Der Ukrainekrieg und die bellizistische Umerziehung der Deutschen
Gastbeitrag Seit Beginn des Ukraine-Krieges ist mit der Zeitenwende die Tür zur Militarisierung der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik aufgestoßen. Doch die Mehrheit der Bevölkerung trägt die Zeitenwende nicht mit – noch nicht
Deutschland liefert fünf Mehrfachraketenwerfer MARS II mit Munition an die Ukraine. Bundeskanzler Olaf Scholz ließ sich in der Lüneburger Heide das Equipment der Bundeswehr erklären (17.11.2022)
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Seit Beginn des Ukrainekrieges werden die Politik und die Medien von einer bellizistischen Welle heimgesucht. Wie von einem Erweckungserlebnis erfasst, sind ehemalige Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer zu obsessiven Apologeten eskalierender Kriegsführung geworden. Koste es, was es wolle, es geht um Sieg. Hierfür können nicht genug schwerste Angriffswaffen für die von Russland überfallende Ukraine gefordert werden. Friedenspolitik ist passe, und nun ist mit der Zeitenwende die Tür zur Militarisierung der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik aufgestoßen, die eine Ära der Hochrüstung einleiten wird.
Dass in der Ukraine ein von russischen Invasionstruppen ausgelöster brutaler Krieg herrscht, bestimmt auch das Meinungsklima unter der
unter der Bevölkerung. Sie ist besorgt um die Ausbreitung des Krieges nach Deutschland. Gleichzeitig fürchtet sie sich um nicht mehr bezahlbare Gas- und Stromrechnungen. Zwar heißt die Bevölkerung die Sanktionen gegen Russland gut, doch wünschen sich zwei Drittel der Bundesbürgerinnen und -bürger die baldige Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen.Dies untergräbt indes den mit der Zeitenwende eingeleiteten sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel der Ampel-Koalition, die mit Deutschland als traditioneller Friedensmacht (soft power) bricht und nun in Reaktion auf die russische Militärinvasion zu einem militärisch fundamentierten Machtstaat (coercive power) aufsteigen will. Die Absicht, sich als Wirtschaftskoloss auch noch zur technologisch hochgerüsteten führenden Militärmacht Europas aufzuschwingen, wurde unter dem Motto „mehr internationale Verantwortung übernehmen“ bereits 2016 auf der Münchner Sicherheitskonferenz durch den damaligen Bundespräsidenten Gauck und die Regierungsvertreter Steinmeier und von der Leyen aufgegriffen. Die Aktion versandete, wenngleich sie von den führenden Leitmedien massiv unterstützt wurde.Die Haltung der Deutschen zum Krieg und zur Waffengewalt blieb verstockt. Der Wehrunwille der Deutschen nach dem Ende des rassenideologischen Vernichtungs- und Versklavungskriegs der Wehrmacht saß dermaßen tief, dass an der breiten Mehrheitshaltung „Nie wieder Krieg“ auch die Wiederbewaffnung 1955 mit einer Wehrpflichtarmee nichts ändern konnte. Zwar ließ der Ost-West-Konflikt und der Kalte Krieg niemanden von Kriegsfurcht unberührt. Doch ging die militärische Abschreckungs- und Verteidigungsbereitschaft der Soldaten nur so weit, wie sie als „Soldaten für den Frieden“ den Krieg zu verhindern hatten.Bellizistische ZeitenwendeSich dem Wehrdienst durch Kriegsdienstverweigerung zu entziehen, wurde zum Standardritual damaliger Abiturklassen. Als dann auch noch Ende der 1970er die Nachrüstungsdebatte Ängste vor einem Atomkrieg heraufbeschwor, wurde eine ganze „Generation KDV“ zutiefst friedensbewegt und hielt zur Gewaltmaschinerie des Militärs größtmöglichen Abstand. Die Achtundsechziger, die Generation KDV und deren Nachfolgegenerationen richteten sich in der friedliebenden posthistorischen Gesellschaft ein und fühlten sich unter dem Schirm der militärisch zurückhaltenden bundesdeutschen Friedensmacht bestens aufgehoben.Nun wirft der Ukrainekrieg die europäische Friedensordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts auf eine Bedrohungslage zurück, auf die die Politikelite in Deutschland mit einer bellizistischen Zeitenwende antwortet. Die Bundeswehr kehrt zu ihrem alten Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung zurück und die Beziehungen zu Russland sind so wie zu den Zeiten des Kalten Krieges auf Feindseligkeit eingeschworen. Abgestimmt mit der NATO leisten deutsche Waffenlieferungen der angegriffenen Ukraine wirksamen militärischen Beistand. Dieser geht so weit, dass jüngst mit der umfangreichen Ausbildung ukrainischer Soldaten an modernsten westlichen Waffensystemen völkerrechtliche Bedenken weggewischt werden, damit die NATO-Beistandsländer zur Kriegspartei in der Ukraine werden zu lassen.Der militärische Beistand des Westens hat mittlerweile in der Ost- und Süd-Ukraine die russischen Invasionstruppen in die Defensive gedrängt. Umso energischer wird vom bellizistischen Lager unter den Politikern und Medien die Lieferung deutscher Angriffswaffen wie dem Leo II verlangt, um die Russen als verbrecherische Besatzungsmacht unter Einschluss der Krim außer Landes zu treiben. Die bellizistische Kampagne in Politik und Medien wird von ehemaligen Kriegsdienstverweigerern und Pazifisten angeführt, die die kriegerische Vernichtungsgewalt an der Zivilbevölkerung nur aus Salongesprächen kennt und der die Logik der militärischen Eskalationsdynamik durch Waffenlieferungen völlig fremd ist.Solche kriegerischen Eskalationsbestrebungen bleiben ein vom Bellizismus heimgesuchtes Elitenprojekt, solange nicht die Bevölkerung die aktive Verwicklung in den Ukrainekrieg wohlwollend mitträgt. Dafür bedarf es einer erzählerischen Deutung des Kriegsgeschehens, die – wenn möglich – einen „Langemark“-Effekt in der Pro-Kriegs-Haltung der Deutschen auslöst.Drei bellizistische NarrativeFür die bellizistische Umerziehung der Deutschen zur kriegerischen Pro-Haltung lassen sich drei von politischer und medialer Seite verbreitete Narrative unterscheiden, mit denen synchron, aber auch sequenziell die Öffentlichkeit beeinflusst wird.1) Die erste Erzählung stellt die barbarisch-unmenschliche und verbrecherische Brutalität der russischen Invasionstruppen heraus, die ja tatsächlich mordend, folternd, vergewaltigend und massakrierend durch die schutzlose und hilfsbedürftige Ukraine ziehen. Für das Grauen lieferte die Ortschaft Butscha ein zutiefst erschütterndes Exempel.Politikerinnen und Politiker aus Deutschland, an der Spitze Außenministerin Annalena Baerbock, haben bei und nach ihrem Besuch in Butscha diesem Täter-Opfer-Narrativ stärksten Ausdruck verliehen. Über die echte Erschütterung hinaus dient er den Medien zur empathischen Inszenierung des Kriegsgeschehens. Indem die menschenverachtende Vernichtungs- und Zerstörungswirklichkeit des russischen Angriffskriegs in erschütternde Bilder gekleidet wird, geht dieses Narrativ unter die Haut und stimuliert einen Empörungs- und Bestrafungsbellizismus. Wirkungsmächtig ist das Narrativ auch deshalb, weil sich die Täterschaft und Verantwortlichkeit dieser Ungeheuerlichkeiten des Krieges auf die Überperson Putin lenken lassen. Putin wird als Verbrecher und Schlächter dämonisiert, während der ukrainische Staatspräsident Selenskyj den heldenhaften Widersacher verkörpert.Das Opfernarrativ ruft Entsetzen und partiell Hassgefühle in der Bevölkerung hervor, jedoch mit nicht so eindeutigen Wirkungen. Einmal im Sinne von erwünschten bellizistischen Bestrafungs- und Rachegefühlen. Dann aber auch, ob der steigenden und unerträglichen Kriegsgräuel halber, der Wunsch nach dem Schweigen der Waffen.2) Ein zweites Narrativ behandelt den Krieg und dessen Ausgang als Exerzierfeld eines weltanschaulich-ideologischen Systemkonflikts, der zwischen dem westlich-liberalen Demokratiemodell und dem russisch-chinesischen antiliberalen Autokratie-Modell ausgetragen wird. Aus dieser Sicht wird stellvertretend von der Ukraine heldenhaft die Freiheit Europas und des Westens verteidigt. Deutschland reiht sich moralisch gefordert in diesen Freiheitskampf ein und leistet, als wäre es das eigene Land, größtmöglichen Beistand. Hier stehen im neuen Kalten Krieg um Werte und Moral die Grünen mit an vorderster Front. Nur will der bellizistische Funken nicht so glatt überspringen, zumal es den Deutschen an Einsicht fehlt, dass das, was in der Ukraine passiert, auch „ihr“ Krieg sei.3) Schließlich wird noch vom bellizistischen Lager ein drittes Narrativ in Gestalt des klassischen Bedrohungsparadigmas in Umlauf gebracht, was den Ukrainekrieg auf imperialistisch-aggressive Machtausdehnungsziele Russlands unter Putin zurückführt. Kanzler Scholz kleidete jüngst auf der Generalstagung der Bundeswehr am 16. September 2022 in Berlin diese Erzählung in folgende Worte: Putin „will Russland in Europa als imperiale Macht etablieren – und zwar mit den Landkarten des Zarenreichs oder der Sowjetunion im Kopf“.Das Narrativ bedient sich eines gnadenlos-einseitigen Schuldspruchs. Danach handelt es sich beim russischen Überfall um den ersten Schritt eines Eroberungsplans zur Wiederherstellung zaristischen-sowjetischer Großmachtgelüste. Es ist dieses militärische und politische Bedrohungsszenario, welches für das Nato-Bündnis nach Wehr- und Abschreckungsreaktionen verlangt, zuallererst die militärische Verstärkung der Ostflanke.Ohne das Bedrohungsparadigma wäre die Truppenaufrüstung an der Grenze zu Russland nicht zu rechtfertigen.NATO-Osterweiterung: Die GegenerzählungFraglich ist indes die Stichhaltigkeit der Erzählung, die noch viele Historiker beschäftigen wird. Hierbei steht nämlich die Gegenerzählung im Weg, die den Ukrainekrieg auf die gezielt von den USA betriebene geostrategische Osterweiterung der NATO um ehemalige Satellitenstaaten bzw. Sowjetrepubliken Russlands zurückführt. Angesichts der für Russland bedrohlichen Einkreisungspolitik spitzte sich danach für Putin die Frage nach der Aufnahme der Ukraine in die NATO zum casus belli zu, zumal sich die NATO bis zuletzt der Forderung Russlands auf einen neutralen Status der Ukraine verweigerte.Die NATO-Osterweiterungs-Erzählung ist Gift für das Bedrohungsnarrativ. Sie wird nicht nur von Altpolitikern wie Henry Kissinger und Klaus von Dohnanyi vertreten, sondern auch von zahlreichen Vertretern der internationalen strategischen Community. Schwerlich wird sie sich mit der moralischen Verdammnis, zu den Putinverstehern zu gehören, aus der Welt schaffen lassen. Vor allen Dingen enthält sie eine enorme Brisanz, weil sie die Rechtfertigungsbasis der bellizistischen Zeitenwende zu erschüttern vermag. Dem bezweifelten Kern geht es nämlich um einen von der verhinderten Großmacht Russland angezettelten territorialen Machtausdehnungskrieg, der zunächst mit westlichen Waffensystemen zurückgeschlagen werden muss, um Russland dann nach dem Scheitern der Invasion durch die NATO mit Verlagerung massiver Truppen an die Ostflanke an einem weiteren Überfall zu hindern.Der Treppenwitz der Geschichte ist, dass die Nato den Ukrainekrieg wohl mitausgelöst hat und nun als Folge des Krieges in eine geostrategische Position gebracht wird, die ihr ermöglicht, die Einkreisungspolitik gegenüber Russland weitgehend zu vollenden. Dass dieses Containment mit deutscher Führungsrolle eine erneute Aufrüstungs- und wechselseitige Bedrohungsspirale auslösen wird, ist inhärenter Teil der militärisch hegemonialen Abschreckungslogik. Anders als noch zu Hochzeiten des alten Ost-West-Konflikts ist Deutschland indes nicht mehr unmittelbarer Frontstaat an der Nahtstelle des Konflikts, sondern Material- und Truppensteller für die neuen Frontstaaten.Paradigmenwechsel in der deutschen SicherheitspolitikDie damit einhergehende Aufrüstung ist ein Bauteil für die noch zu errichtende militärisch unterfütterte Machtstaatlichkeit der Bundesrepublik, die sich des alten sicherheitspolitischen Selbstverständnisses militärischer Zurückhaltung und dem einer Friedensmacht entledigt. Die Crux dieses auf militärische Machtstaatlichkeit setzenden Paradigmenwechsels in der Sicherheitspolitik ist jedoch, durch bellizistische Umerziehung in der Bevölkerung Wehrhaftigkeit und Billigung des Einsatzes militärischer Gewalt hervorrufen zu müssen. Dazu muss angesichts des friedenspolitischen Denkens und der Aversion gegen militärische Gewalt erstmal das Narrativ von der russischen Bedrohung des Westens einschließlich der Bundesrepublik in der Bevölkerung Glauben finden.Von der weiteren Drehung der militärischen Gewaltspirale im Ukrainekrieg haben jedenfalls die Deutschen zu zwei Dritteln jetzt schon genug und wollen den Beginn von Waffenstillstandsverhandlungen. Und über das obsessive Eintreten für deutsche Waffenlieferungen zur Kriegsverlängerung hinaus sollten angesichts der anhaltenden Kriegsgräuel politisch Verantwortliche in Deutschland mutig die Initiative für einen Waffenstillstand ergreifen. Nicht zuletzt ließen sich dadurch die Gefahren für Deutschland bannen, als ein Haupt-Waffenlieferant der Ukraine zur Kriegspartei zu werden.