„Bist du Jude?“

Interview Der deutsch-israelische Autor Yossi Bartal über den schmalen Grat zwischen Antisemitismus, Israelhass und Solidarität mit Palästinensern in Deutschland
Yossi Bartal lebt in Neukölln – ein Berliner Bezirk, an dessen Beispiel häufig über Antisemitismus in Deutschland diskutiert wird
Yossi Bartal lebt in Neukölln – ein Berliner Bezirk, an dessen Beispiel häufig über Antisemitismus in Deutschland diskutiert wird

Foto: Imago/Klaus Martin Höfer

Herr Bartal, die israelische Sängerin Netta Barzilai hat den Eurovision Songcontest gewonnen. Freut Sie das?

Ich bin hin- und hergerissen.

Wieso?

Ich finde den israelischen Beitrag für Eurovision toll, bin aber gleichzeitig traurig, dass die israelische Regierung den Sieg als Bestätigung für ihre Politik darstellt und fordert, den ESC nächstes Jahr im „vereinigten Jerusalem“ zu zelebrieren. Das kann ich nicht unterstützen.

Zur Person

Yossi Bartal wurde in Jerusalem geboren und lebt seit 2006 als freier Autor in Berlin-Neukölln

Die Süddeutschen Zeitung veröffentlichte eine Karikatur, die Netanjahu als Netta zeigt – mit Segelohren und einer Rakete in der Hand.

Die Karikatur ist antisemitisch, weil sie Netanjahus Gesicht und Körper antisemitisch abbildet. Hier kann man sehen, wie Kritik an der israelischen Regierung als Ventil für Antisemitismus verwendet wird. Das ist insgesamt eine der größten Herausforderung für die hiesige Bewegung gegen die israelische Besatzung. Wir haben hierzulande leider mehr deutsche „Israelkritiker“, die sich in Wahrheit an ihren eigenen antisemitischen Ressentiments abarbeiten, als Menschen, die sich tatsächlich mit den Palästinensern solidarisch zeigen.

Sie sind in Jerusalem geboren. Warum sind Sie nach Deutschland gekommen?

Weil ich keine Lösung mehr für den Konflikt in Israel und Palästina gesehen habe.

Hatten Sie keine Angst vor Antisemitismus in Deutschland?

Nein, in Israel ist man mit der Geschichte von Deutschlands „Stunde Null“ aufgewachsen: Seit 1945 sei das Land demokratisch, modern, entnazifiziert. Ich war schockiert, als ich in Deutschland lernte, wie lange Nazis und Antisemiten sich noch an Schulen, in Behörden, an Gerichten hielten. Als ich 2006 hierher kam, fragte ich mich: Wie konnten Jüdinnen hier leben? Zwischen all den Nazis? Heute muss ich mit dieser Last zum Glück nicht mehr leben.

Nicht? Laut der polizeilichen Kriminalstatistik stieg die Zahl der antisemitischen Straftaten 2017 an – auf insgesamt 1504 Fälle. Fast alle davon sind als rechtsmotiviert eingetragen.

Ja, es gibt Neonazis. Aber die Leute, die meine Familie ermordet haben, die sind weg.

Mussten Sie schon einmal einen antisemitischen Übergriff erleben?

Einmal. Während der Gaza-Offensive von Israel 2014 wurde ich am Kottbusser Tor in Berlin Kreuzberg von einem jungen Mann angesprochen, er war vielleicht 17. „Bist du Jude?“, fragte er, ich schaute ihn überrascht an, und er: „Bist du Jude oder nicht?“ Ich antwortete ihm auf arabisch, “was ist los, Alter? Das ist keine Frage, die man stellen sollte.”

Der Mann sprach arabisch?

Nein, das dachte ich, aber dann stellte sich heraus, dass er Deutsch-Türke war. Ich fragte ihn also auf deutsch, warum er wissen will, ob ich Jude bin, und er sagte: „Weil ich gerade die Bilder gesehen habe von dem Massaker in Gaza, und ich will jetzt einen Juden schlagen.” Und ich habe ihm gesagt, “ich bin Jude, ich komme gerade jetzt von der Demo gegen den Krieg in Palästina. Und ich bin schon sehr viel länger für Palästina aktiv als du.“ Wir haben dann sehr lange diskutiert.

Und er schlug Sie am Ende nicht?

Nein. Er hat mich am Ende umarmt. Aber das passierte direkt in meinem Kiez. Dieser Vorfall hat mich schon sehr beunruhigt.

Werden Sie in diesen Tagen auch auf die beinahe 60 Toten bei den Protesten in Gaza angesprochen?

Als ich gestern auf einer Demonstration gegen die Gewalt an Palästinensern teilnahm, wurde ich natürlich deswegen angesprochen. Freundlich. Wir waren ungefähr 20 Israelis, die sich auch als solche zu erkennen gaben.

Stört es Sie, dass Sie als Israeli immer Stellung nehmen müssen zur Politik der israelischen Regierung?

In Zeiten wie diesen weiß ich manchmal nicht, was mich mehr stört – das laute Schweigen meiner linken deutschen Freunde, die Verbrechen nicht beim Namen nennen möchten, oder irgendwelche Forderungen von Fremden, ich solle mich wegen der Politik Israels rechtfertigen.

Sie wohnen in Neukölln. Verstecken Sie Ihre israelische Herkunft? Sprechen Sie auf der Straße offen hebräisch?

Ich habe mich entschieden, meine Identität zu zeigen. Überall reagieren die Menschen auf mich, wenn ich hebräisch spreche oder sage, ich komme aus Israel. Manche erzählen mir, dass Juden außergewöhnlich klug seien. Andere sagen, sie würden den israelischen Präsidenten Netanjahu hassen. Oder Tel Aviv lieben für die Schwulenkultur. Wenn man Israeli ist, ist man daran gewöhnt: Israel ist immer ein Thema.

Und wie reagieren Palästinenser auf der Sonnenallee, wenn sie Sie als jüdischen Israeli wahrnehmen?

Es gab da noch keinen Vorfall. Aber es gibt einige Palästinenser, die Probleme mit Israelis haben. Man muss das verstehen: ihre Familien kommen aus Flüchtlingslagern im Libanon. In Deutschland sind sie nur geduldet. Und ich bekomme problemlos ein Visum, habe jetzt die deutsche Staatsangehörigkeit, kann mich frei bewegen.

Sie können muslimischen Antisemitismus deshalb nachvollziehen?

Man muss vorsichtig sein mit den Begriffen. Was ich nachvollziehen kann, ist der Hass einiger Palästinenser auf den Staat Israel. Wie ich den Hass der Kurden auf den türkischen Staat nachvollziehen kann, der sie unterdrückt.

Wie kann man einen Staat hassen?

Ganz einfach: wenn der Staat, wie dies aktuell in Gaza passiert, als tödlicher Staat wahrgenommen wird. Mindestens 59 Palästinenser wurden vom israelischen Militär getötet, weil sie an der Grenze von Gaza protestierten, 2700 wurden verletzt. Dieser Staat, das ist für Palästinenser der Stiefel im Gesicht. Dass Israel mehr als nur Repression bedeutet, ist mir als jüdischer Israeli klar, aber diese Erkenntnis von Menschen zu fordern, die seit 70 Jahren von diesem Staat systematisch unterdrückt werden, finde ich extrem zynisch.

Wie äußert sich diese Unterdrückung für Palästinenser konkret, die in Deutschland wohnen?

Ein Beispiel: Wenn sie zu ihrer Familie nach Israel reisen wollen – beziehungsweise nach Palästina, in die Westbank – dann dürfen sie nicht über den Flughafen Ben Gurion einreisen. Sie müssen einen Flug nach Amman in Jordanien nehmen, dann die Grenze überqueren, und dann erst nach Ramallah fahren.

Ist das nicht nachvollziehbar? Ben Gurion war schließlich mehrfach Ziel von palästinensischen Anschlägen.

Dass die Einreise verweigert wird, hat nichts mit Sicherheit zu tun. Es gibt auch Exilpalästinenser, die gar nicht mehr reingelassen werden – nicht, weil sie eine Waffe in ihrem Koffer haben. Sie sind nicht bei der Hamas! Sie machen nur pro-palästinensischen Aktivismus in Deutschland. Wer es nach Israel schafft, erlebt dann rassistische Polizeikontrollen. Dass es Hass auf den israelischen Staat gibt, das halte ich für nachvollziehbar.

Und der Hass auf den israelischen Staat hat für Sie nichts mit Antisemitismus zu tun?

Der Nahost-Konflikt ist sehr kompliziert. Zu sagen: Jeder, der Israel hasst, ist ein Antisemit, das ist mir zu einfach.

Ist es denn so einfach, Hass auf den einzigen jüdischen Staat und Antisemitismus zu trennen? Wenn Palästinenser etwa skandieren, dass Palästina vom Jordan bis ans Meer reichen soll?

Es stimmt, man kann das nicht ganz trennen. Bei Antisemitismus geht es darum, den Sündenbock zu suchen: Wer ist Schuld an den Problemen unserer Gesellschaft? Oft wurden Juden zu diesen Sündenböcken gemacht, das ist antisemitisch. Natürlich kann man auch einen Staat zum Sündenbock machen. Dazu kommt aber, dass der jüdische Staat Israel tatsächlich Menschenrechte verletzt. Gerade bei Palästinensern muss man die Motivation der Ablehnung Israels differenziert betrachten.

Die Motivation ist eine andere, als wenn Deutsche Israel hassen?

Ja. Nehmen wir den Slogan „Kindermörder Israel“. Natürlich gibt es die antisemitische Legende europäischen Ursprungs, dass Juden Kinder entführen und zu Mazza-Brot verarbeiten würden. Wissen die Palästinenser von dieser Legende?

Sollten sie es nicht wissen?

Ja, ich finde, sie sollten es wissen. Sie sind in Deutschland, sie rufen auf deutsch, sie sollten wissen, in welchem Umfeld sie sich bewegen, und hier brauchen wir Bildungsarbeit. Aber sie wissen es nicht, und daher ist ihre Motivation nicht unbedingt antisemitisch.

Nehmen wir an, die Motivation für den palästinensischen Hass auf den israelischen Staat ist nachvollziehbar. Was schlagen Sie vor? Sollen wir als Linke, als Antifaschisten sagen: ok, nur zu, schlagt Juden in Deutschland?

Es stimmt: dass etwas nachvollziehbar ist, heißt nicht, dass wir es akzeptieren sollten. Wer etwas gegen palästinensischen Antisemitismus tun möchte, muss aber aufhören, nur die israelische Politik als nachvollziehbar darzustellen – und die palästinensische nicht. Der muss aufhören, nur Juden als Opfer im Nahost-Konflikt anzuerkennen. Die palästinensische Perspektive muss ernst genommen werden.

Können Sie es nicht nachvollziehen, dass Linke in Deutschland in erster Linie das Existenzrecht Israels verteidigen?

Doch, ich kann nachvollziehen, dass aus der Geschichte des Holocausts heraus ein starker israelischer Staat gefordert wird. Aber was für ein israelischer Staat bringt der jüdischen Bevölkerung tatsächlich Schutz? Ist es überhaupt möglich, einen jüdischen Staat zu haben – ohne die Palästinenser zu unterdrücken? Ich weiß es nicht. Ich glaube leider nicht mehr daran, dass das möglich ist.

Was ist mit der Zwei-Staaten-Lösung?

Ich glaube nicht mehr an die Zwei-Staaten-Lösung.

An welche Lösung dann?

Es gibt natürlich auch keine andere Lösung! Ich halte diesen Konflikt gerade für nicht lösbar. Wie gehen wir in Deutschland damit um? Wir müssen dafür sorgen, dass die palästinensische Perspektive als legitim anerkannt wird. Dann können wir Antisemitismus bekämpfen. Keine perfekte Lösung, aber die gibt es nicht.

Wenn Sie keine Hoffnung mehr haben, warum unterstützen Sie die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“?

Ich möchte der palästinensischen Community zeigen, dass es diese jüdische Stimme gibt, die ihre Lage wahrnimmt. Das ist wichtig für den jüdisch-palästinensischen Dialog. Ich pflanze etwas, von dem ich hoffe, dass daraus irgendwann etwas erwächst. Aber meine Politik verfolge ich unabhängig von der Organisation.

Was für eine Politik ist das?

Es geht mir darum, eine andere jüdische Identität aufzubauen, sich künstlerisch mit dem Judentum zu beschäftigen, es neu zu zelebrieren, links, emanzipatorisch, queer. Die Bewegung für solch eine neue jüdische Identität gibt es vor allem in der jungen Generation in den USA. Auch hier in Deutschland arbeiten viele daran: eine jüdische Kultur aufzubauen, die weder religiös, noch ausschließlich durch den Staat Israel und den Holocaust definiert ist.

Das Jüdischsein anders definieren will auch die Jüdin Evelyn Hecht-Galinsky, die bei dem Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen mit teils antisemitischen Aussagen auftritt und das Verbrennen von Davidstern-Flaggen verteidigt.

Ich möchte nicht über Evelyn Hecht-Galinsky sprechen. Nur so viel: Niemand ist immun gegen Antisemitismus, wie niemand immun ist gegen Rassismus. Das gilt für deutsche Juden ebenso wie für deutsche Linke.

Antisemitismus wird auch der von der „Jüdischen Stimme“ unterstützten Kampagne “Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen” gegen die israelische Regierung vorgeworfen. Wie stehen Sie zu BDS?

Ich bin in Jerusalem geboren und aufgewachsen, in einer Stadt voller Gewalt. Ich habe einige Selbstmordattentate von Palästinensern nahe meiner Schule erlebt. Was ich gelernt habe: Besatzung bringt Widerstand hervor, immer. Dieser Widerstand wird wiederum von den Besatzern unterdrückt, und so wird immer neue Gewalt erzeugt – ein Kreislauf. In diesem Sinne begrüße ich erst einmal jeden gewaltfreien Ansatz palästinensischen Widerstands. Das heißt aber nicht, dass ich alle Ziele und Wege von BDS teile.

Sie sprechen über die palästinensische Motivation. Welche Motivation aber haben deutsche Linke, ausgerechnet den israelischen Staat zu boykottieren – und nicht etwa andere, in denen Unrecht herrscht, wie Saudi-Arabien oder Mexiko?

Es gibt in Deutschland viele Solidaritätsbewegungen. Aktuell ist die Solidarität mit Kurdistan groß, vorher waren es die Zapatista in Mexiko oder die Basken. Ich halte das für legitim. Wenn schwule russische Aktivisten dazu aufrufen würden, russischen Wodka zu boykottieren, weil Putin Schwule unterdrückt, dann wäre das auch legitim.

Russland ist nicht Israel – Israel ist der einzige jüdische Staat weltweit. Ausgerechnet diesen Staat boykottieren zu wollen, als deutsche Linke – das kommt Ihnen nicht komisch vor?

Ich muss das mit einer Gegenfrage beantworten. Die Palästinenser haben sich nicht die Juden als Besatzer ausgesucht, wirklich nicht. Wie können sie für ihre Rechte kämpfen? Müssen sie die Unterdrückung ertragen, nur weil Deutsche das Volk ihrer Besatzer zuvor beinahe ausgelöscht hätten?

Zumindest müssen sie die Existenz des Staates Israel ertragen.

Die Tatsache, dass sich Palästinenser*innen und Israelis im Lande befinden und dass sie beide das Recht auf Sicherheit und Selbstbestimmung haben, sollte anerkannt werden. Ich bin weder der Sprecher noch ein bedingungsloser Unterstützer der politischen Kampagne BDS. Für mich ist aber wichtig zu fragen, ob eine bestimmte Aktion gegen eine konkrete Politik und ihrer Vertreter vorgeht, oder ob sie auf die Ablehnung einer gesamten Bevölkerung abzielt. Diese Unterscheidung ist nicht immer einfach.

Der Antisemitismus in Europa nimmt aktuell zu. Ist es angesichts dieser Situation nicht fatal, den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch mit Israelis einzuschränken, wie BDS dies fordert?

Ich bin ja in diesem Austausch aktiv. Für mich lautet die Frage: Wie können wir einen kulturellen und wissenschaftlichen Austausch zwischen Europa und Israel schaffen, der israelische Kriegsverbrechen nicht legitimiert? Die palästinensische BDS-Kampagne sagt, dass Israelische Künstler problemlos auftreten können, wenn sie oder das Konzert nicht vom israelischen Staat gesponsert werden.

Wird der Dialog zwischen der israelischen und der deutschen Kultur durch solch eine Kampagne nicht grundsätzlich erschwert?

Wenn wir über die Verhinderung von Dialog sprechen, muss ich erwähnen, dass die meisten Jüd*innen und Israelis, die zuletzt in Deutschland nicht auftreten oder sprechen durften, nicht durch BDS boykottiert wurden. Es waren Unterstützer der israelischen Politik, die sie wegen ihrer Verteidigung von BDS nicht sprechen lassen wollten: Die britische Rapperin Kate Tempest musste ihren Auftritt an der Volksbühne absagen, es wurden Auftrittsverbote für die US-Philosophin Judith Butler und Gideon Levy, Journalist der israelischen Tageszeitung Haaretz, gefordert. Es muss komisch sein für Deutsche, dass selbst hinter BDS wieder Juden stecken...

...Sie wollen jetzt nicht behaupten, Juden seien die bewegende Kraft hinter BDS!

Es war witzig gemeint, aber in den USA und Großbritannien sind Juden in der linken Palästina-Solidarität tatsächlich sehr stark vertreten. Es gibt eine Perspektive linker Juden und Israelis, die Linke in Deutschland nicht hören wollen, und das ist problematisch.

Muss man sich gleichzeitig nicht fragen, wie man eine Bewegung schafft, die die Kritik an der israelischen Politik stark macht, ohne die israelische Gesellschaft zu delegitimieren?

Auf jeden Fall. In Israel aber herrscht Demokratie für die jüdische Bevölkerung und daher trägt sie auch eine bestimmte Mitverantwortung für die Politik seiner Regierung. Es ist ein Problem, dass Israel es schafft, rechtsstaatliche Institutionen und eine Demokratie mit dem krassen Ausschluss eines großen Teils der Landesbevölkerung zu verbinden. Es macht mir Angst, dass die deutsche Rechte diesen Staat als Vorbild entdeckt.

Tatsächlich zeigen sich immer mehr Rechte – darunter Geert Wilders in den Niederlanden und einige Politiker der AfD – solidarisch mit Israel. Ist das nicht nur ein Vorwand, um ihre rechtsradikale Ideologie reinzuwaschen?

Nicht ausschließlich. Ich würde diesen Wandel sehr ernst nehmen. Rechte finden am israelischen Modell Gefallen, das Muslime und Palästinenser ausgrenzt, und sie finden daran Gefallen, die Israelsolidarität für antimuslimischen Rassismus zu nutzen.

Nimmt der Antisemitismus in der Rechten denn wirklich ab? Die Kriminalstatistik erzählt ja eine andere Geschichte.

Die Rechte ist sehr heterogen. Neonazis sind antisemitisch und diese Gewalt nimmt zu, aber Pegida sieht nicht Israel oder Jüd*innen als ihr Hauptproblem, sondern Muslime. Es gibt da eine Verschiebung.

Die Verschiebung findet ja auch innerhalb des Antisemitismus statt. Dieser äußert sich weniger direkt gegen Jüd*innen, als vielmehr in Form von Verschwörungstheorien.

Ja, Verschwörungstheorien nehmen zu – übrigens auch in Israel. Netanjahu hat George Soros seit kurzem als Feindbild entdeckt. Er wirft Soros vor, Flüchtlinge unterstützt zu haben. Der Grund allen Übels, auch in Israel: Soros! Völliger Blödsinn. Soros' Stiftung ist in Israel so gut wie inaktiv.

Halten Sie diese Argumentation Netanjahus für antisemitisch?

Naja, natürlich gibt es Formen verschwörungstheoretischen Denkens in Israel. Aber nicht hinter jeder Verschwörungstheorie verbirgt sich Antisemitismus, nur weil die Nazis die Verflechtung beider Denkmuster auf die Spitze getrieben haben. Gerade in Deutschland ist es schwer, zu entscheiden, wo der Antisemitismus anfängt.

Wieso gerade hier?

Weil Antisemitismus hier zum Glück so weit zurückgeschlagen ist, dass niemand mehr offen auf „die Juden!“ schimpfen darf. Was passiert also? Antisemitismus wird hinter anderen Argumentationen versteckt. Um dagegen vorzugehen, muss man mit Unterstellungen arbeiten. Manchmal trifft die Unterstellung zu, dass es sich bei personalisierter Kapitalismuskritik eigentlich um Antisemitismus handelt. Manchmal aber auch nicht.

Nehmen Sie den Antisemitismus in Verschwörungstheorien als weniger gefährlich wahr als primären Antisemitismus?

Das kann ich schwer einschätzen. Aber dass Antisemitismus nicht mehr offen geäußert werden darf, finde ich gut. Im Gegensatz zu antimuslimischem Rassismus: dieser wird immer offener geäußert.

Wollen Sie die Gefahr von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus jetzt gegeneinander aufwiegen?

Nein. Aber wir müssen schon sehen, dass die gesellschaftliche Macht von Muslimen in diesem Land gen Null geht. Wir sprechen hier über fünf Prozent der Bevölkerung, von denen viele nicht einmal wählen dürfen, oder sogar keinen sicheren Aufenthaltstitel haben. Es ist ihnen überhaupt nicht möglich, mich als Juden in der Arbeitswelt oder bei der Wohnungssuche zu diskriminieren.

Bei Antisemitismus von Muslimen geht es meist um Straßengewalt.

Ja, so ein Vorfall macht Schlagzeilen - zurecht. Den alltäglichen Rassismus gegen Muslime zu skandalisieren, ist aber schwieriger. Wie viele Palästinenser schreiben in Deutschland in Zeitungen? Oder werden interviewt, jenseits ihrer Rolle als aufgebrachte Demonstranten? Ich werde viel stärker als Mensch wahrgenommen als sie. Ja, jetzt fragen Sie, warum ich den Vergleich doch mache.

Warum machen Sie diesen Vergleich jetzt doch?

Weil ich den Eindruck habe, dass die rassistische Bedrohung in Deutschland gefährlich wird. Muslime und Geflüchtete sind ernsthaft in Gefahr. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass der Kampf gegen Antisemitismus instrumentalisiert wird für die Unterdrückung dieser Minderheit. Deshalb müssen wir beides bekämpfen: Antisemitismus – und Rassismus.

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