Der SPD-Vorsitzende will die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I (ALG I nach Hartz IV) von höchstens 18 Monaten auf bis zu 24 Monate verlängern. Das könnte 750 Millionen Euro kosten, klagt die Wirtschaftspresse. Für im Hartz-Speech nicht bewanderte Zeitgenossen: das ALG I war im Vor-Hartz die Arbeitslosenversicherung. Arbeitslose, die älter als 57 Jahre waren, konnten bis zu 32 Monaten Arbeitslosengeld beziehen, bevor sie Arbeitslosenhilfe erhielten.
Also bringt der Beck´sche Vorstoß weniger, als wir im bundesdeutschen Sozialstaat schon einmal hatten (woran die deutsche Wirtschaft nicht zugrunde ging). Deutschland wurde trotz des teuren "Sozialklimbims", den postmoderne Karrieristen aus fast allen Parteinetzwerken schmähen, "Exportweltmeister".
Münteferings Kritik an Becks Demarche bedient sich nicht des fiskalischen, sondern eines grundsätzlichen und zugleich perfiden Arguments. Die Hartz-Reformen haben die sozialen Standards generell - die der Hartz IV-Klientel ebenso wie die der beschäftigten Arbeitnehmer - abgesenkt. Das ist gut für die Wirtschaft, wie der kleine Aufschwung zeigt. Freilich werden die Einkommen derjenigen beschnitten, die von Arbeit abhängig sind. Und immer mehr Arbeitslose rutschen unter die Armutsschwelle. Selbst wenn sie einen Job erhalten, bleiben sie auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das Entgelt für die Arbeit reicht nicht zum Leben, vor allem nicht für die Ausbildung der Kinder, auf die sich die Armut der Eltern als Chancenlosigkeit im Erwerbsleben vererbt.
Wenn allen die Bezugsdauer von ALG I gekürzt wird, sind in Münteferings zynischer Weltwahrnehmung jene unsolidarisch, die besser, nämlich mit einer unterdurchschnittlichen Kürzung davon kommen. Zu diesen in seiner Vorstellungswelt Privilegierten gehören die über 55-jährigen Bezieher von ALG I, weil ja die jüngeren Arbeitslosen noch schlechter dran sind. So sichert sich in neoliberalen Zeiten der politische Apparatschik die Deutungshoheit darüber, was solidarisch ist und was nicht, was als vernünftig gilt und was nicht. Denn Müntefering hält jede Abweichung von der Agenda 2010 für "einen schweren Fehler" und "nicht vernünftig".
Erinnern wir uns. Im Jahr 2000 beschloss die EU in Lissabon, sich bis 2010 zur wettbewerbsfähigsten "Wissensgesellschaft" in der globalisierten Welt zu mausern. Daraus ist ebenso wenig geworden wie aus der New Economy in den USA, die das Modell für die Lissabon-Strategie abgab. War das nicht schon 2003 absehbar, als Schröders Regierung die Globalisierungstauglichkeit der deutschen Wirtschaft mit der Agenda 2010 zu verbessern trachtete und so einen Beitrag zur Lissabon-Strategie zu leisten versuchte? Oder im Februar 2002, als Rot-Grün die Hartz-Kommission einsetzte mit dem Auftrag, das "Sozialstaatsgestrüpp" zu lichten? Im August 2002 hieß es großspurig, dank der Hartz-Reformen werde man die Arbeitslosigkeit binnen einer Legislaturperiode halbieren. Die Ankündigung trug maßgeblich dazu bei, der Schröder-Fischer-Regierung bei der Bundestagswahl im Herbst 2002 einen knappen Sieg zu bescheren. Peter Hartz galt noch als Lichtgestalt deutschen Unternehmertums. Dass die wenig später im Rotlichtmilieu verdunkelt würde, konnte ja kaum jemand ahnen.
Die Arbeitsmarktreformen von Hartz I bis IV wurden nach der Wahl von Rot-Grün mangels besserer Konzepte in das Paket der Agenda 2010 gepackt. Darin wurden verschnürt: Steuergeschenke an Verdiener hoher Einkommen, eine Senkung von Gesundheits- und anderen "Lohnnebenkosten", ein gelockerter Kündigungsschutz, die Kürzungen bei Arbeitslosengeld I und II, und der Zugriff des Staates auf angespartes Vermögen von arbeitslos gewordenen Arbeitnehmern. Den Reichen brachte der sozialdemokratische Nikolaus schöne Geschenke, auf die sozialdemokratische Klientel ließ Knecht Ruprecht den Knüppel von Hartz und Agenda sausen.
Den Arbeitnehmern sind Rechte als Wirtschafts- und Sozialbürger genommen worden, die ihnen als Staatsbürgern nicht zurückgegeben wurden. Das "Recht zu arbeiten", haben die Agenda-Verfechter mit einer Definition von "Zumutbarkeit" ausgehebelt, die schon an grundgesetzwidrige Arbeitspflicht grenzt. Wer ein Angebot ablehnt, muss mit Kürzung oder gar Streichung des Arbeitslosengeldes rechnen, selbst wenn die eigene Qualifikation entwertet, der Lohn weit unter Tarif gedrückt oder ein ökologisch unsinniges Pendeln über große Distanzen von 100 Kilometern und mehr verlangt wird.
Sozialdemokratie und Grüne haben den in einem ganzen Jahrhundert erkämpften Sozialstaat zugrunde reformiert, die Schutzvorkehrungen gegen Überausbeutung eingerissen und die Gewerkschaften geschwächt. Union und Liberale trugen dies mit - die große Koalition nach der Wahl 2005 war daher weniger politisches Projekt als vegetative Wucherung.
Klar, an allem war die Globalisierung schuld. Doch in Deutschland hatten die Sachzwänge des Weltmarktes rot-grüne Farben. Mehr noch als der Rückschritt bei Einkommen und Sozialleistungen hat dabei die Verletzung von persönlicher Würde verbittert. In einer Markt- und Geldwirtschaft kann keiner am sozialen und kulturellen Leben teilnehmen, der nicht über ein gewisses Einkommen verfügt, zumal auch die öffentlichen Güter mehr und mehr durch private Anbieter ersetzt werden, die nicht auf die Qualität der Versorgung, sondern die Rendite der shareholders achten.
Die soziale Exklusion löst Reaktionen aus, die auch die Parteiverantwortlichen der SPD verspüren: Mitgliederschwund, Wählerverlust, Mangel an Glaubwürdigkeit, Politikverdrossenheit. Dies dürfte den Strategen in den Parteizentralen fast egal sein, so lange die Macht nicht erodiert. Man kann ja mit Trara und Tornado zum Hindukusch ziehen, auch wenn drei Viertel des Wahlvolks dagegen sind. Doch in einer formalen Demokratie darf man den Bogen nicht überspannen. Es können sich konkurrierende Parteien aufstellen. Da in Deutschland Die Linke existiert und an Kraft gewinnt, kann die schnöde Missachtung der Traditionsklientel für die SPD gefährlich werden. Das hat Parteichef Beck besser verstanden als Vizekanzler Müntefering. Deshalb klempnert er ein bisschen an Hartz IV und Agenda 2010 herum. "Weiterentwickeln" nennt Andrea Nahles das. Beck empfiehlt nur die Verlängerung der Zahlung des ALG I. Alle sonstigen Ingredienzien der Agenda 2010 bleiben im Topf. Der zischt zwar schon, aber eine Explosion ist nicht zu befürchten. Etwas Dampf hat Kurt Beck abgelassen. Die SPD-Linken sind dankbar, sie werden in der Gewissheit bestärkt, dass es sich lohne, innerhalb der Sozialdemokratie für Reformen zu werben und nicht außerhalb, etwa in der Partei Die Linke. Denn sie haben ja den Berg zum Kreißen gebracht, und Beck gebiert immerhin ein Mäuschen.
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