Volkswagen Gesundheit

Kommentar Ein solidarisches Versicherungsmodell als Exportschlager

Die Gesundheitsreform der Bundesregierung versandet zu einer unendlichen Geschichte. Wer versteht schon noch, worum es den Regierenden wirklich geht? Die Menschen wenden sich mit Grausen ab und haben kein Verständnis mehr für das Gezänk der großen Koalition.

Die CDU sei keine kapitalistische Partei, sondern eine Wertegemeinschaft, die nicht nur am Materiellen hänge. Das jedenfalls behauptet der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. In der Gesundheitspolitik beweist seine Partei allerdings das Gegenteil. Der große Teil der Bevölkerung will ein solidarisches und gerechtes Gesundheitssystem, und auch im Bundestag gäbe es dafür eine Mehrheit, wenn die Abgeordneten ihrem Gewissen folgen dürften.

Alle wissen: Es muss etwas geschehen, das System funktioniert nicht mehr. Auf welche medizinischen Dienste, welche Ärztinnen und Ärzte oder welche Krankenkassen kann ich mich verlassen, wo bin ich wirklich in guten Händen? Die Menschen spüren intuitiv das Ausmaß an Scheinheiligkeit, Egoismus und Opportunismus auf einem Dienstleistungsmarkt, der Mitmenschlichkeit predigt und eigennützige Interessen verfolgt. Sie suchen nach Geborgenheit im Sozialen, nach neuer Mitmenschlichkeit und lebendiger Gemeinschaft. Und sie empfinden, dass dies ihrer Gesundheit am stärksten nützt.

Auch eine Mehrheit der Kassen, Ärzte oder Krankenhäuser ist zur Veränderung bereit. Sie will sich an Reformen beteiligen. Die Beschäftigten und Organisationen im Gesundheitswesen sind dafür offen, wenn man sie ernst nimmt und in ihrer fachlichen Kompetenz respektiert. Sie kennen die Probleme der Über-, Fehl- und Unterversorgung, sie erleben den Terror der Bürokratie und der Ökonomie, und sie sorgen sich täglich um ein Gesundheitssystem, das der Gesundheit des Einzelnen dient und nicht nur den Interessen der Reichen und des Kapitals.

Unterstützung fänden die Gesundheitspolitiker auch in der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Gesundheit als Maßstab für soziale Sicherung und Entwicklung deklariert hat. Investitionen in die Gesundheit sichern Human-Ressourcen und stärken die produktiven Kräfte moderner Gesellschaften. Die europäische Wertegemeinschaft baut auf soziale, nicht auf kapitalistische Gesundheitssysteme. Baupläne in diesem Sinne liefern die Gesundheitswissenschaften. Sie fußen auf dem bestehenden System und entwickeln es weiter. Wenn sich die politischen Entscheidungsträger auf diese fundierten Erkenntnisse, die Grundwerte der europäischen Länder und auf die Programme der WHO stützen würden, wäre ein nachhaltiges und soziales Gesundheitssystem eine realisierbare Aufgabe.

Das Konzept ist einfach: Eine Pflichtversicherung für alle ohne Ausnahme. Jeder Bürger und jede Bürgerin zahlen einen einheitlichen, prozentualen Beitrag. Beitragspflichtig sind alle Einkommensarten. Der Beitragssatz für die Solidarische Versicherung ist von den Versorgungsaufgaben und dem Leistungsspektrum der Regelversorgung abhängig. Bei Wegfall aller Sonderbeiträge, Zuzahlungen und auch der Praxisgebühr wären gegenwärtig zehn Prozent ausreichend und bei einem schlanken Versorgungsmanagement völlig kostendeckend.

Alle bestehenden Krankenkassen werden rechtlich gleich gestellt und müssen jeden aufnehmen, der sie wählt. Gemeinsam organisieren und verantworten sie den Beitragseinzug für einen Solidarfonds der Selbstverwaltung und einen bundesweiten, an Krankheits- und Altersrisiken orientierten Strukturausgleich, der einen Wettbewerb um beste Versorgungsleistungen garantiert. Ein schlankes Gesundheitssystem mit maximaler Wertschöpfung - diese Gestaltungsaufgabe ist eine Herausforderung für Kassen, Dienstleister und Politik. Die Erfahrungen mit integrierten Versorgungsprojekten in Deutschland und in der Schweiz beweisen, dass dadurch bis zu 30 Prozent der heutigen Kosten eingespart werden können. Der Streit um die prozentuale Deckelung der Kopfpauschale ist demgegenüber belanglos und eher ein Symptom politischer Hilflosigkeit.

Mit möglichst günstigem Ressourceneinsatz möglichst große Bevölkerungsgruppen von der Geburt bis zum Tode gesundheitlich gut zu versorgen - sozusagen einen Volkswagen der Gesundheitsversorgung zu entwickeln - das wäre ein Wirtschaftsprodukt, das überall Abnehmer fände. Deutschland war einmal die Apotheke der Welt. Nun könnte es zum Gesundheitsversorger der Welt werden, wenn es die Herausforderung einer nachhaltigen Gesundheitsreform für Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit bewältigt. Ein durchaus realistischer "Mitnahmeeffekt" wäre es, dabei auch noch bis zu zwei Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Ellis E. Huber war 1987-1999 Präsident der Ärztekammer Berlin


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