Kitas und Schulen schließen, die Berliner U-Bahn fährt nicht: Die Beschäftigten der Länder kämpfen für sechs Prozent mehr Lohn. Die Soziologin Ingrid Artus erkennt in den erstarkenden Auseinandersetzungen eine Feminisierung des Streiks.
der Freitag: Frau Artus, auf den Demonstrationen von Verdi sieht man derzeit viele Frauen. Ist das ein neues Phänomen?
Ingrid Artus: Wir haben es mit einer neuen Kampfbereitschaft von Arbeiterinnen zu tun. Die Kita-Streiks 2009 und 2015 waren da ein Paukenschlag. Die Gewerkschaften waren von der großen Streikbereitschaft der Erzieherinnen selbst total überrascht. Frauen werden als Arbeitskämpferinnen selbstbewusster.
Warum werden sie das jetzt?
Die Frauenerwerbsquote ist deutlich gestiegen. Und wenn Frauen 40 Stunden pro Woche am Arbeitsplatz verbringen, entwickelt sich automatisch ein Lohnarbeiterinnen-Bewusstsein. Auch kamen im öffentlichen Dienst, wo vor allem Frauen arbeiten, Probleme auf: Einschnitte aufgrund der Austeritätspolitik etwa.
Sind Arbeitskämpfe hier schwieriger als in der freien Wirtschaft? Jetzt sind die Kassen voll, aber Olaf Scholz warnt vor einem Haushaltsloch ...
Löcher entstehen nicht einfach, sie sind vom Staat selbst fabriziert. Die öffentliche Armut liegt an einer Steuerpolitik, die dem Kapital nichts wegnimmt. Die Arbeitskämpfe dürfen sich nicht daran orientieren, wie viel der Staat sich gerade der kapitalistischen Wertschöpfung abzugreifen traut. Das tun sie auch nicht: Begonnen haben die Kämpfe nach der Wirtschaftskrise.
Auch aus einem anderen Grund scheint die Kampfposition in Sorgediensten schwächer: Erzieherinnen können Kinder nicht endlos allein lassen, das weiß auch der Arbeitgeber.
Man könnte auch genau andersherum argumentieren: Hier haben Arbeitskämpfe eine höhere gesellschaftliche Sprengkraft als in der Industrie. Es geht schließlich um Wichtigeres als um Autos: um Kinder, um Menschenleben, um die Gesellschaft.
Warum konnte sich Verdi 2015 dann nicht besser durchsetzen? Gefordert hatte sie eine höhere Eingruppierung, die durchschnittlich 10 Prozent mehr Lohn zur Folge gehabt hätte. Erreicht hat sie 3,7 Prozent.
Man braucht neue Streikstrategien. Das schlichte Niederlegen von Tätigkeiten ist effizient in großen maschinellen Komplexen: Es leiden keine Menschen darunter und man trifft den Arbeitgeber direkt. Das kann man nicht einfach in die neuen Dienstleistungsbereiche übertragen. Das heißt aber nicht, dass man in Kitas oder Krankenhäusern schlechter streiken kann, man muss es nur anders angehen: mehr kommunizieren.
Feminine Arbeitskämpfe sind durch Kommunikation geprägt?
Aber nicht, weil Kommunikation eine weibliche Eigenschaft wäre, sondern weil sie in diesen Berufen zentral ist. Die Arbeitskämpferinnen müssen mit den betroffenen Klienten und ihren Angehörigen in den Krankenhäusern sprechen. Es muss mehr Arbeit in das soziale Umfeld des Streiks gesteckt werden, um Solidarität aufzubauen und Schlagkraft zu entfalten. Da übt Verdi noch.
In der aktuellen Tarifrunde geht es um eine Lohnerhöhung von sechs Prozent. Was hat das mit dem Geschlecht zu tun?
Erst einmal nichts, es geht jedoch durchaus darum, dass eine hoch qualifizierte und anstrengende Arbeit besser bewertet werden soll. Und damit geht es um die Gleichwertigkeit von Löhnen für gleichwertige Arbeit – auch in von Frauen dominierten Berufen. Eng damit verbunden ist die Forderung nach mehr Personal: in Kitas, Krankenhäusern und Schulen. Da geht es sowohl um eine Verringerung der Arbeitsbelastung für die Arbeiterin als auch um eine Verbesserung der Dienstleistung an sich.
In den Berliner Verkehrsbetrieben wird zudem für die 36,5-Stunden-Woche gestreikt. Auch die IG Metall kämpfte fürweniger Arbeitszeit. Ist dieser Fokus neu?
Nein, die Arbeitszeit gehört elementar zu Arbeitskämpfen. Nach der langen Phase der Stagnation und des Reallohnrückgangs in den 1990ern und 2000ern mussten die Gewerkschaften jedoch erst einmal für eine Stabilisierung der Löhne kämpfen, bevor sie sich wieder der Arbeitszeit zuwenden konnten. In den 80ern wurde die 35-Stunden-Woche gefordert – und heute klingen 36,5 Stunden fast revolutionär.
Zur Person
Ingrid Artus ist Professorin für Arbeitssoziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Im Februar veröffentlichte die Rosa-Luxemburg-Stiftung ihre Broschüre Frauen*streik! Zur Feminisierung von Arbeitskämpfen
Die IG Metall setzte das Recht auf die befristete Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit auf 28 Stunden durch. Ist das eine feministische Errungenschaft, weil Zeit für unbezahlte Sorgearbeit freigeschaufelt wird?
Samstags gehört Papi mir, so hieß das in den 80ern. Aber klar, heute argumentiert selbst eine Männergewerkschaft wie die IG Metall stärker mit unbezahlten Pflege- und Sorgearbeiten.
Die IG Metall ist männlich?
Nur 18 Prozent der Mitglieder sind Frauen. Zum Vergleich: Verdi hat knapp über 50 Prozent weibliche Mitglieder.
Verdi scheint noch zurückhaltend, wenn es um Arbeitszeit geht, stimmt der Eindruck?
Verdi hat es in manchen Branchen mit ausgesprochen rigiden Arbeitgeberstrategien zu tun und muss manchmal sogar darum kämpfen, überhaupt als Gewerkschaft akzeptiert zu werden, wie man bei Amazon sehen kann – oder auch im Einzelhandel.
2012 haben die „Schlecker-Frauen“ 25.000 Arbeitsplätze verloren, und der damalige FDP-Wirtschaftsminister Rösler meinte, sie sollten für ihre „Anschlussverwendung“ selbst sorgen. Jetzt werden 40 Milliarden Euro für den Strukturwandel lockergemacht. Sind 20.000 Männer-Arbeitsplätze in der Kohle wichtiger als die im Einzelhandel?
Die unterschiedlichen Verläufe der beiden Arbeitskonflikte haben mit den gewachsenen Machtressourcen von Gewerkschaften zu tun. Die IG BCE betreibt seit Jahrzehnten eine erfolgreiche Lobbypolitik, insbesondere in der SPD. Da kennt man sich gut, da will der Arbeitgeberverband der Gewerkschaft auch nicht weh tun, und dann ist genug Geld da. Im Einzelhandel läuft das anders. Was ist hier anders?
Der Konkurrenzkampf ist hart, und die Lohnkosten spielen eine viel größere Rolle. Zudem waren die Gewerkschaften lange auf männlich dominierte Arbeitsplätze fokussiert und der weiblich geprägte Einzelhandel war eher ein Randphänomen der Organisierung. Das ändert sich: Einzelhandel und Sorgeberufe werden für die Gewerkschaften wichtiger. Also auch die Frauen.
Findet in den Gewerkschaften eine Feminisierung statt?
Ja, aber langsam. Die Mitgliederstruktur sieht aus wie die Struktur der Erwerbstätigkeit in den 80er Jahren. Die Entwicklung hinkt hinterher – auch international. Die Geschlechterlücke beim Organisationsgrad der männlichen und weiblichen Arbeitenden ist in Deutschland viel größer als in anderen Ländern.
Woran liegt das?
Schwierige Frage. Vielleicht daran, dass Deutschland historisch stark industriell geprägt ist – ein klassisch männlicher Sektor. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Gewerkschaftskultur.
Also traf das Bild des männlichen Arbeitskämpfers mit der Arbeitermütze früher zu?
Da ist noch viel Forschungsarbeit zu leisten. In Zeitdokumenten ist immer von „Arbeitern“ die Rede, faktisch waren darunter aber oft viele Frauen. Beim Crimmitschauer Streik der Textilarbeiterinnen 1903 und 1904 kämpften zu 80 oder 90 Prozent Frauen, aber bis heute wird in den gewerkschaftlichen Broschüren vom „Streik der Textilarbeiter“ geschrieben. Natürlich stellt man sich darunter dann Männer vor.
Am 8. März wollen Frauen auch die unbezahlte Arbeit bestreiken: Kinderbetreuung, Putzen und Kochen zu Hause. Ist das nicht rein symbolisch?
Symbolisch sind auch viele gewerkschaftliche Streiks, Warnstreiks etwa. Interessant am Frauenstreik ist der neue, umfassende Arbeitsbegriff, der ihm zugrunde liegt: Es geht sowohl um bezahlte als auch um unbezahlte Arbeit. Dieser Ansatz hat eine enorme Sprengkraft.
Warum?
Im Bereich der bezahlten Arbeit sind wir auf dem Weg zur Angleichung der Geschlechter. Aber im Bereich der unbezahlten Arbeit gibt es kaum Emanzipation: Kindererziehung und die Pflege von Älteren wird ganz überwiegend von Frauen geleistet. Der Frauenstreik zielt vielleicht nicht ins Herz des Kapitalismus – aber genau ins Herz des Patriarchats.
Unterstützen Gewerkschaften den Frauenstreik?
Leider ist das noch unklar. Dabei ist die Stellung von Frauen in der Erwerbsarbeit ganz wesentlich von ihrer Stellung in der unbezahlten Arbeit definiert. Wenn die Gewerkschaften es ernst meinen mit der Gleichstellung der Geschlechter, müssten sie auch den Frauenstreik unterstützen.
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