1918 plus Mut

Enteignung Ein Volksbegehren in Berlin will Wohnungen vergesellschaften. Möglich wird das durch einen Artikel im Grundgesetz, der auf die Novemberrevolution zurückgeht
Ausgabe 24/2019

Im Sitzungssaal des Berliner Abgeordnetenhauses sind die Redner-Tribünen mit rotem Tuch ausgeschlagen. An den Wänden: Kränze aus dunkelgrünem Tannenlaub mit roten Schleifen und goldenen Borten. Es ist zehn Uhr morgens, der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt, unten die Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, oben Fotografen. So steht es in den stenographischen Berichten zum Reichsrätekongress 1918.

Ans Rednerpult tritt der Volksbeauftragte Wilhelm Dittmann. „Was läge für uns als Sozialisten sonst wohl näher, als die ganze politische Macht, die in unsere Hände gelegt ist, sofort einzusetzen, um der politischen Revolution die soziale Umgestaltung des Wirtschaftslebens in unserm Sinne unmittelbar folgen zu lassen?“, fragt der USPD-Politiker – und fordert, „dort, wo Industrien und Betriebe dafür reif sind, die Sozialisierung ungesäumt in Angriff zu nehmen.“ Es werden sich noch viele Delegierte zu dieser Frage zu Wort melden, zögernd, einwendend, befürwortend. Am Ende fällt der Beschluss: „Der Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte beauftragt die Regierung, mit der Sozialisierung aller hierzu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen.“

„Enteignung! Ja! Genau das will ich!“, ruft Jana Lindner* 101 Jahre später aus, in ihrer 58-Quadratmeter-Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg. Zu diesem Zeitpunkt ist die alleinerziehende Mutter, die ihren richtigen Namen hier lieber nicht lesen will, schon einigermaßen verzweifelt: über die letzte, „LETZTMALIGE!“, ruft sie und klopft bei jeder Silbe auf den Tisch, Zahlungsaufforderung der Deutsche Wohnen, die ihre Mietminderung nicht akzeptierte; über ihre Krankheit, seit der Schimmel durch den Keller in ihre Wohnung hochzog; über zwei Jahre der Tatenlosigkeit ihres Vermieters ob des Schimmelbefalls; über Handwerker von Deutsche-Wohnen-Tochterunternehmen, die ihr von einer Klage abrieten, auch über all die Nachrichten, die das kleine Küchenradio in ihr Wohnzimmer trägt, die AfD, Asylrechtsverschärfungen, „nein, nein“, schüttelt Jana Lindner ihren Kopf und die langen braunen Haare schweifen der Bewegung noch lange nach, „nein, ich wollte das alles nicht. Und dann hörte ich von der Idee, Deutsche Wohnen per Volksbegehren zu enteignen. Sofort war mir klar: DAS!“ Jana Lindner strahlt bis über beide Ohren. „DAS will ich!“

Ausverkauf: Das Tor zur Hölle

Lindner ist gelernte Tischlerin, die Möbel in ihrer Wohnung sind selbst gebaut, das Hochbett ihres Sohnes, das Bücherregal, der Tisch, überall strahlt das helle, blank geschliffene Holz durch diesen sommerlichen Vormittag im Frühsommer. Im Wohnzimmer herrscht eine gigantische Zimmerpflanze, die Monstera, sie klettert die Wand links vom Sofa empor bis zur niedrigen Decke, biegt ab Richtung Fenster, rekelt sich an der Fensterwand entlang um die nächste Ecke, um von hier oben ihre großen Blätter beruhigend auf Lindners Schultern auf dem Sofa herabhängen zu lassen. Seit zehn Jahren verspricht sie ihrer Pflanze schon, dass sie eine bessere Wohnung finden werden, dass das hier nur eine Zwischenlösung ist: die Erdgeschosswohnung mit Ofenheizung; die Monstera hört sich ihre Versprechungen geduldig an, wie sie sich auch die Versprechungen der Vermieter anhörte, dann der Anwälte, dann der kampfbereiten Nachbarinnen, dann die Journalistenteams, die die geplagte Mieterin interviewten, das alles duldet die Monstera unter ihren Blättern. Seit die Wohnung von Deutsche Wohnen gekauft wurde.

Früher gehörte der Neubau neben dem Berliner Mauerpark der kommunalen GSW, 2004 wurde er zusammen mit 65.700 weiteren Wohnungen verkauft, zunächst an den Konzern Cerberus. „Cerberus ist der Höllenhund“, erklärt Jana Lindner, „er bewacht das Tor zur Hölle, lässt dich aber in Ruhe. Und dann kommt Deutsche Wohnen.“ Zwei Jahre nach Deutsche Wohnen kam der Starkregen, mit ihm die Überschwemmung der Keller, und nach ihm der Schimmel, „grün, weiß, türkis, der schimmerte in allen Farben“. Aber nach dem Schimmel kam nichts mehr, beziehungsweise niemand. Nur einen Experten schickte Deutsche Wohnen, „raus!“, soll der gerufen haben bei der Kellerbesichtigung, „alle sofort raus hier! Das ist lebensgefährlich!“ Dann war Ruhe. Der Schimmel zog sich hoch in die Erdgeschosswohnung, Lindner musste weiterhin in den Keller, um Kohlen für die Ofenheizung zu holen, „ich bin gesetzlich verpflichtet, die Brennstoffe außerhalb meiner Wohnung zu lagern, wegen der Brandgefahr“. Die sonst so energiegeladene Selbständige wurde krank: Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, in einem Attest schrieb ihr Arzt, durch die unmittelbare Nähe zum Schimmel sei „eine direkte Gefährdung der Patientin gegeben“. Sie konnte nicht mehr arbeiten, musste zum Jobcenter, der Schimmel breitete sich schneller aus als die Monstera, doch die giftigen Holzverschläge blieben.

„Aus Angst ist bei vielen Mieterinnen inzwischen Wut geworden“, sagt Susanna Raab. Die Aktivistin sitzt sechs Kilometer von Lindners Monstera entfernt am Kottbusser Tor in Kreuzberg, der zweite Hitzesommer hat begonnen, neben ihr plätschert der Brunnen. „Die wohnen ja nicht erst seit gestern in Berlin, viele haben den großen Ausverkauf seit den 90ern miterlebt und gesehen, was passiert, wenn eine Wohnung aus öffentlichem in privaten Besitz übergeht.“ Raab hat das Volksbegehren „Deutsche Wohnen&Co enteignen“ mit initiiert, das Immobilienkonzerne mit mehr als 3.000 Wohnungen zwangsweise rekommunalisieren will. Seit April sammelt die Kampagne Unterschriften. Dass das Quorum von 20.000 bei der Abgabe im Juni erreicht wird, daran hegt Raab längst keine Zweifel: Schon Ende Mai hatten 35.000 Leute die Volksinitiative unterstützt.

Gerade einmal 15 Leute, erinnert sich Raab, waren sie bei den ersten Treffen Ende 2017. „Einige Mieterinnen aus der Protestvernetzung gegen Deutsche Wohnen waren zunächst zögerlich, ob Enteignung die richtige Forderung sei. Sie fragten sich, ob sie das ihren Nachbarn vermitteln könnten. Wir entschieden gemeinsam, einfach mit der Kampagne anzufangen. Tja,“ sie trinkt ihre Rhabarberschorle, schluckt. „und dann ging es Schlag auf Schlag.“

Schlag auf Schlag: Bundes, sogar Europa-weit berichtete die Presse über die Berliner Enteignungsdebatte, Aktivisten tourten durch die großen Talkshows. „Plötzlich hieß es, Robert Habeck schlage Enteignung vor“, lacht Raab, „dann Kevin Kühnert.“

Woran lag es, dass der Vorschlag derart einschlug, nicht als linksradikale Spinnerei abgetan wurde? Die 31-Jährige legt ihren Kopf in den Nacken, blau mit Schäfchenwolken ist der Himmel. Das Plätschern des Brunnens erobert die Stille zurück. „Ich glaube es liegt an Artikel 15. Die Leute gewinnen Vertrauen in den Vorschlag, weil er vom Grundgesetz gedeckt ist.“

Keine zwei Kilometer vom Kottbusser Tor entfernt sitzt der Historiker Ralf Hoffrogge in seiner Genossenschaftswohnung vor einer Bücherwand: Zig Bände zur Rätedemokratie, marxistischen Theorie, zur Novemberrevolution stapeln sich bis unter der hohen Decke. „In Artikel 15 wird die Möglichkeit zur Vergesellschaftung rechtlich festgehalten, und die wiederum“, Hoffrogge strahlt, „wurde von den Arbeitern und Soldaten in der Novemberrevolution erkämpft!“ Der Sozialisierungsbeschluss des Rätekongresses sei insofern in die Weimarer Verfassung eingegangen, als dass diese in Artikel 156 die Möglichkeit einer Überführung von „für die Vergesellschaftung geeignete“ Privatunternehmungen in Gemeineigentum festgehielt. Die SPD habe dann 1949 durchgesetzt, dass diese Idee ins Grundgesetz übernommen wird: Privateigentum wird geschützt, muss aber auch der Allgemeinheit dienen und kann zu diesem Zweck vergesellschaftet werden.

Als sozialisierungsreif, erklärt Hoffrogge, wurde 1918 jedoch nicht der Wohnungsbau diskutiert, der unter vielen Privateigentümern verteilt war – börsennotierte Wohnungskonzerne gab es zur Zeit der Weimarer Republik nicht. Es ging um die Sozialisierung des Bergbaus: „Kohle war Hauptenergieträger und für die Gesellschaft von zentraler Bedeutung, was nahelegt, dass er politisch kontrolliert werden muss und nicht über Privateigentümer geregelt sein darf.“ Wie aber die Sozialisierung umgesetzt werden solle, das sei auch damals schon hoch umstritten gewesen.

Ralf Hoffrogge

Foto: privat

„In einem guten Fabrikgesetz kann mehr Sozialismus stecken als in einer Verstaatlichung von etlichen hundert Unternehmen und Betrieben“, dieser Satz stammt etwa vom 1932 verstorbenen sozialdemokratischen Vordenker Eduard Bernstein, und die Berliner SPD würde ihn wohl heute noch unterschreiben. Sie sieht das Volksbegehren kritischer als ihre Regierungspartner, Linke und Grüne; ein Mietenstopp für fünf Jahre, ab 2020, soll reichen. Die Allgemeinheit, so Bernstein, könne über Gesetze immer stärker in das Wirtschaftsleben eingreifen, sodass dieses am Ende ganz unter die Kontrolle der Gesellschaft komme – Sozialisierung. Karl Korsch, später in der KPD, widersprach seinem zeitweiligen USPD-Genossen vehement: solche Sozialpolitik würde „lediglich den Konflikt zwischen den eigenen Rechten des Kapitalisten und den Ansprüchen der Allgemeinheit schlichten“. Sozialisierung komme nicht ohne radikalen Sprung aus: Enteignung.

Nun ist Jana Lindners Monstera erst 20 Jahre alt, sie kann die Debatten der Sozialdemokraten aus dem Berlin der 1920er kaum kennen. Durch das kleine Radio in Lindners Küche jedoch hört sie seit einigen Monaten ganz ähnliche Töne: „Die Verteilung der Profite muss demokratisch kontrolliert werden“, hört sie Juso-Chef Kühnert sagen, und, so wird er aus der Zeit zitiert: „Ohne Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar“.

Im Oktober 2018 stellte ein Bote Jana Lindner einen Brief der Deutsche Wohnen zu: Ankündigung von Modernisierungsmaßnahmen. Der Brief hat fünf Anhänge, in Anlage 1 kann sich Frau Lindner auf 27 Seiten die geplanten Modernisierungen durchlesen, vom Bad bis zum Einbau der Zentralheizung, und auf Seite 3 der Anlage 5 kann sie lesen, was das für sie bedeutet. Bisherige Miete: 270,62 Euro, steht da. Netto, kalt. Modernisierungszuschlag: 195,06 Euro. Und dann, neue Miete: 465,68 Euro.

Jana Lindner und ihre 20 Jahre alte Monstera

Foto: Nikita Teryoshin für der Freitag

Die SPD drohte mit Klage

Jana Lindners Miete soll um mehr als 70 Prozent steigen. Um solche Mietsteigerungen abzufedern, setzte die Große Koalition jüngst eine Gesetzesnovelle durch: Seit Januar 2019 dürfen nur noch acht Prozent der Modernisierungskosten umgelegt werden. Drei Monate zu spät für Lindner.

Wäre es eine Idee, dass die Wohnkostenübernahmen der Jobcenter analog zu den Mieterhöhungen steigen? Die Augenbrauen schnellen hoch. „Nein!“, ruft die Mieterin, „nein, wieso das denn? Damit die dann schön noch mehr Steuergelder in die privaten Wohnungskonzerne wandern? Nein, enteignen! Weg mit denen!“

„Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ So lautet Artikel 15 des Grundgesetzes, blau auf weiß steht er in einer Broschüre der Mieterinitiative Kotti&Co – daneben weitere rechtliche Möglichkeiten der Rekommunalisierung: Artikel 28 der Berliner Verfassung, der das Recht auf Wohnraum regelt, Baugesetzbuch-Artikel, die die Zulässigkeiten von Enteignung regeln. Aktivistin Raab hat die Broschüre aufgehoben, jetzt liegt sie auf dem Biertisch am Kottbusser Tor, gegenüber von Gecekondu – einem hölzernen Protesthaus, das 2012 bei den Mietprotesten erbaut wurde. „Kotti&Co verteilte den Flyer 2016 auf einer stadtpolitischen Konferenz, um die Idee der Enteignung einzubringen. Da brauchten wir gerade eine Neuorientierung. Nach dem ersten Mietenvolksentscheid.“

Der „erste Mietenvolksentscheid“, immer wenn Raab ihn erwähnt, schnauft sie ein bisschen zwischen ihren Sommersprossen. Nicht alle seien glücklich darüber, wie er gelaufen ist: Das Bündnis wollte 2015 ein Gesetz zur Abstimmung bringen, das Mieten in Sozial- und Kommunalwohnungen senken und die sechs kommunalen Wohnungsunternehmen in Anstalten öffentlichen Rechts umwandeln sollte. Per Gesetz sollte in dieser Rechtsform festgelegt werden, das eingenommene Gelder nicht in den Landeshaushalt fließen dürfen, sondern an Investitionen in den kommunalen Wohnungsbau gekoppelt sind. Die in Berlin regierende SPD drohte mit Klage vor dem Landesverfassungsgericht: die rechtliche Bestimmung über die Investition dieser Mittel würde dem EU-Recht widersprechen. Das Bündnis zog den Antrag auf ein Volksbegehren zurück, hinter den sich bereits 50.000 Berlinerinnen gestellt hatten – und einigte sich mit dem Senat auf einen Kompromiss. Die Begrenzung der Miete in Kommunal- und Sozialwohnungen auf 30 Prozent der Nettoeinkommen wurde festgelegt; ein Fonds für den Wohnungsbau wurde eingerichtet; aber die Umwandlung der Wohnungsgesellschaften in Anstalten öffentlichen Rechts fand nicht statt. Sie blieben weiterhin GmbHs und Aktiengesellschaften, und damit: profitorientiert.

„Es ist ein bisschen verrückt“, erklärt Ralf Hoffrogge: „die landeseigenen Unternehmen werden nicht direkt vom Senat verwaltet, sondern es gibt Kooperationsverträge zwischen dem Senat und den privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen.“ Dabei sei der Wohnungsmarkt in Deutschland lange gemeinwirtschaftlich geprägt gewesen. Nach dem 1. Weltkrieg fror der Staat die Mietenhöhe ein – ähnlich wie jetzt in Berlin geplant. Finanziert von einer starken Hauszinssteuer, deren Einnahmen an die Kommunen gingen, wurde zudem massiv in gemeinwohlorientierten Wohnungsbau investiert. Landeseigene Unternehmen wurden gegründet und genossenschaftliche Wohnungsunternehmen staatlich gefördert, „eine bunte, staatlich finanzierte Gemeinwirtschaft hat sich entwickelt, auf diese Weise wurden in der Zeit von 1924 bis 1930 hunderte Wohnungen gebaut.“ Dieser neue Wohnraum habe bis in die 2000er Jahre die Mietpreise unten gehalten. „Bis dann die Berliner Kassen leer waren und der rot-rote Senat aus SPD und PDS auf die Idee kam, die kommunalen Wohnungsunternehmen zu verscheuern.“ Anfang der 1990er besaß Berlin 500.000 Wohnungen. Heute sind es 300.000.

„Ich habe es ja gesehen“, sagt Jana Lindner, „was passiert, wenn Wohnraum dem Profit dient: Investoren kaufen sich Wohnungen und lassen sie leer stehen, während sie im Wert immer weiter steigen.“ Die gelernte Tischlerin hatte sich, vor ihrer Krankheit, auf Druck des Jobcenters hin als Immobilienmaklerin selbständig gemacht, „ausgerechnet!“ Dann wurden die Schwindelanfälle so stark, dass sie mit dem Auto rechts ranfahren musste aus Angst, das Bewusstsein zu verlieren. Immer weniger Aufträge konnte sie annehmen, sie stockte erst beim Jobcenter auf, meldete sich dann erwerbslos, der Antrag wurde zuerst nicht bearbeitet. Monatelang musste sie sich Geld von Freunden leihen, um Essen für sich und ihren Sohn zu kaufen.

Wegen des Schimmels zog Jana Lindner schließlich vor Gericht. Der Prozess endete in einem Vergleich – „ich ärgere mich so, das ich den angenommen habe, aber das alles zieht dermaßen viel Energie!“ Nach zwei Jahren Schimmelbefall wurden die Holzverschläge im Keller ausgetauscht.

„Wenn Immobilienkonzerne aus der Miete Profit schlagen, endet das in Körperverletzung!“, sagt Lindner. Nicht nur bei ihr. Auch bei den Nachbarn, bei denen im Winter das Warmwasser ausgesetzt war, „hab mal fünf Monate lang kein warmes Wasser, im Winter! Davon wird man krank! Diese Körperverletzung soll man auch noch selbst bezahlen mit der Miete, jeden Monat? Damit Wohnungskonzerne Profite machen, an der Börse, mit deinem kranken Köper?“ Wenn sie an die Profite von Deutsche wohnen denkt, dann erzittern die Blätter der Monstera unter ihrer vor Empörung ganz schrillen Stimme. Lindner schüttelt den Kopf, „Wohnen ist wie Wasser und Nahrung, das braucht ein Mensch einfach. Wieso kann der Staat dieses Recht nicht gewährleisten?“ Für Lindner ist die Vergesellschaftung von Wohnungen: Notwehr.

Nach der Enteignung, so fordert es das Volksbegehren, soll zur Verwaltung der kommunalen Wohnungen eine Anstalt öffentlichen Rechts eingerichtet werden – das geht auf den Vorschlag des ersten Mietenvolksentscheids zurück. „Es geht darum, eine gemeinwirtschaftliche Rechtsform für die rekommunalisierten Wohnungen zu schaffen“, erklärt Hoffrogge, der diesen Aspekt für das Volksbegehren mit ausgearbeitet hat. In diese Rechtsform soll die Gemeinwohlorientierung eingeschrieben sein: um jene „innere Wandlung“ zu erreichen, der es laut Korsch bedürfe, „einer völligen Unterordnung jeglichen Sondereigentums unter den Gesichtspunkt des gemeinsamen Interesses der Allgemeinheit.“

Das Interesse der Allgemeinheit spielt in der Vergesellschaftungstheorie eine große Rolle. Während Wohnungsgenossenschaften zwar auch eine Form von Gemeineigentum darstellen, ist die gesamtgesellschaftliche Kontrolle des städtischen Wohnraums hier nicht gegeben, erklärt Hoffrogge: „Karl Korsch wies darauf hin, dass eine reine Arbeiterherrschaft keine Vergesellschafttung gewährleistet, denn darunter gelte ja: die Atomkraftwerke den Atomkraftwerkern, BMW den BMWlern. Die gesellschaftlichen Folgen dieser Technologien, CO2-Ausstoß und Atommüll, könne dann aber nicht mehr kontrolliert werden.“ Der vergesellschaftete Wohnungsbestand in Berlin solle daher keineswegs nur durch die jeweiligen Mieter verwaltet werden, sondern durch einen 15-köpfigen Verwaltungsrat, paritätisch besetzt mit Vertretern aus dem Berliner Senat, aus den Mieterräten, aus den Betriebsräten der dann kommunalisierten Wohnungsunternehmen – und mit direkt Gewählten aus der Stadtgesellschaft.

Wer hat Zeit für Demokratie?

Mieterräte, direkt gewählte Vertreter aus der Stadtgesellschaft, die Wahlkampf betreiben – haben die Berlinerinnen denn überhaupt Lust auf so viel direkte Demokratie? Jana Lindner ist sich unsicher. „Viele auch hier im Haus kommen abends müde von der Arbeit nach Hause, trinken ihr Bier vor dem Fernseher und gehen ins Bett, die sagen mir: Kann ja sein, dass ich hier nicht mehr wohnen kann, wenn die Miete nach der Modernisierung steigt, aber ich habe keine Zeit, mich damit auseinanderzusetzen, lasst mich einfach in Ruhe.“

Jana Lindner hat für alle Verständnis, denen dieses Engagement zu viel ist. Auch sie wollte erst nicht mitmachen, als sich ihre Nachbarn gegen die Modernisierung organisierten. „Ich hatte Angst, dass mich der Protest mit Haut und Haaren schluckt. Aber dann ging es mir wie vielen: Die Leute merken, dass es nicht mehr funktioniert, so vereinzelt. Dass es auf diese Weise verdammt schnell geht, hinten über zu fallen.“ Das gelte nicht nur „für arme, arme Alleinerziehende“, Lindner zieht ein Augenlid nach unten und lacht, dass die Blätter der Monstera wedeln. „Alle stürzen sich natürlich auf meine Geschichte. Dabei bin ich gerne alleinerziehend! Ich habe wenigstens jedes zweites Wochenende frei!“

Die Zeit braucht sie auch, denn die rund 60 Mietaktivisten der Kampagne treffen sich nicht nur wöchentlich in ihrer Initiative und im Bündnis, sondern auch in den Arbeitsgruppen der Kampagne: Rechts-AG, Unterschriften-Sammel-AG, der Koordinierungskreis, die Organisation von Kundgebungen, Aktionen, Demonstrationen.

„Und die Arbeit fängt ja gerade erst an!“, am Kottbusser Tor setzt sich Susanna Raab aufrecht hin, um sich zu wappnen. Zwei Jahre liegen noch vor ihr: Auf die Abgabe der ersten Unterschriften folgt das eigentliche Volksbegehren, das sieben Prozent der Wahlberechtigten in Berlin unterschreiben müssen – 180.000 Menschen. Dann wird ein Volksentscheid eingeleitet, bei der die Mehrheit, mindestens aber 25 Prozent der Wahlberechtigten für den Beschluss der Kampagne stimmen muss. Sollte der Entscheid erfolgreich sein, muss der Senat beginnen, ein Gesetz zur Vergesellschaftung der Wohnungskonzerne auszuarbeiten; und wenn der Vorschlag einer Anstalt öffentlichen Rechts umgesetzt wird, müssen sich Mieterinnen organisieren, um im Verwaltungsrat mitzuregieren. Was aber, wenn diese dazu gar keine Lust haben? Ohne „alltägliche demokratische Praxis“, mahnte Bernstein, kann Produktion nicht zur „öffentlichen Angelegenheit“ werden.

Kotti&Co ist sich darüber sehr bewusst und befragte die Bewohner rund um das Kottbusser Tor in einer Studie zu ihrer Bereitschaft, Zeit in die Nachbarschaft zu investieren. Das Ergebnis: Rund ein Viertel der Befragten ist dazu nicht bereit. Die Hälfte gab jedoch an, in Zukunft Zeit dafür aufbringen zu wollen; und rund ein Viertel ist bereits aktiv. Die Politisierung in Kreuzberg ist allerdings außergewöhnlich hoch.

Sollte der Volksentscheid erfolgreich sein, kämen Lindner, Raab und Hoffrogge übrigens weiter als die Arbeiterinnen 1918: In der Kohleindustrie entstand kein Gemeineigentum, sondern ein staatlich organisierter monopol-kapitalistischer Zusammenschluss. Nach wie vor hatten die Unternehmer das Sagen, mussten jedoch gewerkschaftliche Organisierung und eine Aufsicht des Reichswirtschaftsministeriums ertragen. Die Konstruktion wurde von den Nazis übernommen – ohne Gewerkschaften. Für die Kriegswirtschaft war sie sehr effizient. „Die SPD hatte die Möglichkeit, richtig zu sozialisieren, direkt nach dem Reichsrätekongress“, sagt Hoffrogge. „Sie hatte nicht den Mut dazu.“

* Name geändert

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