinen Memoiren Leben um davon zu erzählen nachlesen kann, Kolumbien mit den krassen Widersprüchen der Modernisierung in den vierziger Jahren García Márquez dazu, Schriftsteller zu werden. Die blutigen Unruhen 1948 nach der Ermordung des aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten der Liberalen erlebt er als junger Mann. Das in Flammen aufgehende Zentrum Bogotás, die 2.000 Toten werden für ihn zum Schlüsselerlebnis. Schon wenige Monate später entscheidet sich Márquez, zurück an die atlantische Küste zu gehen und als Journalist zu arbeiten. Bei seinen literarischen Ambitionen hält er sich an US-amerikanische und europäische Vorbilder wie William Faulkner, Nathaniel Hawthorne und Virginia Woolf.

García Márquez erfindet den "Neuen Journalismus", bevor dieser Name existierte. 1957 im Zuge seiner Reportage über einen Schiffbrüchigen deckt er kleinere Korruptionsfälle des Militärs auf, es wird brenzlig für ihn. Die Zeitung nimmt ihn aus der Schusslinie und entsendet ihn als Korrespondenten nach Europa. Als sie kurz darauf von der Diktatur Rojas Pinilla geschlossen wird, lebt er als mittelloser Journalist in Paris. Auf Post aus Kolumbien wartend, schreibt er 1957 die Novelle Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt. Ernest Hemingways Der Alte Mann und das Meer Pate steht hier Pate und nicht etwa Becketts Godot.

Lateinamerikanische Literatur (Jorge Luis Borges, Juan Rulfo, Julio Cortázar, Carlos Fuentes, Jorge Amado) erfährt im Kontext der kubanischen Revolution international zunehmendes Interesse. Aber durchschlagende Erfolge stellen sich erst durch Hundert Jahre Einsamkeit und Der Herbst des Patriarchen ein. Dieser "neue historische Roman" entfaltet große Wirkung, weil er die Möglichkeit eröffnet, das Problem der Nationenbildung und das Schicksal der Befreiungsbewegungen zu behandeln. Das von García Márquez meisterhaft entwickelte Genre findet starken Widerhall bei postkolonialen Autoren, die zum Inbegriff von Weltliteratur werden. Heute ist bereits von vier "garciamarquezianischen" Nobelpreisträgern die Rede: Toni Morrison, Kenzaburo Oe, Derek Walcott und Orhan Pamuk.

Kürzlich stellte der südafrikanische Nobelpreisträger John M. Coetzee in einem langen Essay den "García Márquez-Kanon" zusammen: Ihn bilden Hundert Jahre Einsamkeit (1967), Der Herbst des Patriarchen (1975) Chronik eines angekündigten Todes (1981) und Die Liebe in den Zeiten der Cholera (1988). Aus diesen Kernstücken wächst und ernährt sich das gesamte Erzählwerk. Wie in der Comédie Humaine kommen und gehen die Figuren bei García Márquez, sie sind rizhomatisch mit bestimmten Vorgängern verbunden. Delgadina, die "schlafende Schöne" aus Erinnerungen an meine traurigen Huren, in die sich der alte Herr verliebt, sei, so Coetzee, auf das Engste mit Don Quijotes angebeteter Dulcinea verwandt.


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