Aufwachen! Zeit für Veränderung

Bundestagswahl In was für einem Land wollen wir leben? Träumen Sie mal hier entlang
Ausgabe 37/2021
Aufwachen! Zeit für Veränderung

Illustration: der Freitag

Guten Morgen! Na, gut geschlafen? Ja, wir dachten, wir wecken Sie mal langsam auf. Hatten wir Ihnen ja versprochen: Wenn es wieder etwas zu entscheiden gibt, holen wir Sie aus dem Bett. Öffnen Sie langsam die Augen, ganz langsam, über 20 Jahre Schlaf, da muss man sich erst mal wieder an die Welt gewöhnen, was? Aber hier liegt sie nun vor uns: die Weggabelung. Schauen Sie: Wenn wir hier links abbiegen, was dann alles möglich wäre! Sehen Sie das, da hinten?

Nein? Sie sehen es nicht? Na, werden Sie erst mal richtig wach. Wir verstehen das schon, nach 20 Jahren neoliberalem Albtraumschlaf kann man sich gar nicht mehr richtig vorstellen, dass auch mal was Schönes dabei rauskommen kann, bei so einer neuen Regierung. Als Sie schlafen gingen, war ja auch gerade Rot-Grün, schon klar, das war nicht gerade ein Träumchen. Veränderung, das hieß immer: Verschlechterung. Veränderung, das hieß: Plötzlich wieder in den Krieg ziehen. Das hieß: Hartz IV, Sanktionen, Bedarfsgemeinschaft, das Ende der Solidarität, das hieß: ein Eis für’s Kind wird nicht einberechnet und die Waschmaschine darf nicht kaputtgehen. Veränderung, das hieß: Mehr arbeiten in derselben Arbeitszeit für weniger Lohn und davon höhere Mieten zahlen, das hieß: die kranke Mutter selbst pflegen, das hieß: Festarbeiterinnen gegen Leiharbeiter aufwiegeln, das hieß: Konkurrenz, Erpressung, würdeloses Arbeiten.

Nein, wir werfen Ihnen nicht vor, ins Bett gegangen zu sein – und dann 16 Jahre CDU-Verwaltung, was für ein politischer Dauertiefschlaf. Schlafende Politikerinnen sind echt kein schöner Anblick! Sie schnarchen, sie knurren, sie nuscheln über: Deregulierung, Privatisierung, Wettbewerb, Flexibilisierung, Standort. Und während sie schlafen, übernimmt die Wirtschaft im Cockpit den Autopiloten – aus dem schlafwandelnde Journalistinnen weiter berichten: über lachende Armin Laschets, plagiierende Annalena Baerbocks, den drögen Olaf Scholz.

Nein, aufgewacht! Denn sehen Sie, da unten, die Weggabelung? Wir müssen nun entscheiden: rechts oder links entlang. Der Autopilot ist ausgestellt. Es ist Zeit für Politik. Wachen Sie auf, es ist Zeit, zu träumen.

Wieso glauben Sie uns nicht? Aha, die Klimakatastrophe, die Kapitalinteressen, der Wachstumszwang, jaja, der späte Kohleausstieg, schon verstanden, aber sagen Sie mal, wieso träumen Sie denn jetzt rechts entlang? Ja, klar, wir sehen ihn auch, den Weg, er führt am Kohleausstieg 2038 entlang, vorbei am enorm steigenden CO2-Preis ohne sozialen Ausgleich, die Hartz-IV-Chaussee weiter an der Deckelung von Sozialausgaben und Unternehmenssteuern vorbei bis direkt in den Abgrund, da hinten den Schlund hinab ... Doch, wissen wir, dass viele ihn gehen wollen.

Von dicken grünen Radwegen

Aber träumen wir uns doch mal links entlang. Da sehen Sie erst mal diesen riesigen Berg, stimmt’s? Ja, da müssen wir hoch, leider, es führt kein Weg dran vorbei. Aber sehen Sie, was sich da hochschlängelt? Das sind echt gute Straßen, Schienen und Wege. Sie können es nicht glauben? Dass Sie mit der Bahn bis zu Ihrem Dorf kommen? Klar, sie kommen sogar noch weiter, dort, sehen Sie den Bus vor dem Eingang des Bahnhofs? Der fährt jede halbe Stunde hier ab und hält die ganze Landstraße entlang nach Bedarf, ja, wirklich an jeder Milchkanne, wenn Sie aussteigen wollen, müssen Sie nur diesen Knopf hier drücken! Wieso nur jede halbe Stunde? Na, ein klein wenig Zeit braucht das Aufladen hier an der E-Säule schon noch. Doch, das geht! Reiben Sie sich den Schlaf aus den Augen, das geht, Infrastruktur kann man auch aufbauen! Seriously, kann man.

Kommen Sie nach Berlin, sehen Sie diese breiten Radwege hier? Pop-up-Radwege in einer Pandemie, plötzlich konnten wir alle sicher fahren, die Autos weit weg, wir konnten sogar trödeln, ohne dass sich die wütenden Radfahrer hinter uns stauten, die konnten fix vorbei! Aber bloß nicht dran gewöhnen, haben wir uns auch gesagt, ist eh bald wieder weg. Konnten wir ja auch nicht glauben, dass sich mal was verbessert! Aber: jetzt sind die Radwege dick rot und grün angemalt und sogar mit Pollern abgesichert. Die bleiben! Es wurde tatsächlich vom Staat (!) Geld (!) ausgegeben, damit sich das Leben (!) für die Bevölkerung (!) verbessert! Ohne, dass die dafür etwas hergeben musste. War ungewohnt, zugegeben.

Stellen Sie sich vor, das planen einige sogar auf Bundesebene! Zig Milliarden Euro Investitionen. Stellen Sie sich vor, dann haben Sie da auf Ihrem Dorf so schnelles Internet, dass Sie Ihre Enkel auf dem Bildschirm sehen, ohne dass es wackelt. Stellen Sie sich vor: Ihre Mutter wird erst dann aus dem Krankenhaus entlassen, wenn sie schon selber laufen kann! Stellen Sie sich vor: die Pflegerin Ihres Großvaters hat sogar die Zeit, ihm nach dem Waschen noch die wunden Füße einzucremen – und die Partie Schach zu beenden, bei der er gestern eingeschlafen ist (oder nur so tat, denn die kann er echt nicht mehr gewinnen).

Stellen Sie sich vor, Sie laufen durch die Stadt, die Sonne knallt, Hitzesommer, aber: das Thermometer steigt nicht mehr über 30 Grad! Warum? Überall gibt es begrünte Dächer in der Stadt, Bäume entlang der großen Straßen und Plätze, Springbrunnen an jeder Ecke und ein Straßenbelag, der aus lauter kleinen Schwamm-Pflastersteinen besteht, die im Herbst das Wasser in kleine Bäche unter der Straße leiten und dafür sorgen, dass keine Fluten entstehen und das Wasserreservoir jetzt in der Dürre gut gefüllt ist. Doch, dafür gibt es Pläne und Programme, wirklich!

Oder träumen Sie mal hier entlang: Stellen Sie sich vor, es kommt ein Brief vom Jobcenter, und ihr Magen: bleibt ganz ruhig! Weil Sie wissen, es kann nichts passieren. Die über 600 Euro, die das Jobcenter Ihnen jeden Monat überweist, können Ihnen nicht mehr genommen werden, es gibt keine Sanktionen mehr. Sie wissen, die Wohnung, in der Sie wohnen, bleibt Ihre Wohnung, das Jobcenter zwingt Sie nicht zum Umzug. Sie wissen, der kleine Job in dem Laden um die Ecke, den können Sie ruhig machen: das Geld können Sie behalten, richtig, 12 Euro pro Stunde mindestens, Sie planen davon eine kleine Reise am Wochenende, ja, richtig gehört: Reise, denn die Residenzpflicht, die ist auch abgeschafft bei der Mindestsicherung.

Wovon wir das alles bezahlen sollen, als Gesellschaft? Echt mal, Sie träumen von Finanzplänen? Interessant. Also gut, auch da gibt es diesen Pfad hier links entlang, sehen Sie ihn? Erst kommt das kleine Tal durch die Erhöhung des Freibetrags bei der Einkommenssteuer, dann geht er den Hügel hoch, über die Vermögenssteuer von einem Prozent, und dann weiter zur Erhöhung des Spitzensteuersatzes, bis da hinten, wo die Bundesanleihen Milliarden in die Kassen bringen, wegen der Negativzinsen. Wie? Was beim Weg rechts entlang kommt, nach diesem riesigen Tal der Steuersenkungen dort, der Investitionen ohne Steuererhöhungen oder Vermögenssteuer? Ganz ehrlich, das wissen wir auch nicht.

Ah, jetzt sind Sie unsicher, ob Sie wirklich aufstehen sollten? Oder sich doch wieder hinlegen? Sie glauben nicht, dass es eine Partei gibt, die wirklich willens und auch in der Lage ist, diesen Weg dort links entlangzugehen? Sie haben Recht: Es wird nicht reichen, von hier oben mit dem Finger den Weg zu zeigen. Sie werden aufstehen müssen – und aus diesem Bett hier klettern. Sie werden ihn selbst gehen müssen, diesen Weg. Aber wenn wir erst mal alle unterwegs sind, dann wollen wir auch ankommen, soviel steht fest. Und dann werden wir mal sehen, ob sich noch jemand traut, stehen zu bleiben.

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