Die Würde des arbeitenden, geimpften Menschen ist unantastbar

Corona Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, will ungeimpften Arbeitslosen die Leistungen sperren. Ein Fall für den Verfassungsschutz?
Ausgabe 05/2022
Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele
Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele

Foto: photothek/IMAGO

Es gab eine Zeit, da wurde ernsthaft darüber diskutiert, die Hartz-IV-Sanktionen abzuschaffen. Zugegeben, sie dauerte nicht lang und die Debatte war nicht sehr laut, aber: Die Grünen wollten sie abschaffen und das Bundesverfassungsgericht dachte auch sehr laut darüber nach, ob sie überhaupt verfassungskonform seien. Das war 2019, als Karlsruhe zu einem sehr abwägenden Ergebnis kam: Manche der Sanktionen seien durchaus verfassungswidrig, und zwar jene, die den Bürger*innen das Existenzminimum gänzlich entzögen. Das heißt: Sanktionen von 100 Prozent sind verfassungswidrig. Wenn jetzt der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, darüber sinniert, Ungeimpften nach Einführung einer Impfpflicht die Auszahlung von des Arbeitslosengeldes eine Zeitlang gänzlich zu sperren – dann sinniert er damit öffentlich über einen Verfassungsbruch.

Bevor der Verfassungsschutz Scheele jetzt ins Visier nimmt, sollte er sich vermutlich das Karlsruher Urteil genauer anschauen. Denn die Richter*innen urteilten auch: Der Gesetzgeber darf von den Hartz-IV-Beziehenden fordern, aktiv daran „mitzuwirken“, einen Job zu bekommen. Und der Gesetzgeber darf Sanktionen verhängen darf, wenn Leute das nicht tun. Diese dürfen lediglich nicht zu weit gehen. Heißt: Kürzungen von 30 Prozent sind unter bestimmten Bedingungen in Ordnung.

Scheeles Begründung spricht genau diese Sprache der Agenda 2010: Wenn eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht eingeführt würde, und wenn Arbeitgeber dann gesetzlich in der Lage seien, ungeimpfte Bewerber abzulehnen – dann müssten „auch wir als Bundesagentur (...) prüfen, ob eine fehlende Impfung zu einer Sperrzeit führt.“ Ob sich diese Sperrzeit auf das Arbeitslosengeld I oder auf Hartz IV bezieht, führt Scheele nicht aus. Doch genau genommen handelt es sich bei einer ausgebliebenen Impfung um eine ausbleibende „Mitwirkung“ an der Jobsuche – ein Grund für eine Sanktionierung vor allem bei ALG-II-Empfängern.

Nun ist ja bekannt, dass der Verfassungsschutz sich nur jene Verfassungsfeinde genauer ansieht, die der Apparat gerade für solche hält. Das waren jahrelang Linksradikale inklusive einiger Mitglieder der Linkspartei, nach mehreren rechten Anschlägen wurden es dann auch mal Rechtsextreme, aber die Verantwortlichen für die Auszahlung des Existenzminimums gehören wohl bis heute nicht dazu.

Die Menschenwürde liegt bei 449 Euro

Vielleicht sollte sich der Verfassungsschutz aber auch mal mit dem Bundesverfassungsgericht selber befassen. Denn warum die Verfassungsrichter*innen zu dem Ergebnis kommen, dass Hartz IV zwar das Existenzminimum darstellt – eine Annahme, die von Sozialverbänden seit Jahren angezweifelt wird, und die mit den derzeit steigenden Preisen erst recht fragwürdig wird –, wenn also der Regelsatz von 449 Euro dazu führt, dass ein Mensch in Würde existieren kann, dann folgt daraus unweigerlich, dass er von weniger Geld nicht mehr in Würde leben kann. Jede Sanktion, wenn auch nur in Höhe von fünf Euro, müsste damit doch logischerweise gegen die Verfassung verstoßen. Aber dass die Würde des Menschen nur dann wirklich schützenswert ist, wenn dieser Mensch sich darum bemüht, seine Arbeitskraft gegen Geld zu verkaufen, damit scheint sich diese Gesellschaft mitsamt ihrer Verfassung schon abgefunden zu haben.

Noch gibt es keine allgemeine Impfpflicht, und noch hat die Ampel nicht verkündet, wie sie die Sanktionen neu regelt, und bald ist Detlef Scheele in Rente und Andrea Nahles neue Chefin der Arbeitsagentur, es ist also noch einiges offen. Vielleicht hat Herr Scheele der Impfpflicht-Debatte ja einen guten Dienst erwiesen: Indem er gezeigt hat, dass sie letztendlich, am armen Ende der Gesellschaft, die Würde des Menschen untergräbt.

Vielleicht ist diese Gesellschaft mitsamt ihrer Verfassung aber inzwischen auch dabei, sich damit abzufinden, dass die Würde des Menschen nur dann wirklich schützenswert ist, wenn dieser Mensch sich gegen ein inzwischen beinahe zur Grippe herabmutiertes Virus impfen lässt. Dann sollten wir das Grundgesetz bald umschreiben in: „Die Würde des arbeitenden oder sich um Arbeit bemühenden, geimpften Menschen ist unantastbar“.

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Geschrieben von

Elsa Koester

Redakteurin „Politik“, verantwortlich für das Wochenthema

Elsa Koester wuchs als Tochter einer Pied-Noir-Französin aus Tunesien und eines friesischen Deutschen in Wilhelmshaven auf. In Berlin studierte sie Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach einigen Jahren als selbstständige Social-Media-Redakteurin absolvierte sie ihr Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland. Seit 2018 ist sie Redakteurin für Politik beim Freitag, seit 2020 für das Wochenthema und die Titelseite zuständig. Sie schreibt am liebsten Reportagen von den Rändern der Republik und beobachtet mit großer Spannung die Umgestaltung des politischen Systems im Grünen Kapitalismus.

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