Verpuppungsstadium

EIN JAHR NACH DEM UMZUG Die erste Berliner Republik neigt sich dem Ende

Jeden Dienstagabend um 20 Uhr kickern in einer Turnhalle an der Kreuzberger Gneisenaustraße ein Dutzend Leute aus allen möglichen Gegenden dieser Welt, was ihre zumeist über 35 Jahre alten Knochen noch hergeben. Sudanesen, Zyprioten, Griechen, Spanier und jede Menge Schwaben, auch ein Rheinländer ist seit einigen Monaten dabei. Clauss Heldt ist ein bisschen übergewichtig und nicht mehr der schnellste, aber ein guter Techniker. Der Hauptstadt-Korrespondent einer rheinischen Tageszeitung ist vor sechs Monaten mit dem Politikertross nach Berlin umgezogen. Einer von 95 Bonnern, die vergangenes Jahr nach Kreuzberg gekommen sind. Die 4026 anderen Umzügler haben sich größtenteils in die bürgerlicheren Bezirke des alten Westberlin, etwa nach Reinickendorf, Steglitz und Tempelhof, verzogen. Norbert Blüm sitzt im alten Arbeiterbezirk Wedding, und Helmut Kohl in Wilmersdorf. Wer etwas auf sich hält, wohnt im noblen Grunewald, in Zehlendorf oder Dahlem. Die Jüngeren ziehen nach Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain. Nach Hohenschönhausen hat es einen einzigen Bonner verschlagen. Insgesamt sollen mittlerweile 6.300 Beschäftigte umgezogen sein - und versuchen, hier zurechtzukommen.

Clauss Heldt wohnte bis vor kurzem in einem Zimmer am Görlitzer Bahnhof. Weil seine Mitbewohnerin aber jetzt mit ihrem Freund zusammen wohnen will, musste er an den Chamissoplatz ins alte Kreuzberg 61 zu einem Fußballerkollegen umziehen. Dort hat er wieder ein Zimmer und vermisst sein schönes Haus im Rheinland, seine Frau und die drei Kinder.

Mit seinen Kontakten außerhalb der Arbeit ist Clauss eine Ausnahme unter seinen Journalisten-Kollegen. Auch Abgeordnete und deren Mitarbeiter, wie Gustav Stößler bestätigen, dass für die meisten Bonner Begegnungen mit Berlinern neben der Arbeit nicht stattfinden. Wer sich mit 40 Jahren noch ein neues privates soziales Umfeld schaffen muss, hat es nicht leicht, außerdem gelten die Berliner als nicht sonderlich kontaktfreudig. Da ging es schon denjenigen nicht anders, die in den achtziger Jahren in die alternative Hauptstadt gezogen sind. Die Mauerstädter haben es immer gut verstanden, neben anderen her zu leben. Neben den russischen und amerikanischen Soldaten genauso wie neben den Vietnamesen und Türken, den Chaoten aus Kreuz- und Prenzlauer Berg und jetzt eben neben den Bonnern.

Dieses Verhalten ist wahrscheinlich gar nicht untypisch. Metropolenbewohner pflegen Neuankömmlinge zu missachten. Während Londoner höflich, aber bestimmt in der U-Bahn, auf der Straße, in jedem Gespräch Wände zwischen sich und die anderen ziehen und die Pariser scheinbar alles Fremde arrogant missachten, geht es im Umgang der Berliner mit ihren Mitmenschen bärbeißiger zu. "Bonner? Ick gloob, ick spinne".

Die häufig zu beobachtende Isolation der zugezogenen Bonner bestätigt damit tendenziell auch diejenigen, die wie Hermann Rudolph im Tagesspiegel von den beiden Berlins reden, die selbständig nebeneinander her existieren. Das eine Berlin bleibt bei seinen Haushaltsstreits, bei den Berliner Verkehrsbetrieben und den ewigen Sorgen um Hertha. Vom anderen, dem Regierungsberlin erfahren sie aus dem Fernsehen, so wie man früher aus Ost- bzw. Westberlin eben auch aus dem Fernsehen erfahren hat.

Die neue Berliner Republik, die sich tagsüber in der Kuppel des Reichstages begehen lässt und an der abends in Mitte im Borchardt in der Französischen Straße, bei Tucher am Pariser Platz und in den anderen Kneipen und Cafés rund um die Fraktionsgebäude gebastelt wird, jedenfalls, ist noch nicht geschlüpft. Allenfalls so etwas wie ein erstes Stadium wird jetzt durchlaufen. Im Bewusstsein der Handelnden hat sich die Politik neben den anderen Reizen der Metropole Berlin bislang nicht relativiert, sie ist im Gegenteil noch allgegenwärtiger geworden, weil vielen ganz einfach das Private fehlt. Viele Bonner sind abgekapselt. Wenn man so will, hat die Berliner Republik gerade mal den Zustand der Verpuppung erreicht. Nicht buntes Großstadttreiben oder weltmännische Eleganz, sondern (noch mehr) Einsamkeit scheint ein wesentlicher Bestandteil der ersten Phase der Berliner Republik zu sein.

Die zweite Phase wird Heldt so hautnah nicht mehr miterleben. Im Juli fängt er in Düsseldorf seinen neuen Job an. Er und seine Frau haben kurz überlegt, ob sie nach Berlin ziehen sollen, aber schnell gemerkt, dass sie nichts dahin zieht. Bekannte, Familie und die Schule der Kinder sind wichtiger als der vermeintliche Glanz und Glamour in der Hauptstadt. Sicher ist die Arbeit als Korrespondent spannend, aber nach vier Monaten Spendenaffäre darf es auch mal wieder etwas anderes sein.

Zurück bleibt die bunte Fußballtruppe, die jeden Dienstag spielt und schon viele gehen gesehen hat. Manche sind auch wieder gekommen. Verstärkung aus den Bonner Reihen ist wohl erst mal nicht zu erwarten. Die, die noch hier sind, dürften - sofern sie Fußball spielen können, zu jung und zu schnell sein.

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