Holzauge, sei wachsam

REVOLUTIONÄRER 1. MAI Nach Presse und Staatsschutz beobachten jetzt auch Teilnehmer die Demonstrationen systematisch

Christian Specht, einer der Stars der links-alternativen Szene in Berlin, der über ein unnachahmliches politisches Gespür verfügt, tauchte in den späten achtziger Jahren auf Demonstrationen immer mit einer Holzkamera auf. Das Ding richtete er auf alle möglichen Szenen und Personen. Die Gefilmten reagierten zumeist so, wie man unter Beobachtung eben reagiert. Irgendwie verunsichert.

Am letzten Dienstag saß der gleiche Christian Specht im Hörsaal 2002 der Humboldt-Universität unter den knapp 50 Zuhörern, wahrscheinlich waren auch ein paar Verfassungsschützer da. Den Arm auf den benachbarten Stuhllehnen, war Specht halb dem Podium, halb dem Hörsaal zugewandt. Die Holzkamera hatte er nicht dabei. Schade, denn sie hätte ein gutes Symbol für das Thema abgegeben - Demonstrationsbeobachtung am 1. Mai. Darüber diskutierten auf dem Podium Vertreter verschiedener linker Gruppen, darunter Jens Höntsch von der AntiFa Berlin und Wolf-Dieter Narr vom Komitee für Grundrechte und Demokratie. Die PDS hatte ihr Abgeordnetenhausmitglied Freke Over entsandt. (Die Berliner Bündnisgrünen haben nach dem Verzicht von Judith Demba den Kontakt zur Szene anscheinend völlig verloren).

Der Revolutionäre 1. Mai mit seinen traditionellen Krawallen zwischen Polizei und Demonstranten blickt auf eine lange Tradition mit anarchistischer Tendenz zurück. 1987 besetzten die Teilnehmer an einem wunderschönen Frühlingsabend einen Teil der Wiener Straße in Kreuzberg. Vor den Augen der ohnmächtigen Staatsgewalt plünderten sie eine Filiale der Bolle-Märkte und brannten sie nieder. Die Ruine an der Wiener /Ecke Skalitzer Straße hat sich merkwürdigerweise bis heute erhalten und ist gängiger Besichtigungspunkt alternativer Stadtrundfahrten. Spätestens seit den Ereignissen von damals steht die Kundgebung am 1. Mai im Blickfeld der Öffentlichkeit. Beide Seiten - Polizei und Demonstranten - sind regelmäßig mächtig unter Druck. Die links-alternative Szene muss beweisen, dass sie still alive ist, die Staatsgewalt steht vor einer Autoritätsprüfung. Die einen hoffen auf gutes Wetter, die anderen auf Regen und Schnee.

In den vergangenen Jahren hat die Politik mit verschiedenen Änderungen (der Route), Auflagen (für Transparentbenutzung) und Verboten (des Festes am Lausitzer Platz, dort endet die Demonstration traditionell) vergeblich versucht, die Veranstaltung kaputt zu machen. Mittlerweile würden die intelligenteren Teile der Berliner Regierungspolitik die Demo wahrscheinlich gern zu einer Parade degenerieren lassen. Was die Love Parade für die Technos, der Karneval der Kulturen für die Zugewanderten und der Christopher Street Day für die Schwulen und Lesben, könnte der 1. Mai für die Anarchisten sein - ein folgenloses Event. Letztes Jahr unternahm die Polizeiführung auch einen aufwendigen Deeskalationsversuch ("Gewalt gehört ins Museum"), aber am Ende knüppelten die Beamten wieder wild um sich. So wild, dass ein beobachtender Polizei-Kollege laut einem internen Abhörprotokoll sagte: "Die Bullen drehen hier jetzt total durch."

Keine Experimente heißt es noch immer in der Innenverwaltung. Im Zweifel werden die Probleme mit dem Knüppel gelöst. Immer noch besser, als am Ende als Institution vor der Öffentlichkeit dazustehen, die sich auf dem Kopf herum tanzen lässt. Der Berliner Polizei braucht man derlei Anweisungen nicht zweimal zu geben. Wäre sie nicht so schlagfreudig und gewaltbereit, hätte sich die Bedeutung der Demo wohl längst relativiert. Vielleicht hätten auch die Toten Hosen 1999 die Einladung zu einer polizeilichen Deeskalationsveranstaltung angenommen, wenn sie nicht selbst Opfer der Berliner Polizei in Ahaus geworden wären. Was immer die Politik auch proklamiert und sich die Polizei auch vornehmen mag, faktisch läuft die Strategie seit Jahren auf eine Abschreckung der Teilnehmer hinaus. Wer am 1. Mai demonstriert, muss wissen, dass er leicht was auf die Fresse kriegt.

Damit macht man es den Unterstützer-Gruppen der Demonstration leicht. Deren Motivation ist nämlich höchst unterschiedlich: Den einen geht es um das Recht auf freie Meinungsäußerung. Der Politologe Wolf-Dieter Narr kämpft für das bedrohte Demonstrationsrecht - auch ausdrücklich für das der NPD. Den anderen liegt die Sicherung der Erfolgsgeschichte der Linken am Herzen (Jens Höntsch).

Das Hauptproblem bei der Ahndung polizeilicher Gewalt ist die Identifizierung der Täter, war man sich auf dem Podium aber einig. Seit Jahren wird die Kennzeichnungspflicht der Polizeibeamten, etwa durch Nummern auf der Uniform, gefordert. Solange es sie nicht gibt, sollen mit möglichst vielen individuellen Beobachtungen die Übergriffe der Polizei kenntlich gemacht werden. Damit wird man zwar Polizeigewalt nicht verhindern, aber die Identifizierungschancen beträchtlich erhöhen, was knüppelnde Beamten anlangt. Und das verunsichert bekanntlich. Vielleicht packt Christian Specht seine alte Holzkamera ja wieder aus.

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