Berlin hat einen Mythos eingebüßt. Wer zum Abgesang des betagten Kaffeeausschanks Ku'damm/Ecke Joachimstaler daselbst ein Stück Ananastorte mit Schoko gegessen hat, weiß warum. In einem verrauchten Raum unter Messingampeln und Stoffpflanzen hatte auch die erlesenste Patisserie ausgesorgt. Statt des morbiden Charmes der bleiernen Fünfziger sorgte das Etablissement mit Furnier und muffigen Bezügen zuletzt nur noch für ästhetisches Entsetzen. Und obwohl einige der üblichen Anlässe für öffentlichen Protest gegeben waren (alteingesessener Pächter wird von Immobilienhaien zum Schaden älterer Damen vertrieben), gab es gegen die Schließung weder Demonstrationen von Stammgästen, noch Sitzblockaden von Kiezgruppen. Nicht
cht einmal das anklagende Understatement eines Lokalpolitikers - "Ich bin ein Kranzler!" - wurde vernommen.Keine Frage: Das Domizil war kein Leuchtfeuer der Berliner Kaffeehauskultur, das die Seele des Nostalgikers wärmt - eher eine vom vielen Putzen stumpf polierte Brosche. Warum bloß soll dann ein Café gleichen Namens demnächst wieder eröffnet werden? Und wenn das schon sein muss - warum kein risikofreudiger Kaltstart am eigentlichen Stammsitz - Unter den Linden/Ecke Friedrichstraße? Seit 1825 betrieb dort der Wiener Zuckerbäcker Johann Georg Kranzler sein erstes Café. Die Dépendance am Kurfürstendamm/Ecke Lietzenburger kam erst 1932. Bis zu seiner gründlichen Beschädigung im II. Weltkrieg war dieses Lokal aber nie Stammsitz berühmter Gäste, vergleichbar dem Romanischen Café an der Gedächtniskirche, dem legendären Schwanneke oder der Destille von Mutter Maenz. Kein Stück Berliner Kulturgeschichte, über das Egon Erwin Kisch einst schrieb: "Das Kaffeehaus erspart uns sozusagen eine Wohnung, die man nicht unbedingt haben muß, wenn man das Kaffeehaus hat ..."Ab 1958 - das Kranzler war im Vorkriegsstil wieder erstanden - durften Kokostaschen und Buttercremetorten erneut ihren Platz im Buffet eroberten. Mit Sahnehäubchen schmeckte der Kalte Krieg noch einmal so gut. Der Damm des Kurfürsten galt als Inbegriff für Freiheit und Wohlstand des alten Westens. Gut Betuchte, die noch einen Koffer in Berlin glaubten oder wahlweise Sehnsucht nach dem Ku'damm hatten, konnten im Hotel Kopenhagen absteigen und im Kranzler ihren Mokka mit Eierlikör schlürfen. Doch schon Ende der Sechziger wurde der Niedergang eingeläutet. Die Entspannungspolitik milderte die Frontstadt-Neurosen. Auch sank das Verlangen, der Welt schlecht hin, dem Osten im Besonderen Status-Symbole markttrunkener Noblesse vorzuführen. So etablierten sich auf dem Flaneur-Boulevard zweifelhafte Geschäfte und billiger Nepp. Auch veränderte sich die Entourage, Ku'damm und Kranzler waren nicht länger Glamour-Kulisse einer lebenshungrigen Nachkriegswelt. Alles sollte plötzlich nach Zukunft schmecken und atmete viel Dreck. Aber immerhin - noch 1995 wollte Helmut Kohl lieber vom Kranzler aus auf den Ku'damm als vom Platz der Republik auf den verpackten Reichstag sehen. Zusehends mehr Berliner waren da anderer Ansicht.Als die Promenier- wie eine Bordellmeile zu enden drohte, ging es auch mit dem Kranzler weiter bergab. 1985 entschlossen sich daraufhin die Besitzer, den Wartesaal der Wilmersdorfer Witwen in den Stand einer Touristenschleuse zu erheben. Die typische Westberliner Stadtrundfahrt begann seinerzeit in Neukölln mit einem Blick über die Mauer, führte zum Checkpoint Charlie, von dort zu Brandenburger Tor und Reichstag, danach über die Nationalgalerie zum Tauentzien. Während einer 60-minütigen Pause empfahl sich dann das "berühmteste Café Berlins" als Refektorium der Globetrotter aus Nahbollenbach oder Duderstadt. Warum nicht hier ein Menu nehmen? Das Kranzler strampelte mit "Putengeschnetzeltem im Reisnest" und "Rinderroulade Bürgerliche Art auf Kaisergemüse" ums Überleben. Eine simple, aber erfolgreiche Strategie. Andere berühmte Cafés, wie das Möring schräg gegenüber, mussten schließen.Nach der Renovierung durfte das geschmacksfreie Interieur in der Gewichtsklasse Karstadt-Bistro seine Kräfte messen. Wer einmal drinnen und jünger als 75 war, bei dem stellte sich eine Mischung aus Abscheu und Mitleid her. Es war nur auf den ersten Blick verwunderlich, dass 1981 mit den Zügen der Hausbesetzer über den Damm, bei denen die Fensterscheiben mancher Parvenu-Boutique das Zeitliche segneten, bei Kranzlers alles unberührt blieb.Als die Mauer fiel und die Ostdeutschen den Ku'damm stürmten, konnten sie die Talmi-Mythen des Westens mit eigenen Augen abschmecken. Zumindest im Fall Kranzler dürfte die Begegnung eher enttäuschend gewesen sein. Dessen Standard erreichten Cafés in Ostberlin mühelos. Was seither in Mitte entsteht, ist eine andere Welt. Unvorstellbar, dass am Gendarmenmarkt ein Schmuckstück wie Kranzler auf Karriere hoffen könnte. Im Standortgerangel mit dem neuen Berliner Zentrum wirkt die City West ohnehin recht abgestraft. Sinkende Mieten und Besucherzahlen firmieren als alarmierende Symptome versiegender Attraktivität. Revitalisierung ist angesagt. Deshalb auch der Neuaufbau des einstigen Ku'damm-Karrees sowie eines neuen "Kranzler Ecks". Die Kreation des Amerikaners Helmut Jahn stehe "so verklemmt am Ku'damm, als habe der Architekt es direkt aus der Rumpelkammer ungebauter Projekte geholt", schreibt Niklas Maak in der Süddeutschen. Das alte Kranzler-Gebäude genießt zu guten Teilen Denkmalschutz, auch der Name bleibt erhalten. Demnächst, wie gesagt, wird es wieder ein "Kranzler" in der Bel Etage des neuen Kranzler-Ecks geben. Der Geist des alten Cafés soll - angeblich - bei dieser Wiedergeburt auf der Strecke bleiben.