Zementierte Ungleichheit

Immunitätsausweis Wer die Infektion überstanden hat, darf wieder arbeiten? Im Post-Corona-Kapitalismus ist die wertvollste Ressource der Antikörper
Ausgabe 19/2020
Auch vor dem Elektronenmikroskop sind nicht alle gleich
Auch vor dem Elektronenmikroskop sind nicht alle gleich

Foto: Imago Images/ZUMA Wire

Noch nie war der öffentliche Raum ein freier Ort. Wer glaubt, auf einem städtischen Platz frei zu sein, ist vermutlich: männlich, wenn er des Nachts noch nie auf Plätzen sexuell belästigt wurde; weiß, wenn man noch nie von der Polizei kontrolliert wurde; ohne körperliche Beeinträchtigung, wenn alle Bürgersteige zugänglich sind; mit Dach über dem Kopf, wenn Parkbänke als stets frei nutzbare Flächen erscheinen. Kritische Geografinnen beschäftigen sich mit den feinen Unterschieden der Bewegungsfreiheit im Raum. Nun kommt noch eine Unterscheidung hinzu: die zwischen Immunen und Nicht-Immunen.

Vergangene Woche verabschiedete das Kabinett einen Gesetzentwurf, in dem ein Immunitätsausweis vorgesehen war – ein Dokument darüber, wer Antikörper gegen Corona im Körper trägt, und wer nicht. Gleichzeitig sollten Menschen, die auch nur „krankheitsverdächtig“ sind, dazu verpflichtet werden können, „bestimmte Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten“.

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) musste diese Pläne jedoch schnell wieder zurückstellen, zu scharf war die Kritik: Die Weltgesundheitsorganisation WHO mahnte, es sei keineswegs gesichert, dass mit überstandener Infektion eine dauerhafte Immunität einhergehe. Der Bundesdatenschutzbeauftragte warnte, Gesundheitsdaten dürften auf keinen Fall zu Diskriminierung führen. Und die Opposition sowie der Koalitionspartner SPD kritisierten, solch ein Ausweis könne Anreize dafür schaffen, sich mit dem Virus extra anzustecken, um in die privilegierte Gruppe der freien Immunen zu gelangen. Spahn hat nun den Deutschen Ethikrat um eine Stellungnahme gebeten.

Damit ist die Debatte nicht vom Tisch. In Großbritannien wird bereits an einer App gebastelt, die über eine Verbindung von Pass, Gesichtserkennung und Gesundheitsamt einen grünen Haken auf das Smartphone zaubert, den der Arbeitgeber abfragen kann. Auch Chile führt ein „Carnet Covid-19“ ein.

Der Druck, Menschen möglichst schnell wieder „frei“ zu bekommen, entsteht nicht aus purer Freiheitsliebe, sondern aus wirtschaftlichen Bedarfen: Corona-immune Menschen sind Arbeiterinnen, auf die Unternehmen zählen können, weil sie niemanden mehr anstecken können. Arbeitsfähige Menschen. Wie man auf dem Markt dem Esel ins Maul schaute, um an seinen Zähnen zu sehen, wie gut er noch arbeiten kann, so könnte bald im Blut nachgeschaut werden, wie frei ein Mensch arbeiten kann.

Der Druck, arbeiten zu müssen, ist dabei keineswegs gleich verteilt. Wer dringend Geld braucht, muss dringender durch die Krankheit gehen. Wer am stärksten unter der Isolation leidet, wird sich am ehesten anstecken wollen. Gegenden, in denen das Virus stark grassierte, könnten zu begehrten Unternehmensstandorten werden. Und der Osten wird weiter abgehängt: kaum Fälle, kaum Immunität, ein Unternehmensrisiko. Eine neue Ungleichheitsverteilung droht sich abzuzeichnen. Antikörperbesitzende gegen Antikörperlose.

Als das Land heruntergefahren wurde, sahen manche darin die Chance, die Wirtschaft neu zu gestalten. Nach den Prinzipien der Bedürfnisse, der Fürsorge, der Nachhaltigkeit. Die Debatte über den Immunitätsausweis zeigt dagegen: Es geht vor allem darum, an alten Prinzipien festzuhalten. Die Wirtschaft orientiert sich nicht an der Gesundheit, sondern die Bedarfe der Wirtschaft durchziehen die Körper stärker als zuvor. Wichtigste Ressource im Postcorona-Kapitalismus wird dann: der Antikörper.

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