1794 waren wir weiter

Interview Die Bundesregierung will ein Gesetz zur dritten Geschlechtsoption beschließen. Die Juristin Franziska Brachthäuser erklärt, warum das ein Fortschritt ist
Ausgabe 47/2018
1794 waren wir weiter

Grafik: Susann Massute für der Freitag

der Freitag: Frau Brachthäuser, wissen Sie, wie groß Ihre Klitoris ist?

Franziska Brachthäuser: Tatsächlich habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, als ich ein Phallometer gesehen habe.

Ein was?

Mit dieser Satire machen sich Geschlechtswissenschaftler über den Normbereich lustig, den die Medizin für Klitoris und Penis festgelegt hat. Bis 9 Millimeter ist es ein Mädchen, ab 25 Millimeter ein Junge, und alles dazwischen ist „intersexuell“. Das ist natürlich verkürzt.

Was ist Intersexualität, unverkürzt?

Nach der Definition der Konsensus-Konferenz in Chicago von 2005 wird medizinisch von „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ gesprochen, wenn die Geschlechtschromosomen, also XX und XY, das Genital, also Vagina oder Penis, oder die Gonaden, also Hoden oder Eierstöcke, oder die Geschlechtshormone nicht zusammen passen.

Und diese Menschen haben in Deutschland bald das dritte Geschlecht „divers“?

Das Gesetz zur Dritten Option, das im Dezember beschlossen werden soll, sieht vor, dass Eltern die Wahl haben. Sie können ein intergeschlechtliches Baby als männlich, weiblich oder divers registrieren lassen – oder den Geschlechtseintrag vorläufig frei lassen. Ab 14 sollen Intergeschlechtliche diesen Eintrag ändern können, wenn die Eltern zustimmen.

Wenn es rechtlich das dritte Geschlecht gibt, darf auch eine zu lange Klitoris dran bleiben?

Geschlechtsoperationen haben nichts mit dem Personenstandsrecht zu tun. Bei der Dritten Option geht es darum, welches Geschlecht bei den Standesämtern angegeben werden kann. Rein kosmetische OPs an intergeschlechtlichen Babys sind derzeit, obwohl sie teilweise Kastration und Sterilisation bedeuten, noch nicht explizit verboten. Die Bundesregierung plant, dies zu ändern.

Halten Eltern es überhaupt aus, ein Kind zu haben, das optisch in keines der zwei gesellschaftlich anerkannten Geschlechter passt?

Das müssen sie wohl. Wir sprechen hier nicht über Heileingriffe, sondern über irreversible, äußerst schmerzhafte Eingriffe zu kosmetischen Zwecken. Es handelt sich um Genitalverstümmelung, die den Grundsätzen der UN-Kinderrechtskonvention zuwider läuft. Auch im deutschen Strafrecht ist weibliche Genitalverstümmelung verboten. Der UN-Ausschuss gegen Folter hat Deutschland eindringlich empfohlen, die Operationspraktiken an intergeschlechtlichen Kindern unter Verbot zu stellen.

Was wird sich denn mit der Dritten Option wirklich ändern? Welche Eltern trauen sich, das Kind der Familie als „divers“ vorzustellen?

Das Gesetz schafft erstmals rechtliche Anerkennung für intergeschlechtliche Menschen - eine gute Voraussetzung dafür, auch gesellschaftlich Anerkennung zu bekommen. Das sehen wir aktuell bei der gleichgeschlechtlichen Ehe. Was das rechtliche Geschlecht angeht, war die Entscheidung zur Dritten Option revolutionär.

Wieso revolutionär?

Es ist das erste Mal, dass das Bundesverfassungsrecht explizit das Geschlecht im Recht adressiert – es geht also um Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Das gab es noch nie? Was ist mit dem 1980 verabschiedeten Transsexuellengesetz?

Da ging es in den Karlsruher Entscheidungen bislang um das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, also um die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht – um Artikel 1 und 2. 2017 sprachen die Verfassungsrichter explizit von Menschen, die sich in ihrer Identität beiden Geschlechtern nicht zuordnen. Das ist neu. Das Recht kannte zuvor lediglich zwei Geschlechter.

Und jetzt gibt es drei?

Wenn man sich den Gesetzentwurf der Bundesregierung anschaut, könnte man das meinen. Leider werden jedoch nur biologische Geschlechter berücksichtigt, keine Geschlechtsidentitäten.

Das müssen Sie erklären.

Die Dritte Option soll ausschließlich für Menschen gelten, bei denen Ärzte auf medizinischer Grundlage Intersexualität diagnostizieren. Kritiker fordern stattdessen eine Selbsterklärung.

Damit jeder selbst entscheiden kann, welches Geschlecht er hat? Das klingt für Menschen, die sich vor „Gender-Wahn“ fürchten, sicher nach einem Alptraum.

In einigen Staaten ist dies bereits Praxis, etwa in Dänemark. Hier kann jeder nach einer Reflexionsperiode von sechs Monaten sein rechtliches Geschlecht ändern. In Deutschland werden Transsexuelle noch immer gezwungen, zwei ärztliche Gutachten einzuholen.

Transsexuelle profitieren von der Dritten Option also nicht?

Nein. Es wurde die Chance verpasst, ein umfassendes Mantelgesetz für geschlechtliche Vielfalt zu schaffen. Dabei muss das Transsexuellengesetz von 1980 zwingend reformiert werden, dessen Regelungen Karlsruhe bereits in sechs Entscheidungen für verfassungswidrig erklärt hat.

Zum Beispiel?

2011 wurde die Pflicht von transgeschlechtlichen Menschen abgeschafft, sich einer Operation zu unterziehen, wenn sie das rechtliche Geschlecht anpassen wollen.

Was würde ein Mantelgesetz zur geschlechtlichen Vielfalt denn beinhalten?

Zunächst einmal muss man sich anschauen, an welchen Stellen Geschlecht im Recht überhaupt relevant wird. Das ist im inzwischen ausgesetzten Wehrdienstrecht der Fall, aber auch bei Regelungen zum Diskriminierungsschutz, und im Abstammungsrecht: Mutter und Vater sind an biologische Geschlechtskategorien geknüpft.

Und wieso ist das rechtlich problematisch?

Diese Regelung hat etwa zur Folge, dass Transväter, die ein Kind gebären, nur als Mutter eingetragen werden dürfen. Geschlecht ist im Recht ein einziger Flickenteppich und wird der gelebten Geschlechterpraxis nicht mehr gerecht.

Könnte man das rechtliche Geschlecht ganz abschaffen?

Auf lange Sicht könnte das eine Option sein. Das Deutschen Institut für Menschenrechte schlägt erst einmal die Aufschiebung des Geschlechtseintrages für alle Kinder vor, bislang gilt das nur für Intergeschlechtliche.

Haben viele Eltern intersexueller Babys diese Möglichkeit genutzt?

Nein. Von 2013 bis Ende 2015 haben nur vier Prozent der intergeschlechtlichen Kinder kein rechtliches Geschlecht zugewiesen bekommen. In Zahlen: 12.

Zeigt diese Zahl nicht, dass die Gesellschaft für ein drittes Geschlecht noch gar nicht bereit ist?

Mit der Dritten Option trauen sich vielleicht mehr Menschen, ihre Intergeschlechtlichkeit zu zeigen, und das könnte ein Stück weit Normalität schaffen.

Normalität? Betrifft Intersexualität nicht nur 160.000 Menschen?

Wir kennen die genaue Zahl nicht. Die Debatte um die Dritte Option betrifft jedoch alle: Sie zeigt, wie schnell Geschlechtskategorien medizinisch und sozial an eine Grenze geraten. Das verunsichert auch Menschen, die sich in ihrer Geschlechtsidentität sicher und stabil fühlen.

Man könnte doch sagen: diese Menschen geht das gar nichts an?

Das tut es aber. Geschlecht regelt unsere Gesellschaft durch und durch – und dieses Ordnungssystem wird derzeit grundsätzlich in Frage gestellt.

Ist das ein Fortschritt?

Der Witz ist ja, dass die Dritte Option gar kein Fortschritt ist, sondern lediglich einen Rückschritt rückgängig macht. In Preußen gab es einen „Zwitterparagrafen“ für Intergeschlechtliche: Im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 wurden den Eltern zunächst das Recht zugesprochen, das Geschlecht des Kindes zu bestimmen – im Alter von 18 durfte der Mensch dann jedoch selbst noch einmal entscheiden, ob er dieses Geschlecht für angemessen hält oder nicht.

Bis wann galt diese Regelung?

Sie verlor ihre Bedeutung 1876, mit der Einführung der Standesämter, mittels derer der Staat Bürgern von Geburt an in männlich oder weiblich einordnete.

Warum interessiert sich der Staat überhaupt für das Geschlecht?

Es geht um Sicherheit. Noch immer wird gegen den Geschlechterwechsel eingewandt, dass Menschen diese Option nutzen könnten, um ihre Identität zu verschleiern. Es gibt die Angst, dass der Staat die Kontrolle verliert. Argentinien, wo eine liberale Regelung zum Geschlechterwechsel gilt, hat daher für eine Kooperation zwischen Strafverfolgungsbehörden und den Standesämtern gesorgt.

Aber wieso werden Menschen allen Geschlechts nicht schlicht als Bürger registriert?

Die Registrierung von Geschlecht ging in Preußen mit der Einführung der Zivilehe einher. Der Ordnungswille des Staates betrifft die Abstammung, also Fortpflanzung und Besitz, hierfür war das Geschlecht zentral – und ist es, in Teilen, noch.

Geschlecht ist daher keine Privatsache.

Richtig – und gleichzeitig wurde bei Intergeschlechtlichen jahrelang so getan, als handele es sich um eine private Entscheidung der Eltern, ihr Kind operieren zu lassen. Was es nicht ist: das Kind muss laut Grundgesetz geschützt werden, es hat Rechte, staatlich garantiert, auch gegen die Eltern.

Interessant: Abtreibungsgegner argumentieren aktuell ganz ähnlich, mit dem Schutz des ungeborenen Lebens auch vor der Mutter.

Mit dem Unterschied, dass es sich juristisch bei einem Embryo noch nicht um ein Kind handelt. Aber es stimmt: es ist interessant, wann rechtliche Bestimmungen plötzlich hoch politisch werden. Etwa bei der Beschneidungsdebatte. Mit welcher Empörung hier Kindesrechte gegen Elternrechte ausdiskutiert wurden! Dabei handelt es sich lediglich um die Beschneidung der Vorhaut, keineswegs um eine Kastration von Kindern, wie dies bei Intergeschlechtlichen der Fall ist.

Woher rührt die Unterschiedlichkeit der Debatten?

Es liegt an unserem Wertesystem. Ein Kind an eines der zwei herrschenden Geschlechterbilder anzupassen, erscheint richtig, während die Beschneidung aus religiösen Gründen als fremd und daher falsch wahrgenommen wird.

So fremd wie eine zu lange Klitoris?

Die Klitoris ist für Ärzte meist nicht Stein des Anstoßes, sondern die verkürzte Vagina. Die Fähigkeit, penetriert zu werden, war jahrelang ein Ziel verweiblichender Operationen an intergeschlechtlichen Kindern.

Und was war das Ziel bei Operationen hin zum männlichen Geschlecht?

Das kam kaum vor. Ein Grund hierfür: Operativ war es schwer einen Penis zu konstruieren, mit dem man auch im Stehen urinieren kann.

Ergänzung: Das Geschlecht zur Dritten Option wurde am 13. Dezember im Bundestag beschlossen - unter scharfer Kritik von Grünen und Linken an der "Minimallösung".

Zur Person

Franziska Brachthäuser, 27, ist Rechtsreferendarin in Berlin. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist das Verhältnis von Recht und Geschlecht. Seit 2012 beschäftigt sie sich mit der rechtlichen Lage intergeschlechtlicher Menschen

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