Nun sag, wie hast du's mit der Polizei? Und mit den Linksradikalen? Wie so oft scheint auch nach der Silvesternacht in Connewitz die Diskussion wieder in eine Identitäts-Gretchenfrage zu münden. Rechte und Konservative verurteilen die Gewalt, die in Leipzig in der Silvesternacht von „Linksradikalen“ an Polizisten verübt worden sein soll; Linke kritisieren die Polizei selbst. Wer solidarisiert sich mit wem? Auf welcher Seite stehst du? Die Twitter-Debattenkultur dümpelt also ins Jahr 2020. Doch dann meldet sich am Freitag Saskia Esken zu Wort – und bringt eine wahrhaft linke Sicht in die Diskussion. Nicht, weil sie sich „mit der linken Seite“ solidarisierte. Oder sich gegen „die Seite der Polizei“ stellte. Sondern weil sie staatliches Handeln hinterfragt. Und damit den politischen Raum öffnet.
Doch eins nach dem anderen. Zunächst ist die öffentliche Auseinandersetzung mit den Vorkommnissen im Leipziger Stadtteil Connewitz durch eine Reihe von Versagen gesellschaftlicher Akteure schon auf einem grottigen Niveau gestartet. Am 1. Januar um 04:42 Uhr vermeldete die Pressestelle der Polizei Leipzig einen Angriff auf Polizeibeamte aus einer Menschenmenge der linken Szene heraus mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern. Ein Einkaufswagen sei in eine Gruppe Polizisten geschoben worden, ein 38-jähriger Beamter sei angegriffen und dabei so schwer verletzt worden, dass „er das Bewusstsein verlor und im Krankenhaus notoperiert werden musste“. Die SoKo LinX ermittele wegen versuchten Totschlags.
Diese Meldung wurde im Verlauf des 1. Januar von verschiedenen Medien aufgenommen, die BILD übernahm die Pressemitteilung der Polizei größtenteils wörtlich. Zu diesem Zeitpunkt hatten also schon zwei wichtige gesellschaftliche Organe versagt: Das Exekutivorgan Polizei versagte dabei, eine angemessen gut recherchierte Pressemitteilung über den Fortgang der Geschehnisse zu verfassen, denn wie die taz erst zwei Tage später aufdecken konnte, wurde der verletzte Polizist nicht notoperiert. Auch andere Details in der öffentlichen Polizeimeldung stimmten nicht mit Berichten von Augenzeugen sowie Bildmaterial aus der Nacht überein, so ist am Freitag noch fraglich, ob dem verletzten Polizisten der Helm „abgerissen“ wurde oder er ihn schlicht nicht aufgesetzt hatte, und der zum Polizeiwagen umgebastelte Einkaufswagen wurde nach Aussagen von Zeugen lediglich auf die Kreuzung geschoben, nicht in die Polizisten hinein.
Das gesellschaftliche Informations- und Kontrollorgan Presse versagte am 1. Januar ebenfalls, als es die Pressemitteilung der Polizei unkritisch als sichere Quelle übernahm – ein Vorgang, der bereits nach den G20-Protesten 2017 in Hamburg und nach den Vorkommnissen in einer Geflüchtetenunterkunft 2018 in Ellwangen stark kritisiert wurde. Denn schon bei diesen beiden Vorfällen übernahm die Presse unkritisch Meldungen der Polizei, die sich erst Tage, teils erst Wochen später in wesentlichen Punkten als Fehlinformation herausstellen sollten. Erst am 2. Januar ging die taz der Aufklärungspflicht der Presse nach und zitierte Krankenhauskreise, nach denen der verletzte Polizist sich keiner Notoperation unterziehen lassen musste. Er sei an der Ohrmuschel behandelt wurden, unter lokaler Betäubung. Lebensgefahr oder drohender Gehörverlust hätten nicht bestanden. Auch in den Pressemitteilungen der Polizei vom 2. Januar verschwand die Notoperation. Da ermittelte die Polizei jedoch bereits wegen „Mordverdacht“.
„Die Politik“ setzt Eskalation fort
Auf Basis der Fehlinformation über den Hergang der Silvesternacht hatte sich längst eine Debatte entsponnen, an der sich mehrere Politikerinnen beteiligten – und damit versagte ein drittes gesellschaftliches Organ, wenn es das so gibt: „die Politik“, die nicht in der Lage war, die mangelnde Grundlage der Debatte als solche zu erkennen und zunächst auf Aufklärungsarbeit zu beharren. Stattdessen führten Politiker die Eskalation fort. Horst Seehofer sagte, menschenverachtende Gewalt gehe auch von „Linksextremisten“ aus: „Wir müssen geschlossen hinter unseren Polizeibeamten stehen, die sich jeden Tag aufs Neue für unsere Sicherheit einsetzen.“ Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DpolG), Rainer Wendt, fühlte sich gar an die Anfänge der RAF erinnert: „Diese Attacken offenbaren klar die Handschrift linksextremer Kreise und erinnern in Zielsetzung und Ausführung fatal an die Ausbildung linksterroristischer Strukturen in den 70er Jahren“. Der Vizepräsident des Bundestages und frühere Bundesinnenminister, Hans-Peter Friedrich (CSU), schrieb auf Twitter, nehme man alle Informationen zusammen, sei "die hässliche Fratze des Linksterrorismus" erkennbar.
Alle Informationen. Die zu dem Zeitpunkt zur Verfügung standen. Doch um Informationen ging es am 1. und 2. Januar noch gar nicht: Es ging in der Debatte darum, wer auf welcher Seite steht. Die oben zitierten konservativen Politiker: auf Seite der Polizei. Was für eine Überraschung! Und auf „der anderen“, der Seite der „gewaltbereiten Linksradikalen“? Auf diese Seite wurde bislang lediglich die Linke sächsische Landtagsabgeordnete Julia Nagel gestellt, die auf Twitter die Polizeipräsenz schon vor Silvester im linken Stadtteil Connewitz als „kalkulierte Provokation“, das Vorgehen der Polizei in der Nacht als „ekelhafte Polizeigewalt“ bezeichnete. Schon sie verwies auf die Umstände der Geschehnisse, aber ernst genommen wurde ihr Anliegen nicht: Eine Linke gegen die Polizei, so die Erzählung. Eine sehr fruchtbare Debatte.
Da glaubt noch eine an Politik
Und dann also schaltete sich die neue SPD-Vorsitzende ein: „Im Sinne der Polizeibeamten muss jetzt schnell geklärt werden, ob die Einsatztaktik angemessen war“, lässt Saskia Esken verlauten, auf Twitter und gegenüber der Funke Mediengruppe. Sollte eine falsche Einsatztaktik die Polizistinnen und Polizisten „unnötig in Gefahr gebracht haben“, liege die Verantwortung dafür beim sächsischen Innenminister Roland Wöller (CDU). Hä? Auf welcher Seite steht Esken denn jetzt? Auf Seiten der Linken, weil sie die Polizei kritisiert? Oder auf Seiten der Polizei, weil sie eine Einsatztaktik in Frage stellt, die Polizisten in Gefahr bringt?
Drei Tage nach den Auseinandersetzungen zwischen Linksradikalen und Polizisten in Connewitz meldet sich die eine Politikerin zu Wort, die sich nicht auf eine Seite stellt, sondern überlegt, welches politische Handeln zu den Vorfällen geführt haben könnte und welches politische Handeln solche Vorfälle verhindern könnte. Natürlich greift sie dabei die CDU an – inhaltlich. Und genau das eröffnet ganz neue Möglichkeiten: Man könnte ja über Politik diskutieren! Über Sicherheitspolitik, über Polizeipolitik, über Einsatztaktiken. Zum Beispiel über eine Taktik der Deeskalation, die in Berlin Kreuzberg Verletzungen an Menschen – behelmt oder nicht – reduziert hat. Eine Politikerin, die über Politik sprechen will, statt über das dunkle, gefährliche, tiefste Innere von entweder Polizisten oder Linksradikalen zu lamentieren? Eine Politikerin, die davon ausgeht, dass man menschliches und gesellschaftliches Verhalten beeinflussen, ändern kann – und zwar durch Politik? Wahnsinn.
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