Sechzig Jahre nach Ende des spanischen Bürgerkriegs, Ende 1939 waren eine Million Tote zu beklagen. Die Verlierer, die an Hunger und Krankheiten, im Gefängnis oder in den Lagern Spaniens, Frankreichs, Deutschlands (in Mauthausen starben 5.000 Spanier), Algeriens oder auf der Flucht starben sind da noch nicht einbezogen -, beginnt in Spanien der Versuch, den Krieg zu revidieren. Begleitet von einem Boom an Buchpublikationen, Filmen, TV-Sendungen. Was aber passiert im und mit dem kollektiven Gedächtnis? Auslöser dieser Welle war die politische Initiative, Massengräber aus dem Bürgerkrieg zu öffnen und viele tausend Tote zu exhumieren. Damit wird die Makrogeschichte, die bisher in verschiedenen Versionen von den Helden der Schlacht erzählte, völlig neu gesehen. Spanien steht vor seinen Erschossenen, seinen Toten.
Der Erzähler und Romancier Antonio Muñoz Molina geht in seinem neuen Roman Sepharad, der 2001 in Spanien erschien, über die Grenzen einer auf Spanien bezogenen Rezeption hinaus. Er widmet sich auch der spanischen Diaspora. Im Schlusskapitel kommentiert ein Ich-Erzähler, einer von mehreren: "Schlichte Grabsteine und Massengräber markieren die Wege der großen spanischen Diaspora: Ich möchte den französischen Friedhof besuchen, auf dem 1940, mitten im Zusammenbruch Europas, Don Manuel Azaña begraben wurde, oder den Namen von Antonio Machado auf einem Grabstein des Friedhofs von Callioure lesen." Der Republikaner und Aufklärer-Literat Manuel Azaña (1880-1940), letzter Präsident der Spanischen Republik, starb in Folge der Flucht aus Spanien im französischen Montauban. Ebenso wie der große spanische Dichter Antonio Machado, der auf seine alte Mutter gestützt die Pyrenäengrenze überquerte, die 1939 zur Scheidelinie zwischen Leben und Tod wurde, ist er einer der großen Verlierer des spanischen Bürgerkriegs. Beide starben außerhalb der Lager, die französische Behörden für 400.000 spanische Flüchtlinge einrichteten.
Muñoz Molinas Roman umreißt den Rahmen der Erinnerungsliteratur neu: Spanischer Bürgerkrieg und Franquismus, Exil und Flucht, Deportation und Lager werden im Kontext der desaströsen europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, das heißt als Teil der Geschichte von Vertreibung und Migration gesehen. Der Titel Sepharad - ein Begriff aus dem Hebräischen, der im alten Testament auftaucht und vom Judentum seit der Diaspora benutzt wird - verweist auf den Fokus des Romans: jüdische Geschichte und Identität auf der iberischen Halbinsel und in Europa, aber darüberhinaus auch als Gleichnis. Das Cover der spanischen Ausgabe zeigt einen Mann mit aufgenähtem Judenstern, der einen Ausweis vorzeigt. Muñoz Molina erklärte in einem Interview 2001: "Es ist ein Roman über Juden in dem Sinne als sie eine Konstruktion derer sind, die sie von zu Hause vertreiben wollen. In diesem Sinn ist jeder von uns in jedem Moment Jude. Es ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Menschen, die traditionell vertrieben wurden, weil sie, wie die Juden, für das beschuldigt werden, was sie in den Vorstellungen anderer tun. Wir zählen alle zu den möglicherweise Verurteilten." Wie setzt der Autor sein großes Thema über die Frage der Identität und Vertreibung, der Migration um?
Muñoz Molina liefert das Portrait eines Mannes aus der spanischen Provinz, den es nach Madrid verschlagen hat. Dieser wirft einen nostalgischen Blick auf seine Heimat: "Wir leben jetzt fern unserer kleinen Stadt, aber wir haben uns noch nicht daran gewöhnt...". Diese unspektakuläre literarische Figur eines Provinzlers, der an seinen lokalen Traditionen klebt, der alles andere als kosmopolitisch oder universell ist, bildet einen Kontrapunkt zu den historischen Figuren, untern anderen Primo Levi, Victor Klemperer, Jean Améry, Milena Jesenská (die Freundin Franz Kafkas) oder Walter Benjamin. Ihre Biografien werden zusammen mit den Lebensgeschichten weniger bekannter und völlig unbekannter, zum Teil erfundener Figuren nachgezeichnet. Muñoz Molina erzählt zum Beispiel den Lebensweg eines sephardischen Juden namens Salama, der sich 1944 mit seinem Sohn aus Budapest retten kann. In den sechziger Jahren leitet Salama das Spanische Zentrum in Tanger, wo er García Lorcas Theaterstück Bernarda Albas Haus auf die Bühne bringt, lange bevor es in Spanien uraufgeführt wird. Oder aber die vergessene Geschichte Evgenia Ginzburgs, einer fanatischen überzeugten Kommunistin, die sich von einem Tag auf den anderen im stalinistischen Russland zur Verräterin, Trotzkistin abgestempelt sah und im Lager verschwand.
Die Erlebnisse und Berichte von Frauen, unter ihnen Nadeschda Mandelstam oder Margarete Buber-Neumann, über die Lager des Nationalsozialismus und des Stalinismus bilden Kernstücke des Romans. Der Lebensgeschichte Willi Münzenbergs - nur einem begrenzten Kreis bekannt - ist ein ganzes Kapitel gewidmet. Muñoz Molinas Portraits sind situativ: Er erzählt Episoden, Bruchstücke aus dem Leben der Protagonisten, wechselt zwischen Nähe und Distanz zu den Figuren und Situationen, er fokussiert die alltägliche und scheinbar triviale Seite des Lebens unter dramatischen Umständen.
Mit Sepharad mischt sich Muñoz Molina aber auch in die aktuelle Debatte über die Frage nach der Vergangenheit ein. Was existiert in ihr, was enthält die Vergangenheit? Bei dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs, der im Konzentrationslager Buchenwald vergast wurde (Jorge Semprun, sein Schüler, hat über ihn geschrieben) kann man lesen, dass Vergangenheit einzig und ausschließlich als soziale Konstruktion existiert. Ab 1925 konfrontierte Halbwachs das akademische Denken mit dieser skandalösen und damals als irreführend empfundenen Tatsache: Die Vergangenheit existiert nur als Erinnerung in dem Maß, in dem sie nötig ist. Muñoz Molina zeigt uns in jedem Moment des Romans, wie wichtig es ist, sich heute genau zu erinnern. Er prangert an, wie im Zuge des spanischen Booms der Erinnerungsliteratur Biographien verzerrt werden, wie bei der Aneignung von Geschichte Personen durch Halbwahrheiten und Desinteresse quasi verschwinden. In einem der zahlreichen Erzählerkommentare heißt es: "Auf dem Rückweg von einer Literaturtagung beginnt der Schriftsteller, der nichts anderes im Sinn hat, als die Zeit totzuschlagen, mit einer angemessenen Portion Ironie eine Geschichte zu erzählen, die ihm genauso wenig bedeutet wie denen, die ihm zuhören ... eine nur wenige Minuten dauernde Geschichte, von der er nicht weiß, dass sie einen Affront, eine tiefe Demütigung darstellt."
Ein weiterer Schwerpunkt ist den deutschen Vernichtungslagern gewidmet, vor allem weniger bekannten, die zwischen Polen und Litauen liegen und heute Ruinen sind. Muñoz Molina beschreibt eindringlich den Status der KZ-Häftlinge, den der italienische Philosoph Giorgio Agamben mit dem Begriff Homo sacer (1995) belegt hat. Agambens Kritik der Gewalt der Moderne beleuchtet eine Kultur, deren Matrix das Lager ist, die Zonen der Indifferenz zwischen Leben und Tod schafft, Internierungslager, in denen menschliche Körper auf das organische Vegetieren, das bloße Überleben reduziert sind. In dem Kapitel mit dem paradigmatischen Titel Oh du, die es wusste berichtet eine weibliche Erzählstimme: "Gefangene hinter Stacheldraht ... wussten, dass sie die Welt auf der anderen Seite nie mehr betreten würden, aus dem Kreis der Lebenden verbannt (sind), als wären sie schon tot".
Muñoz Molina eignet sich die Lebensgeschichten anderer nicht an, er hört zu, nimmt wahr. Das gelingt auf großartige Weise. Wir können lesend Stimmen hören, Menschen vor uns sehen und wir trauern.
Leider hat der deutsche Verlag den Untertitel Niemals bin ich mir des Ortes sicher an dem ich bin durch den harmlosen Ein Roman voller Romane ersetzt: ein großer Verlust.
Antonio Muñoz Molina: Sepharad. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen, Rowohlt Hamburg, 541 S., 24,90 EUR
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