Der Stream in uns

Kontra Das Smartphone ist längst Teil unseres Körpers geworden. Abschaffen geht nicht, die Frage ist eher: Was kommt danach?
Ausgabe 39/2019
Der Stream in uns

Illustration: Christian H. Bobsien für der Freitag

Weg damit? Unser Autor Michael Jäger fordert einen Verzicht auf etwas, das vielen unverzichtbar erscheint: unsere Smartphones. Wegen der ökologischen Kosten, aber nicht nur. Elsa Koester hält dagegen

Charlie Chaplin wird nicht nur von der Maschine verschluckt in Modern Times. Klar, sie zieht ihn über das Fließband in ihr Inneres und verdaut den kleinen Mann zwischen ihren Zahnrädern, aber es passiert noch etwas ganz anderes. Vorher schon. Charlie kann nicht aufhören, diese Bewegungen zu machen, zack, zack, dreht er seine Schrauben weiter in der Luft, zack, er kann die Bewegung nicht mehr kontrollieren, erst bewegt sein Körper die Maschine, dann wird er von ihr gefressen. Und dann wird er selbst zur Maschine. Er und die anderen. Zack, zack, schraubt er die Nippel des Kollegen an.

Modern Times wurde 1936 gedreht, zu einer Zeit, als sich die Ängste vor der Industrialisierung zu bewahrheiten drohten. Die Apokalypse wurde schon von den Expressionisten befürchtet, die rasenden Autos, der schnelle Takt in den Städten, diese enormen Maschinen, monströs, das alles führt zum Weltuntergang, befürchteten sie, das wird die Menschheit fressen, und wirklich, dann kam es erst zum kleinen Weltuntergang. Und dann zum großen.

Auch jetzt können Menschen nicht mehr aufhören, diese Bewegung zu machen. Sie haben sie nicht mehr unter Kontrolle. Die Hand in die Tasche, zack, das Smartphone rausziehen, zack, und dann: wisch, wisch. Auf den Knopf drücken, zack, wieder in die Hosentasche. Und wieder raus. Wisch, wisch. Wieder droht die Apokalypse, diesmal anders. Das Smartphone frisst seltene Erden, die von Kindern in Minen abgebaut werden. Das mobile Streaming stößt bald so viel CO₂ aus wie der Flugverkehr. Das Fliegen, die Just-in-time-Produktion, die digitale Verflüssigung sämtlichen Arbeitens, all das produziert nicht nur Waren und Identitäten, sondern auch enorm viel CO₂: weil die Digitalisierung sich keineswegs von der Kohle- und Erdölbasis verabschiedet hat, auf der sich schon die Industrialisierung entwickelte.

Die schöne glatte Glasfläche, wisch, wisch, ist also dreckig. Wäre es also nicht vernünftig, die Dinger einfach wieder abzuschaffen? Kann man nicht das Internet anders „nutzen“, ohne Wisch-wisch: von zu Hause? Oder von unterwegs, eingeloggt an mobilen Säulen überall auf den öffentlichen Plätzen? Wie früher – Telefonzellen?

Das Problem ist, dass wir das Internet nicht „nutzen“ wie ein externes Werkzeug, das man einfach weglegen kann. Wir bewegen uns längst nicht mehr durch die echte Welt und surfen dabei manchmal gleichzeitig im Netz; wir strömen stets durch das Netz, und das Netz strömt durch uns, und gleichzeitig strömen wir durch die Straßen. Wir sind an mehreren Orten gleichzeitig, immer: bei unserer Freundin auf der anderen Welthalbkugel; bei einem Job drei Länder weiter; dort, wo Bekannte gerade ein Foto von meinem Essen kommentieren; und dann auch hier, wo wir uns gerade körperlich befinden. Längst ist das Smartphone ein Teil des Menschen, eine Verlängerung des menschlichen Körpers. Transhumanismus ist keine Science-Fiction und war es nie: Jede Erfindung hat den Menschen biologisch verändert. Bis ins Gehirn. Das gilt auch für das Internet und für das Smartphone: Es macht süchtig, weil durch seine Nutzung bestimmte Botenstoffe ausgestoßen werden; es ändert das Gehirn physisch. Durch das Smartphone denken wir nicht nur anders – wir sind anders.

Mein Posting, das bin ich

Die Nachrichten strömen durch den Menschen, und der Mensch strömt durch die Nachrichten. Es gibt keine Grenze mehr zwischen Arbeit und Freizeit, Produzieren und Reproduzieren: Produziert werden Identitäten, die ganze Zeit, man produziert sich mit jeder Nachricht, jedem Posting neu, konsumiert Nachrichten nicht mehr – sie produzieren in den Individuen Reaktionen, Wissen, Gefühle, die in derselben Bewegung wieder herausgeströmt werden, in das Netz. Das ist vielleicht gar nicht so neu. Das war vielleicht nie anders.

Der französische Marxist Michel Aglietta hat für den Zusammenhang von Produktionsweise, gesellschaftlicher Organisation und der Art, wie das uns als Subjekte formt, die Regulationstheorie entwickelt: Ein bestimmtes Stadium der kapitalistischen Entwicklung, etwa die Massenproduktion im Fordismus, geht mit bestimmten Konsum- und Lebensweisen sowie Denkformen einher, etwa dem Leitbild der heterosexuellen Kleinfamilie mit Familienauto vor der Tür. Zu diesen Denkformen gehört auch die Art, wie wir uns selbst wahrnehmen, sehen, unsere Bewegung, unser Begehren, unser Arbeiten, unser Ich.

Das „Internet für zu Hause“ wäre in dieser Theorie Ausdruck des Übergangs vom Fordismus in eine neue Phase: Es folgt bereits der individualisierten Netzwerklogik, hängt aber noch am Kleinfamilien-Haus als Organisationseinheit. Mit zunehmender Verflüssigung der Produktionsweise zerfiel jedoch auch diese Einheit, das Individuum allein wurde zum Knotenpunkt der Netzwerke. Die Gesellschaft wurde zur Fabrik, schrieb der italienische Postoperaist Toni Negri. Alles verflüssigte sich. Die Fabrik läuft inzwischen durch uns hindurch, die Fließbänder fließen durch uns, Identitäten verflüssigen sich, Geschlechter, Begehren, soziale Netze, alles wird stetig neu produziert, variiert. Wir sprechen vom Postfordismus, obwohl schon der Name zeigt, dass es eine Hilfskonstruktion ist.

Illustration: Christian H. Bobsien für der Freitag

Streaming übt heute eine zentrale Funktion aus: Nicht nur Waren strömen, auch die Individuen strömen. Als 2015 so viele Geflüchtete Deutschland erreichten, war für rechte Grenzschließer insbesondere das Smartphone ein Dorn im Auge. Ein Zeichen von Luxus, wurde moniert: Kann mir keiner erzählen, dass die vor Krieg oder Armut flüchteten, wenn sie ein Smartphone haben. Das Smartphone ist genau das richtige Hassobjekt für Grenzschützer. Sie haben recht. Es ist das Smartphone, das es Menschen erlaubt, zu fließen, durch Länder hindurch, über das Mittelmeer, über Grenzen. Durch das Smartphone kontaktieren Menschen Schleuser, bleiben in Kontakt mit der Familie, lesen von Angela Merkel und Carola Rackete, navigieren durch die Welt. Das Smartphone hält sich per se nicht an Grenzen: Durch das Tool fließt das Netz durch uns, und wir durch das Netz.

Das Smartphone abzuschaffen, hieße, Grenzen wieder dicht zu machen: zwischen uns und der Welt. Es hieße, unser Denken zu ändern, Ströme im Gehirn zu kappen, umzuleiten, es hieße, Bewegungen neu zu lernen, Gesellschaft neu zu organisieren, weg vom Strömen, hin zu – was? Zu einer wieder zentral organisierten Gesellschaft? Zentral geplant von den vielen „zu Hause“ aus, von den nationalen Einheiten, den lokalen Einheiten aus?

Es hieße, die Produktionsweise zurückzuschrauben, die Gesellschaft umzuorganisieren, und die damit einhergehende Form der Subjektivierung. Es hieße, den Menschen neu zu erfinden. Zu entkoppeln von der Cloud, den globalen Waren- und Identitätsströmen. Vom Streaming. Was für ein Mensch entsteht, wenn er nicht mehr strömt? Gibt es ein Zurück zum lokal verwurzelten Menschen? Fühlt sich der Mensch der Postwachstums-Zukunft mehr wie ein unbeweglicher Baum statt wie ein Twitter-Vogel?

Sind die Grenzen der Dezentralisierung, der Verflüssigung der postfordistischen, digitalisierten Produktionsweise tatsächlich erreicht, und wenn ja, gibt es ein Zurück? Aglietta beobachtete, dass der Kapitalismus sich stets krisenhaft weiterentwickelt – die 1968er waren Ausdruck solch einer Krise, einer Transformation vom Fordismus zum Postfordismus. Und jetzt? Kommt das Postwachstumsregime oder der grüne Kapitalismus? Können wir uns demokratisch entscheiden, welchen Weg wir einschlagen wollen? Schmeißen wir das Smartphone, die Flugzeuge aus Klimavernunft weg und rekollektivieren, relokalisieren die Lebensweise?

Bislang wurde kein Akkumulationsregime je abgewählt. Eher gerät der Kapitalismus in die Krise und sucht sich neue Akkumulationsfelder. Wir können jedoch unsere Identität als strömende, postfordistische Subjekte nicht einfach ablegen und das Smartphone ins Meer schmeißen. Also: Können wir doch. Aber wir werden dann andere Menschen.

Das Smartphone bin ich, ich bin das Smartphone. Die Vorstellung, nicht mein eigenes, individuelles Smartphone zu haben, sondern mich wieder irgendwo an öffentlichen Geräten einzuloggen: unmöglich! Als würde jemand vorschlagen, einen Teil meines Gehirns zu vergesellschaften und stattdessen öffentlichen Hirnspeicher zu nutzen. Viel zu intim. Durch das Smartphone fließt mein Leben in mich und wieder aus mir heraus.

Charlie Chaplin konnte sich nicht vorstellen, dass seine Schraubbewegung, zack, zack, eines Tages zu einem Wisch-wisch werden würde. Genau wie wir noch keine Vorstellung davon haben, was unseren Körpern in einer Zukunft ohne Wisch-wisch widerfahren wird. „Wir werden uns von Fünf-Zoll-Glas in der Hand, mit dem wir durch die Gegend laufen, lösen und wieder aufrecht gehen“, sagte Alexander Lautz, Senior Vice President für 5G bei der Deutschen Telekom, auf einer Konferenz die Zukunft voraus. Er sprach über die Abschaffung des Smartphones. Aber nicht über die Abschaffung des Streamings – mit 5G, sagt Lautz, kommen die smarten Brillen. Vielleicht zucken bald also nicht mehr unsere Hände, sondern unsere Augen. Die Frage ist: Müssen sie dabei zwingend CO₂ ausstoßen?

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