Ist es der verregnete Sommer, der den größten anzunehmenden ökonomischen Schwachsinn sprießen lässt? Zum Beispiel die Forderung nach einer Arbeitszeitverlängerung auf 40 Stunden - ach was, Herr Zimmermann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sattelt munter drauf: 50 Stunden. Zurück zu Arbeitszeiten wie im 19. Jahrhundert, von dem sonst immer gesagt wird, es sei vor allem ein Lager von "Mottenkisten". Doch aus dem Mund von "Wirtschaftsweisen" wird selbst grober Unfug von manchen Medien noch ehrfürchtig als unverbrüchliche Wahrheit verbreitet. Als ob in den vergangenen 150 Jahren kein technischer Fortschritt, kein wirtschaftlicher und sozialer Wandel stattgefunden hätten! Als ob die Produktivität der Arbeit nicht vervielfacht worden wäre! Als ob nicht der menschliche Lebenszuschnitt eine Balance zwischen Arbeits- und arbeitsfreier Zeit erfordert, die schwer gestört würde, wenn auf einmal mit einem brutalen Sprung eine 40-Stunden-Woche als Regel vorgegeben wäre. Und sind nicht dank einer Politik der Arbeitszeitverkürzung seit der Wiederkehr struktureller Massenerwerbslosigkeit tatsächlich Hunderttausende von Jobs entstanden?
Die Ökonomen waren schon einmal aufgeklärter als es der heutzutage in deutschen Landen herrschende wissenschaftliche Schwachverstand vermuten lässt. So schrieb ein unbekannter Verfasser im Jahr 1821: "Wahrhaft reich eine Nation, wenn statt 12 Stunden 6 gearbeitet werden. Wealth ist nicht Kommando von Surplusarbeitszeit, sondern disposable time außer der in der unmittelbaren Produktion gebrauchten ..." Und Marx fügte hinzu: "... die wirkliche Ökonomie... besteht in Ersparung von Arbeitszeit".
In der wirklichen kapitalistischen Gesellschaft ist es jedoch umgekehrt: Die Länge der Arbeitszeit gilt als das Maß des Reichtums. Je mehr Stunden im Jahr geschuftet wird, desto mehr Wert entsteht, desto reicher das Land. Das Land? Diejenigen, denen längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich abverlangt werden, haben bestenfalls plus-minus Null auf dem Konto und dafür weniger freie Zeit für Hobby, Kultur und Familie. Was sie in verlängerter Arbeitszeit mehr produzieren, kommt allein den Unternehmen als gesteigerter Gewinn zugute. Wird die zusätzliche Produktion nicht abgesetzt, werden Leute entlassen. Eine generelle Arbeitszeitverlängerung ist makroökonomisch das sicherste Mittel zur Steigerung der Erwerbslosigkeit.
Die Herren von Pierer (Siemens) und Hubbert (Mercedes-Benz) verhalten sich so, wie die von Marx beschriebenen Kapitalisten, denen das britische Parlament die Fabrikinspekteure in ihren Laden schickte, weil sie nie genug kriegen konnten und die Gesundheit der Arbeiter, die man damals als "Hände" bezeichnete, auf der Strecke blieb.
Deutschland ist bereits Exportweltmeister, und dies trotz angeblich zu hoher Löhne und zu kurzer Arbeitszeiten. Niemand kann bestreiten, dass die Wettbewerbsfähigkeit hoch ist, weil die Produktivität hoch ist und die Gewerkschaften zuletzt eine höchst maßvolle Lohn- und Arbeitszeitpolitik verfolgt haben. Noch geringere Kosten am "Standort Deutschland" zwingen alle Konkurrenten in eine neue und erbarmungslosere Runde des "Wettlaufs der Besessenen" (Paul Krugman).
Die Schwierigkeit besteht darin, Vernunft zu behalten, wenn alle - vom Kanzler bis zum Volontär der Bild-Zeitung - dem kollektiven Wahn verfallen, die Kosten des Standorts müssten durch längere Arbeitszeiten und niedrigere Löhne gesenkt werden. Am Beispiel des Jürgen Hubbert, Chef von Mercedes-Benz, lässt sich die Verrücktheit besonders deutlich zeigen. Noch bis in die neunziger Jahre galt Baden-Württemberg mit einigen Großunternehmen wie Daimler und zig Tausenden kleinen und mittleren Zulieferern, mit auf sozialen Frieden und ökonomische Effizienz zielenden Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen als "Musterländle" eines hoch-produktiven industrial district. Die baden-württembergische Erfolgsstory galt als Modell moderner regionaler Wirtschaftspolitik - heute wird sie von Hubbert als "baden-württembergische Krankheit" abgetan. Die Zeiten haben sich eben geändert - die Gewerkschaften sind geschwächt, die Sachzwänge einer restriktiven Geldpolitik gemäß dem EU-Stabilitätspakt eisern, die Parteien von gelb bis grün auf neoliberalem Einheitskurs. Da haben es all jene schwer, die erstens aufklärerisch aus der von Kant so bezeichneten "selbstverschuldeten Unmündigkeit" herauswollen und zweitens das Ziel der Emanzipation durch Schaffung von mehr disposable time durch Arbeitszeitverkürzung nicht aufgeben wollen.
Auch die Hubberts und von Pierers stehen natürlich unter Druck. Sie müssen hohe Renditen für die "Shareholders" erwirtschaften, auch wenn das Wachstum stagniert, denn mit dem Shareholder-value ist zugleich die Gier in die oberen Etagen des Managements eingezogen. Denjenigen, die Mannesmann verhökert haben, wurden Prämien von 30 Millionen Euro zuteil - dafür müsste ein fiktiver Herr Müller mit 2.000 Euro Gehalt 1.250 Jahre schuften.
Wie der Fall Daimler zeigt, finden in Zeiten der Globalisierung die Regeln der sozialstaatlichen Milderung des wilden Kapitalismus keine Beachtung mehr. Der Klassenkampf von oben ist längst eine Tatsache, weil die Koalition des Kapitals mit der Regierung ziemlich stabil ist und die Medien mitziehen. Gegenwehr ist unausweichlich, denn es steht mehr auf dem Spiel als Arbeitszeit und Arbeitslohn, die Würde der Menschen nämlich und der soziale Ausgleich in der globalisierten Welt. Dabei kommt es nicht nur darauf an, Errungenschaften zu verteidigen. Die Arbeitszeiten werden künftig flexibler sein als in den Jahrzehnten zuvor, doch darf mit dem Flexibilitätsvorwand nicht das Portal zu gekürzten Löhnen und verlängerten Arbeitszeiten aufgestoßen werden. Dies zu verhindern, ist Sache der Gewerkschaften, aber auch die globalisierungskritischen Bewegungen sind gefragt. Und noch etwas: Eine "ökonomische Alphabetisierung" (Bourdieu) muss sich erneut des Projekts der Aufklärung gegen die "selbstverschuldete Unmündigkeit" und Unvernunft der neoliberalen Ökonomen annehmen.
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