Die Abendstunden sind nicht mehr langweilig, und die Feiertage nicht mehr grau. Keine Grenzen für den Tanz ums goldene Kalb. Auch Himmelfahrt ist die Börse offen, als ob es ohne Unterbrechung nur aufwärts geht. Doch daneben gibt es Bedenkenträger. Die Finanzkrisen der neunziger Jahre (Mexiko 1994, Asien 1997, Russland 1998 und Brasilien 1999) haben die internationalen Finanzinstitutionen aufgeschreckt. So wurde auf Initiative des ehemaligen Bundesbank-Chefs Tietmeyer das "Financial Stability Forum" ins Leben gerufen. Seine Empfehlungen für eine neue Finanzarchitektur: mehr Vorsicht, verbesserte Aufsicht, einige neue Regeln für die besonders spekulativen "Off-Shore"-Bankzentren oder die großen Spekulationsfonds (Hedge-Funds). Das ist nicht viel, aber immerhin etwas, dem auch das am 3. Juni in Berlin konstituierte "Netzwerk progressiver Regierungen" von Schröder bis Cardoso, von Jospin bis Clinton und Mbeki, Positives abgewinnen kann. Weiter gehen Nicht-Regierungsorganisationen, etwa die 1998 in Frankreich gegründete und heute bereits 25.000 Mitglieder umfassende Bürgerbewegung Attac oder das Netzwerk für eine demokratische Kontrolle der internationalen Finanzmärkte, das sich Ende Mai der deutschen Öffentlichkeit präsentierte.
Warum nach einem Vierteljahrhundert der Deregulierung globaler Finanzmärkte nun die Gegenbewegung erneuter Kontrolle? Freie und nicht-regulierte Finanzmärkte sind wie eine "Satansmühle", so der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi vor gut einem halben Jahrhundert in seiner Analyse des Übergangs zur modernen Marktwirtschaft. Denn Finanzmärkte, schon wenn sie "normal" funktionieren, vergrößern die soziale Ungleichheit in der Welt. Das ist kein Wunder, wenn die einen als Schuldner (zumeist in den armen Ländern) jahrzehntelang Zinsen an Gläubiger (zumeist in den reichen Ländern) zahlen müssen. Da die Gläubiger zumeist Private, die Schuldner zumeist öffentliche Hände sind, spitzt sich der Gegensatz zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut dramatisch zu. Dieser Gegensatz eskaliert noch dadurch, dass die realen Zinsen (Nominalzinsen abzüglich Inflationsrate) die realen Wachstumsraten des Sozialprodukts übersteigen: Zinsen gehen an die Substanz. Keine Überraschung also, wenn die Schuldner dann in Finanzkrisen zusammenbrechen und mit starken Kreditspritzen vor dem Bankrott gerettet werden müssen - nicht um den Schuldnern etwas Gutes zu tun, sondern um die Forderungen der privaten Geldvermögensbesitzer, zumeist Banken und Investmentfonds aus den Hartwährungsländern des Nordens, nicht in den Wind schreiben zu müssen. Nebenbei bestreitet die Macht des Geldes - als "fünfte Gewalt", so der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Rolf Breuer - die Legitimation der Politik und ist dabei, demokratische Verfahren und nationalstaatliche Souveränität zu unterminieren.
Die Finanzkrisen der "New Economy" in den neunziger Jahren demonstrieren eine alte Wahrheit: Nicht an allen "Standorten" können Lohneinkommen begrenzt und Produktivität gesteigert werden, ohne eine globale Überproduktionskrise auszulösen. Wenn die globalen Geldvermögen allein 1999 um rund ein Viertel gewachsen sind, das Weltsozialprodukt aber bestenfalls um zwei bis drei Prozent zugenommen hat, dann können die monetären Zins- und Renditeforderungen irgendwann nicht mehr bedient werden. Es geht kein Weg daran vorbei, Forderungen abzuwerten. Das kann durch eine Entfesselung der in den vergangenen Jahren gebändigten inflationären Kräfte oder durch Pleiten von Schuldnern erfolgen. Im vergangenen Jahrzehnt vollzog sich die Abwertung vorwiegend als Währungskrise. Ganze Gesellschaften sind verarmt - mit Ausnahme derjenigen Bürger, die ihre Vermögen in harter Währung halten können und die erwartete Abwertung zur Spekulation gegen die eigene Währung ausgenutzt haben.
In der Auseinandersetzung um die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone wurde schlaglichtartig das heutige Missverhältnis von Ökonomie und Politik deutlich. Die 30 Sparmilliarden von Finanzminister Eichel sind Streitgegenstand in der politischen Auseinandersetzung, parlamentarisch wie außerparlamentarisch. Die 240 Übernahmemilliarden von Vodafone werden dagegen auf Märkten mobilisiert, und die Finanzinnovationen sind dabei hilfreich: Vodafone-Chef Chris Gent kann mit der Ausgabe eigener Aktien das Geld quasi selbst schaffen, mit dem er Mannesmann von den Anteilseignern abkauft: das moderne Unternehmen als postmodernes "Übernehmen". Das Geld als Kaufmittel ist, wie es die Utopie des Erzliberalen Friedrich August von Hayek vorsah, vollständig privat, es ist kein öffentliches Gut mehr, für dessen Bereitstellung die Zentralbank als öffentliche Institution verantwortlich zeichnet. Ein Souverän hat bei diesem Deal nichts zu suchen - und auch nichts zu finden. Souverän sind die Finanzmärkte, und nach deren Pfeife sollte das politische Establishment tanzen, wie nicht nur Herr Breuer höchst selbstbewusst einfordert.
Künftig wird sich alles auf die Triadenwährungen konzentrieren, und die Währungskrisen der Zukunft werden sich zwischen Dollar, Euro und Yen abspielen. Die Globalisierung wird also übersichtlicher. Bereits jetzt gibt es den "single price" (Einheitspreis der Produkte auf den Weltmärkten), die "Pensée unique" (das Einheitsdenken der Globalisierungsfanatiker), das Modell der "good governance" (die allgemeinen Regeln der guten Regierung im 21. Jahrhundert, für die sich das "Netzwerk progressiver Regierungen" einsetzt), "like products" und "like places" (die konkurrierenden Standorte werden sich zum Verwechseln ähnlich und immer langweiliger), und nun kommt allmählich die einheitliche Währung hinzu, in der globale Standards berechnet werden und Kapital transferiert.
Diese Konstellation hat natürlich Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik und daher auch für eine Kontrolle der Finanzmärkte. James Tobin hatte seine vieldiskutierte Steuer auf internationale Finanztransaktionen mit dem Argument begründet, Währungskrisen seien auszuschließen, wenn verschiedene Währungen zu einem Währungsraum integriert (so in Eurolandia geschehen) oder die Währungsmärkte "segmentiert", das heißt voneinander stärker getrennt werden. Die Methode dieser Trennung ist faszinierend einfach: eine geringe Steuer auf jede Währungstransaktion. Die Steuerbelastung summiert sich, je häufiger ein Währungsbetrag aus spekulativen Gründen umgetauscht wird. Auf weitestgehend liberalisierten Märkten geschieht dies inzwischen im "Sekundenhandel" oder im "day-trading". Langfristige Anlagen hingegen würden die geringe Steuer (von weniger als einem Prozent) kaum spüren.
Doch diese elegante Lösung funktioniert nur bei schönem Wetter. Droht wie in Asien oder in Brasilien eine Abwertung von 50 Prozent und mehr, schreckt auch eine Tobinsteuer nicht. Die möglichen Spekulationsgewinne sind einfach zu groß. Die Spürhunde der Spekulation riechen Blut und sind nicht zu bremsen. Daher dürfen zusätzliche Kontrollen kein Tabu sein. In den Finanzkrisen des vergangenen Jahrfünfts haben Chile, Malaysia und China Kontrollen des Kapitalverkehrs erfolgreich trotz der Anfeindungen von liberaler Seite praktiziert.
Neben der Abwehr des Spekulationsspuks geht es aber auch um wirtschaftspolitische Gestaltung. Die realen Zinsen liegen seit inzwischen mehr als zwei Jahrzehnten oberhalb der realen Wachstumsrate des Sozialprodukts. In den USA betrugen die realen Wachstumsraten in den vergangenen zwei Jahrzehnten durchschnittlich etwa zwei Prozent, in Deutschland drei Prozent; die Realzinsen freilich lagen in den USA und in Deutschland im Schnitt bei 4,5 Prozent. Auch die Produktivitätszuwächse im Produzierenden Gewerbe lagen über dem Wachstum des Sozialprodukts.
Das muss und wird Konsequenzen haben. Zwar frönen die Adepten eines dritten Weges und einer "New Economy" gedankenlos der altbackenen Illusion, dass Wachstum nahezu alle Probleme lösen könne. Doch unerfindlich bleibt, wie in reifen Industrieländern reale Wachstumsraten des Sozialprodukts über längere Fristen erzielt werden könnten, die an die Realzinsen und an die Wachstumsraten der Produktivität heranreichen. Daher sind strukturelle Arbeitslosigkeit, zunehmende Ungleichheit in der Welt und die Bevorzugung der Finanzanlagen gegenüber realen Investitionen unvermeidlich. Es entsteht ein Teufelskreis: Die Finanzspekulation erzeugt Bedingungen, unter denen nicht-spekulative ökonomische Aktivitäten sich kaum lohnen. Die realen Investitionen gehen zurück, und alle Welt, vom Börsenjobber bis zur Hausfrau, vom Schulknaben bis zum Rentner, versucht, an der Börsenbonanza teilzuhaben. Allerdings nur in den Industrieländern und in bestimmten Klassen. Von dieser spekulationsfreudigen "New Economy" ist die große Mehrheit der Menschen ausgeschlossen. Was nicht bedeutet, dass sie von der Spekulationskrise, wenn die Seifenblase platzt, nicht doch - und zumeist besonders hart - betroffen wäre.
Wir können nun einen dreifachen Schluss ziehen. Die Globalisierung ist erstens ein Faktum, das zu negieren oder aus der Welt schaffen zu wollen heutzutage wenig intelligent und politisch gefährlich wäre. Auch die Tendenzen der Währungskonkurrenz zu negieren und der "starken" DM gegen den "Euro-Verrat" Nibelungentreue zu halten, ist nicht besonders weitsichtig. Zweitens versprechen sich die Vertreter der Freihandelsdoktrin von mehr Globalisierung vertiefte Arbeitsteilung in der Welt und deshalb erhöhten Wohlstand der Nationen; sie vergessen dabei aber die Kraft der Weltfinanzmärkte, die Ungleichheit und Krisen provoziert. Die Position des Freihandels, der in den Institutionen des Weltmarkts das Sagen hat, ist bestenfalls unzureichend und zumeist verlogen.
So bleibt drittens die Schlussfolgerung, dass die ökonomische und vor allem die finanzielle Globalisierung durch eine Globalisierung der Politik, das heißt durch globale Regulierung ergänzt und vervollständigt werden muss. Wirtschaftspolitisch heißt das vor allem: Die Realzinsen müssen gesenkt werden, und dies erfordert internationale Abstimmung - über eine Tobin-Steuer hinaus. Es reicht nicht, den Märkten Signale zu vermitteln. Die Märkte sind politisch zu gestalten - nicht nur zur Vermeidung und Bekämpfung von Krisen, sondern auch als ein Gebot der Demokratie. Denn von externen Sachzwängen, hinter denen sich die "fünfte Gewalt" gern versteckt, darf sich eine demokratische Gesellschaft nicht den politischen Spielraum einengen lassen. Darum geht es dem Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der Finanzmärkte. Ohne demokratische Kontrolle der Finanzmärkte ist nur eines sicher: die nächste Krise kommt bestimmt.
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