Das Labor

Thüringen Im Freistaat muss Bodo Ramelow einen demokratischen Umgang mit der Pandemie finden. Nicht das schlechteste Verfahren in Zeiten der Unsicherheit
Ausgabe 22/2020
Ramelow macht, was Ramelow will
Ramelow macht, was Ramelow will

Foto: Imago Images/Jacob Schröter

Bodo Ramelow ist ein radikaler Pragmatiker. Es gibt keine Mehrheit für Rot-Rot-Grün? Regiert man eben mit CDU-Tolerierung. Virologen sagen, ohne Lockdown könnte es in Thüringen 60.000 schwerste Corona-Fälle geben? Macht man eben den Lockdown. Es gibt in der Hälfte aller Landkreise seit drei Wochen keine Neuinfektionen mehr? Hört man eben mit dem Lockdown wieder auf.

Den Vorstoß des linken Ministerpräsidenten zur Lockerung verdammten bundesweit viele jedoch als populistisch: Die AfD fordert das Ende der Maßnahmen? Ramelow lässt sich von ihr vor sich hertreiben, 2021 sind ja Neuwahlen! Dass in Zeiten der Pandemie Populisten das Letzte sind, was die Bevölkerung gebrauchen kann, zeigt die Entwicklung in den USA und Brasilien. Doch Ramelow ist kein Trump und Thüringen ist nicht Amerika. Regierungspolitik in einer politisch sehr komplexen Gemengelage anzuführen, ist Ramelow seit 2014 gewohnt. Erst das politische Erbe aus 24 Jahren CDU-Regierung. Dann der Sommer der Migration. Die AfD. Der Dammbruch eines AfD-gestützten FDP-Ministerpräsidenten, die Rückeroberung der Regierung. Und dann: Corona.

Selbst wenn Ramelow dafür wäre, von heute auf morgen sämtliche Maßnahmen fallen zu lassen: Er könnte es nicht entscheiden. Er muss sich einigen, erst mit SPD und Grünen in der Koalition. Dann mit der CDU, auf deren Unterstützung die Regierung im Parlament angewiesen ist – aktuell bei der Verabschiedung der Corona-Hilfen. In Thüringen wird der Ministerpräsident zur Demokratie gezwungen, das bedeutet auch: zur Debatte. Hämisch heißt es nun, er sei „zurückgerudert“. Soll ein Politiker einen politischen Vorschlag etwa nicht per Debatte prüfen und präzisieren?

Der nun präzisierte Vorschlag heißt: Man geht vom Krisenmodus in einen Regelmodus über, der dauerhaft aushaltbar ist. Das Gesundheitsamt wird gestärkt, damit es Infektionsketten besser nachvollziehen kann. Ramelow will regional agieren, also dort, wo das Virus grassiert, wie in den Pflegeheimen und Krankenhäusern der Thüringer Hotspots Greiz oder Sonneberg – und nicht in Erfurt oder Jena, wo es nicht grassiert. Ab 35 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner sollen Notfallmaßnahmen eingeleitet werden. Die Maskenpflicht wird beibehalten – aber branchen- und situationsspezifisch.

Die Einwände: Wenn es lokal einen Ausbruch gibt, erkennt man ihn erst zehn bis 14 Tage später – eine Zeit, in der sich infizierte Menschen bewegen, etwa nach Erfurt. Die Gefahr einer zweiten Welle ist real. Andererseits: Die Gefahr der Krisen von Wirtschaft und, nicht zu vergessen, Demokratie ist auch real. Ramelow hatte bereits einen cowboygestiefelten FDP-Ministerpräsidenten von AfD-Gnaden vor seiner Nase. Höckes Partei hat hier 23 Prozent und macht sich daran, die Corona-Krise zu nutzen.

Der Pragmatiker wägt diese Risiken ab, und er schlägt seinem Kabinett den Weg vor, den er für den vernünftigsten hält. Dann muss er durch die Debatte. Das ist Demokratie, die alle Interessen berücksichtigen und sich gleichzeitig schützen muss. „Mehr Abwägung, mehr Infragestellen, gemeinsames Entwickeln von Entscheidungen statt meinungsstarke Präsenz sollte politische Entscheidungsträger antreiben“, mahnte der Thüringer Linken-Vize Steffen Dittes. Nicht das schlechteste Verfahren in einer Pandemie, von der alle Menschen ganz unterschiedlich betroffen sind. Thüringen bleibt ein Labor. Nicht für das Virus, sondern für den demokratischen Umgang mit ihm.

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Geschrieben von

Elsa Koester

Redakteurin „Politik“, verantwortlich für das Wochenthema

Elsa Koester wuchs als Tochter einer Pied-Noir-Französin aus Tunesien und eines friesischen Deutschen in Wilhelmshaven auf. In Berlin studierte sie Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach einigen Jahren als selbstständige Social-Media-Redakteurin absolvierte sie ihr Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland. Seit 2018 ist sie Redakteurin für Politik beim Freitag, seit 2020 für das Wochenthema und die Titelseite zuständig. Sie schreibt am liebsten Reportagen von den Rändern der Republik und beobachtet mit großer Spannung die Umgestaltung des politischen Systems im Grünen Kapitalismus.

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