„Die Geschichte vom Mobbing ist eine Lüge“

Interview Katja Kipping findet, dass Politik zu oft als Soap-Opera vermittelt wird – und den Niedergang von „Aufstehen“ tragisch
Ausgabe 13/2019

Der Freitag: Frau Kipping, bei Markus Lanz haben Sie gesagt, dass Sie zu Hause Trampolin springen, wenn Sie wütend sind ...

Katja Kipping: Das Trampolin habe ich mir gekauft, weil es für den Rücken und die Gelenke gut ist – um Sport zu machen. Aber ich habe auch gemerkt, dass es manchmal hilft, wenn ich mich ärgere. Das kam in den vergangenen zwei Jahren ab und zu vor.

Sahra Wagenknecht tritt nicht mehr als Fraktionsvorsitzende an. Als Grund nennt sie Überlastung, auch Zermürbung durch interne Konflikte. Sind auch Sie mürbe?

Inhaltliche Konflikte in Parteien sind normal und manchmal auch zermürbend. Ich selbst kämpfe immer dafür, dass auch Meinungen in der Linken geäußert werden können, die gegen eine Mehrheitsmeinung stehen. Und dass um Mehrheiten offen gerungen werden kann. Was mir im Konflikt aber sehr nahe gegangen ist, war die Mobbing-Lüge.

Wagenknecht schrieb 2017 in einem Brief an die Parteispitze, Ihnen würde es nicht gelingen, „sie über Monate wegzumobben“. Sevim Dağdelen sprach Mitte März erneut von einem „feindseligen Klima“. Sie streiten Mobbing ab?

Die Geschichte vom Mobbing ist eine Lüge. Sie soll Stimmungen schüren. Es ist kein Zufall, dass sie über die Boulevardpresse immer wieder im Vorfeld wichtiger Entscheidungen aufgewärmt wird: Etwa 2018 vor der Wiederwahl von Bernd Riexinger und mir auf dem Leipziger Parteitag. Statt Gegenkandidaten ins Feld zu führen und den Konflikt um den Kurs der Partei offen zu führen, sollte offenbar verhindert werden, dass wir wiedergewählt werden. Für den Fall, dass ich in den zweiten Wahlgang muss, hatte ich schon meine Rede in der Tasche. Die Partei hat sich in Leipzig aber inhaltlich und personell klar für uns entschieden. Jetzt ploppt das Ganze wieder auf, um die Gespräche an der Spitze von Fraktion und Partei zu beeinflussen. Das überrascht mich nicht.

Wann wird die Spitze denn neu bestimmt?

Sahra, Bernd, Dietmar und ich sind uns einig: Wir gehen mit gesammelten Kräften in die Europawahlen. Nach dem 26. Mai verständigen wir uns auf ein Datum für die Fraktionsklausur: vor der Sommerpause – oder im Herbst.

Der Machtkampf geht bis dahin also weiter? Worum dreht er sich?

Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Linke auf den Rechtsruck reagieren sollte. Dafür war ich eine Projektionsfläche. Die Medien haben da eine große Rolle gespielt: Ein politischer Konflikt wurde als Seifenoper inszeniert. Ich kann gut damit leben, wenn ich dafür angegriffen werde, dass ich in der Migrationspolitik aus Sicht einiger zu sehr auf Grundrechte setze. Aber wenn mir die Möglichkeit genommen wird, über die Substanz des Konfliktes zu reden, dann schafft mich das.

Wird es nach Wagenknechts Rückzug für Sie einfacher, politische Konflikte in der Partei zu bearbeiten?

Das haben wir bereits Ende letzten Jahres geschafft, mit dem gemeinsamen Positionspapier von Fraktions- und Parteispitze. Neben vielen Gemeinsamkeiten haben wir einen Dissens festgehalten, den wir so konstruktiv bearbeiten können: Sahra möchte Arbeitsmigration zu allererst begrenzen, und ich möchte Arbeitsmigration vielmehr mit sozialen Standards und Kämpfen um gute Arbeit verknüpfen.

Das klingt gut, aber wie soll das konkret aussehen?

Schauen wir uns nur mal die Situation der osteuropäischen Wanderarbeiter an, die in den Schlachtfabriken arbeiten. Das sind Bedingungen wie unter dem Manchester-Kapitalismus: Sie sind faktisch nicht versichert gegen Arbeitsunfälle oder Krankheitsausfall, sie schlafen in riesigen Hallen und müssen den ganzen Tag bei Tiefkühltemperaturen mit einer Kettensäge Schweine durchsägen. Die Entsenderichtlinie darf kein Freibrief für solche Formen von Ausbeutung sein, hier braucht es gute Arbeitsstandards.

Wieso haben Sie diesen Ansatz nicht öffentlich mit Frau Wagenknecht ausdiskutiert?

Wir haben dazu eine gute Fachkonferenz organisiert. Und es gab mehrere Anfragen großer Zeitungen für solch eine Debatte.

Aber sie fand nie statt?

Ich kann nur sagen, dass ich von meiner Seite aus immer zugesagt habe.

Das klingt, als hätten Sie keine Netzwerke geschmiedet, nie schlecht über Wagenknecht gesprochen. Haben Sie sich immer richtig verhalten?

Wer das von sich behaupten kann, die werfe den ersten Stein.

Wenn es Ihnen um den inhaltlichen Konflikt ging, wieso haben Sie Ihre Position nicht bei Aufstehen eingebracht?

Die Frage wäre ja: Wo genau bei Aufstehen? Bis heute befindet sich Aufstehen ja noch immer in einem Selbstfindungsmodus. Inzwischen haben Mitglieder der Organisation wie Ludger Volmer öffentlich gemacht, dass es offenbar ernsthafte Überlegungen gab, aus Aufstehen eine Partei zu machen, die bei den Europawahlen konkurrierend zu unserer Partei antritt. Das hätte der gesamten Linken geschadet.

Sie haben Aufstehen nie als Chance gesehen?

Ich fand es tragisch, dass Aufstehen zwar die richtigen Fragen stellt, aber leider die falschen Antworten gibt. Für junge Leute lauten derzeit die zentralen Fragen in der Politisierung: Bist du klar für den Klimaschutz? Bist du klar für Flüchtlingssolidarität? Bist du klar gegen rechts? Wenn eine neu entstehende Bewegung in diesen gesellschaftlich heiß umkämpften Konfliktfeldern uneindeutige Signale sendet, dann geht sie an diesen Leuten vorbei, die ja längst in Bewegung sind – etwa bei den Frauenstreiks, den Initiativen der Seebrücke für sichere Fluchtwege oder den Fridays for Future.

Nun stehen Sie weiter an der Spitze, Frau Wagenknecht zieht sich zurück. Haben Sie den nachhaltigeren Umgang mit Konflikten und Stress?

Es wäre unangemessen, wenn ich da Vergleiche ziehe. Ich kann hier nur über meinen Umgang mit Stress sprechen. Als ich Parteivorsitzende wurde, war meine Tochter sieben Monate alt. Unser Stillrhythmus lag bei sechs Stunden. Ich habe mich also von Anfang an intensiv damit auseinandersetzen müssen, unter welchen Bedingungen ich Spitzenpolitik machen kann. Es tut der politischen Entscheidungskultur nicht gut tut, wenn nur Leute in Spitzenpositionen stehen, die sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag Politik machen. Ich sorge deshalb dafür, dass ich jenseits der Politik ein Leben habe: Familie, Freundinnen, Tanzen. Zusammen mit Eltern kleiner Kinder aus anderen Parteien mache ich mich für den Grundsatz eines politikfreien Sonntags stark.

Klappt das?

Es ist schwierig. In der Linken gibt es viel Ehrenamt, also viele Sitzungen, die außerhalb der Lohnarbeitszeit stattfinden müssen. Wenn sonntags eine Wahl ist, kann ich sie nicht erst montags kommentieren. Wenn ich zu Anne Will eingeladen werde, kann ich mich nicht erst montags in die Runde setzen. Aber wenn ich mal ein Wochenende habe, das am Freitagabend beginnt und erst Montagfrüh endet, dann ist das ein unglaubliches Befreiungsgefühl, das mich richtig flasht.

Haben Sie nach so einem Wochenende das Gefühl, mit mehr Abstand auf die politischen Herausforderungen schauen zu können?

Ja. Das habe ich auch nach dem Urlaub. Da bekommt nur ein kleiner, eingeweihter Kreis die Handynummer meines Mannes, für Notfälle. Und mein Handy ist aus.

Fällt Ihnen das schwer?

Nein, es fällt mir leicht, in den Offline-Modus zu schalten.

Das ist sicher eine gute Eigenschaft, um ein Burnout zu vermeiden.

Hoffentlich. Aber hier reden wir über eine relativ privilegierte Form von Stress. Die Leute, die ich morgens vorm Jobcenter treffe, haben einen ganz anderen Stress: Existenzangst.

Was ist mit dem Stress, die Demokratie retten zu müssen? Wagenknecht vermittelt den Eindruck, dass sie für die Begrenzung der Arbeitsmigration aus der tiefen Überzeugung heraus einsetzt, dass dies der einzige Weg zur Bekämpfung des Rechtsrucks ist.

Ja, das schätze ich auch an ihr: Sahra ist wie ich Überzeugungstäterin.

Aber ihre Überzeugung, die Ausrichtung der Linken auf ein grünes Milieu sei fatal, ist falsch?

Es stimmt nicht, dass die Parteispitze den Fokus allein auf die Gewinnung von Wählerinnen aus dem grünen Spektrum legen will. Bernd und ich haben die Kampagne für bezahlbares Wohnen und gegen Pflegenotstand gestartet, und die Jobcenter-Gesprächsoffensive. Wir sind in Plattenbaugebiete reingegangen. Raus aus der Blase. Allerdings haben wir den Einsatz für soziale Kämpfe stets verbunden mit dem für Klimaschutz und Flüchtlingssolidarität.

Im Europawahlprogramm macht sich die Linke für die Schaffung legaler Flucht- und Einreisewege nach Europa stark und will verbindliche Flüchtlingsrechte auf Armuts-, Umwelt- und Klimaflüchtlinge ausweiten. Ist der Konflikt um die Flüchtlingspolitik nun entschieden?

Auf dem Europaparteitag hat die Seawatch-Kapitänin Pia Klemm eine kompromisslose Rede für die Unteilbarkeit von Menschenrechten gehalten, und man konnte sehen, wie ihr die Herzen der Delegierten über alle Landesverbände hinweg zugeflogen sind. Ja, der Konflikt ist in der Sache entschieden. Es war die Partei, die sich hier klar positioniert hat.

Aber das Recht auf Asyl hat ja niemand angegriffen, auch nicht Sahra Wagenknecht.

In Pia Klemms Rede ging es nicht nur um Asyl, sondern um die Unteilbarkeit von Menschenrechten.

Es gibt aber kein Menschenrecht auf Arbeit in Deutschland.

Aber es gibt ein Recht auf Bewegungsfreiheit.

Zur Person

Katja Kipping, 1978 in Dresden geboren, ist seit 2012 gemeinsam mit Bernd Riexinger Vorsitzende der Partei Die Linke. Sie zog 2005 in den Bundestag ein, zuvor war sie PDS-Abgeordnete im Landtag Sachsen. Kipping ist Mutter einer Tochter

Hat Sie geärgert, dass auch die Linke durch Wagenknechts Stimme in diesen Fragen nicht als eindeutig positioniert wahrgenommen wurde?

Obwohl wir als einzige Partei immer geschlossen, also ausdrücklich auch Sahra, gegen die Verschärfung des Asylrechts gestimmt haben, ist unser Image so, dass wir als unentschieden gelten. Während die Grünen als Gegenspieler zur AfD wahrgenommen werden. Diese vermeintliche Unschärfe hat uns bestimmt einige Prozente gekostet – Prozente, die ungerechterweise zu den Grünen gegangen sind.

Es liegt also an der Zerrissenheit der Linken in der Migrationspolitik, dass sie von der Schwäche der SPD nicht profitiert?

Die Erzählung, dass es der SPD nur schlecht genug gehen muss, damit es der Linken besser geht, stimmt schon längst nicht mehr. Ich weiß beispielsweise aus Gesprächen mit vielen Hartz-IV-Betroffenen, dass sie der SPD nicht mehr glauben, dass sie etwas für sie verändern will. Uns als Linke glauben sie zwar, dass wir das wollen – aber sie bezweifeln, dass wir unsere Pläne zur Abschaffung des Sanktionsregimes auch umsetzen können.

Weil sie nicht daran glauben, dass die Linke im Bund an die Regierung kommt.

Genau. Jetzt könnte ich mich freuen, dass wir die edleren Politikerinnen sind, weil man uns glaubt, dass wir Hartz IV abschaffen wollen. Aber im Ergebnis verstärkt das Glaubwürdigkeitsproblem, in dem wir und die SPD auf verschiedene Weise stecken, die Ohnmacht der Entrechteten. Und Ohnmachtserfahrungen spielen eher den Rechten in die Hände. Deshalb ist es Aufgabe aller Fortschrittlichen, Hoffnung zu stiften! Und das war das Richtige an Aufstehen. Die Perspektive auf eine andere, linke Mehrheit aufzeigen.

Sie haben also doch Hoffnung mit Aufstehen verbunden!

Das zentrale Problem war: Wir konnten nie sicher sein, dass Aufstehen nicht doch zu einer eigenen Partei wird und damit das linke Lager weiter aufspaltet. Aber ich habe immer gesagt, dass Aufstehen bei einem runden Tisch aller progressiven Kräfte links der Union einen Platz hätte.

Wenn für die Frage, ob die Linke gewählt wird, eigentlich die Frage ist, ob sie ihre Positionen umsetzen kann – ist dann Rot-Rot-Grün der einzige Ausweg aus dem Dilemma?

Ich mag den Begriff Rot-Rot-Grün nicht, er ist zu sehr mit der Politik von Rot-Grün verbunden.

Sagen wir: ein linkes Regierungsprojekt.

Es geht mir um eine linke Regierungsalternative, mit der wir die Möglichkeit bekommen, für gute Arbeit zu sorgen, Hartz IV abzuschaffen, mit Klimaschutz und Friedenspolitik für eine Zukunft zu sorgen. Einfach wird das nicht, aber wer’s einfach will, der greife zur Flasche Rotwein.

Was heißt „Hartz IV abschaffen“?

Die Sanktionen abschaffen, das Bedarfsgemeinschaft durch individuelle Ansprüche ersetzen und die Regelsätze deutlich rauf. Unsere Alternative zu Hartz IV lautet gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung von 1050 Euro.

Es gibt dafür keine Mehrheit.

Darum müssen wir kämpfen. Das wird nicht einfach, alle drei Parteien sind füreinander eine Zumutung, und wir können stundenlang darüber reden, was uns trennt. Aber angesichts einer gefährlichen Rechtsentwicklung, die sich auch im Alltagsbewusstsein durchsetzt, ist es unsere Verantwortung, eine fortschrittliche Alternative stark zu machen.

Wenn die Armut weg ist, gibt es auch keinen Rassismus mehr?

Nein, daran glaube ich nicht. Aber wenn Existenzängste besiegt werden, dann hat es rassistische Propaganda viel schwerer.

Das klingt nach den Ideen des französischen Soziologen Didier Eribon.

Ich bin mit Didier im Gespräch und weiß, dass er sich unglaublich geärgert hat über die in Deutschland vorherrschende Rezeption seines Buchs „Rückkehr nach Reims“. Wenn er dazu aufruft, sich stärker der Arbeiterklasse zuzuwenden, heißt das nicht, dass man den Kampf für die Rechte von Homosexuellen oder Flüchtlingssolidarität aufgeben soll. Eribon denkt diese Kämpfe immer zusammen. „Wegen der Arbeiter dürfen wir nicht zu viel feministische Politik machen“, diese Argumentation geht nicht auf. Ich glaube, das sind eher Ressentiments von antiliberalen Salonlinken, die sich ihren ideellen Gesamtarbeiter herbei fabulieren und ihre Ressentiments gegen Feminismus und Klimapolitik auf diesen projizieren. Viele Arbeiterinnen wissen aus ihrer Arbeitsleben jedoch sehr genau, dass es Diskriminierungen gibt, die Frauen im Besonderen treffen.

Aber es gibt diese Arbeiter doch: weiß, männlich, nach der Deindustrialisierung perspektivlos – und bei einigen stärkt diese Entwertungserfahrung durchaus Rassismus und Sexismus. Oder nicht?

Und das ist traurig, wenn auf die eigene gefühlte Abwertung mit der Abwertung anderer Gruppen reagiert wird. Die linke Antwort darauf sollte doch heißen: „Wir kämpfen gemeinsam mit Euch mit all unserer Leidenschaft dafür, dass es Euch besser geht, wir werden aber nicht darum kämpfen, dass es anderen noch schlechter geht.“ Was unsere Handlungen und unser Sprechen beeinflusst, ist doch nicht nur die eine Erfahrung, die wir machen. Es sind immer auch politische Diskurse, die durch unsere Alltagserfahrungen einsickern. Man wird die Leute nicht dadurch erreichen, dass man als Linke versucht, in puncto Sexismus oder Rassismus die AfD zu überholen. Das klappt nicht. Im Gegenteil.

Wieso im Gegenteil?

Wenn ich mit Menschen spreche, die ihren Frust loswerden wollen, geht es häufig erstmal um die Flüchtlingspolitik. Ich höre mir das an, und dann sage ich ihnen: Sie können das alles so sehen und so sagen, aber ich werde Ihnen nicht nach dem Mund reden. Das führt zu Respekt, weil diese Leute merken, dass ich sie ernst nehme, gerade weil ich ihnen zuhöre, aber nicht nach dem Mund rede.

Woher kommt die Erzählung, der Feminismus sei Schuld daran, dass die Interessen der Arbeiterklasse aus dem Fokus geraten?

Das ist ein Manöver zur Schuldabwehr. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, Peer Steinbrück hat ein Buch geschrieben: „Das Elend der Sozialdemokratie“. Man könnte meinen, es sei eine Selbstkritik, aber im Groben besteht das Buch darin, der SPD zu diagnostizieren, sie habe sich nur noch mit „Wohlfühlthemen“ wie der Frauenfrage oder der Flüchtlingspolitik beschäftigt und werde deshalb nicht mehr von der Arbeiterklasse gewählt. Lieber Peer Steinbrück, vielleicht lag es auch daran, dass Ihr sie in unsichere Arbeitsverhältnisse gestürzt habt, dass Ihr ihnen die Hartz-IV-Schikanen gebracht habt und dass Ihr immer Superreiche vor Besteuerung geschützt habt, während Ihr die Menschen fleißig besteuert habt, die vor der Armutsgrenze stehen.

Trifft es nicht zu, dass liberale Werte in Westeuropa seit den 1980ern verstärkt hochgehalten wurden, während Arbeitsrechte abgebaut wurden?

Was heißt liberal? Bei der Frage der Abschaffung des Verbots von Information über Schwangerschaftsabbrüche hat sich die SPD nicht sonderlich liberal verhalten.

Es gab dennoch eine gewisse Gleichzeitigkeit von erstarkenden Rechten für Frauen und Minderheiten – und der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen.

Wenn alle Freiheitsrechte, die seit den 1980ern erkämpft wurden, rückgängig gemacht werden, wird das nichts an der Armut und an Abstiegsängsten ändern. Im Gegenteil würden diese verschärft – weil die Möglichkeiten, für soziale Rechte zu streiten, in einem autoritären Staat erfahrungsgemäß sehr klein sind.

Sahra Wagenknecht ist genau deshalb gegen die EU. Weil sie die Möglichkeiten, für soziale Rechte zu streiten, im Nationalstaat besser ermöglicht sieht. Ist ein demokratisches, solidarisches Europa möglich?

Es ist ja nicht so, als hätten sich die Nationalstaaten in der EU bereits aufgelöst. Die aktuelle Tendenz geht ja ins Gegenteil. Und es wird ja auch hierzulande für ein soziales und gerechtes Land gestritten. Es gibt aber auch bereits ein Europa der Solidarität. Wenn ich mir die Menschen aller Altersgruppen anschaue, die Werte der Aufklärung hochhalten, indem sie im Mittelmeer Menschen vor dem Ertrinken retten, ist das gelebtes Europa.

Das sind sehr kleine Initiativen.

Die getragen werden von einer breiten, europaweiten Welle der Solidarität. Genau wie der Frauenstreik.

Entsteht gerade eine europäische Öffentlichkeit?

Ja. Das sehe ich auch bei den Protesten gegen die Uploadfilter: auf einmal wird EU-Politik, die gerade noch so fern war, als etwas begriffen, das direkt in den Alltag der Leute eingreift. Plötzlich beschäftigen sich Pubertierende mit Artikel 13 und dem Abstimmungsverhalten von Abgeordneten im Europäischen Parlament. Da findet eine grenzüberschreitende Politisierung statt.

Der Anfang einer Europäischen Republik?

Ich hab Sympathien für die Idee einer Republik Europa, fand sie aber für das Wahlprogramm ungeeignet. Auf dem Europaparteitag in Bonn haben wir darüber sehr kontrovers diskutiert. Aber auf eine Art, die uns schmückt. Am Ende sind wir alle etwas klüger gewesen.

Was gefällt Ihnen an dieser Idee?

Republik Europa meint letztlich, dass die Bedeutung der nationalen Regierungen bei europäischen Verhandlungen in den Hintergrund tritt und stattdessen eher die verschiedenen politischen Parteien bzw. die sozialen Gruppen miteinander um Mehrheiten ringen. Heute laufen Verhandlungen etwa als Konflikt zwischen der Regierung Griechenlands und der Deutschlands. In einer Republik wäre das ein Konflikt zwischen den Anhängern bzw. Gegnern der Austerität und Privatisierung. Darin liegt etwas Faszinierendes und zugleich Beunruhigendes. Die Bedeutung der Nationalität würde damit in den Hintergrund treten. Eine ungeheure Vorstellung! Denn Nationalität ist derzeit der Rahmen, in dem wir denken und handeln. Und wo viele die Kräfteverhältnisse meist besser überblicken können.

Und in dem derzeit Demokratie funktioniert.

Ja, für viele ist der Nationalstaat genau der Rahmen. Das müssen wir ernst nehmen. Anderseits gibt es längst globale Entwicklungen, die uns alle treffen. Wenn man europaweit versäumt, Google ordentlich zu besteuern, fehlt das Geld, obwohl der Konzern mit unseren Daten riesige Gewinne macht. Wenn man europaweit versäumt, Klimaschutz zu betreiben, kann eine Kommune den besten Klimaschutz der Welt machen – die Dürre oder die Überschwemmung macht um sie keinen Bogen. Es gibt schon eine große Abhängigkeit voneinander und eine engere Zusammenarbeit kann nur sinnvoll sein.

Um handlungsfähig zu werden?

Das Problem für die Demokratie ist aus linker Sicht nicht die Ebene, auf der sie funktioniert, sondern der Einfluss von reichen Lobbys.

Der Antrag für die Europäische Republik hat zwar 45 Prozent Zustimmung bekommen, ist aber dennoch gescheitert. Auch der Parteivorstand hat nicht dafür geworben.

Unser Ansatz war ein anderer. Wir wollten eine Position im Wahlkampf stark machen, die unsere Mitglieder- und Wählerschaft in ihrer Vielfalt verbindet. Die abstrakte Frage, ob wie mehr oder weniger EU wollen, treibt auseinander. Während die Frage, für welches Europa wir kämpfen, verbindet. Deshalb sagen wir: Mehr Zusammenarbeit bei der Abrüstung statt bei der Aufrüstung. Mehr Zusammenarbeit beim Besteuern der Konzerne und beim Klimaschutz statt bei der Abschottung. Und soziale Mindeststandards in ganz Europa.

Die aktuellen Bewegungen arbeiten sich an Klimapolitik und Urheberrecht ab, aber nicht an sozialen Standards. Sind das linke Bewegungen?

Ja, wenn sie etwa herausarbeiten, dass von der Reform nicht die Urheber profitieren, sondern die Verwertungsindustrie. Aufgabe der Linken ist es, die Verwertungsinteressen anzusprechen, die hinter der Politik stehen, ob national oder europäisch. Und Klimaschutz ist zutiefst eine Frage der sozialen und globalen Gerechtigkeit, denn die ärmeren Menschen und Länder sind besonders hart von den Folgen des Klimakollaps betroffen. Auch in den Klimaprotesten müssen wir herausarbeiten, dass die kapitalistische Produktionsweise, die auf Wachstum ausgerichtet ist, nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sein kann. Um Naomi Klein zu zitieren: Klima oder Kapitalismus – wir müssen uns entscheiden.

Die Linke sollte also Antikapitalismus in bestehende Kämpfe reintragen? Ist das realistisch?

Schauen wir uns das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ in Berlin an. Die Forderung nach Enteignung kam von linken Mietaktivistinnen, die in die Mietshäuser gingen; sie würde von den Mietern übernommen; von der Linken in der Regierung unterstützt; und jetzt zeigt in Umfragen über die Hälfte der Berliner Sympathien für diese radikale Forderung. Das ist ein Beispiel für eine gelungene Radikalisierung nach links, in der Partei und die Bewegungen zusammenarbeiten. Und daraus folgt eine Politik, die konkret das Leben der Menschen verbessern kann.

Kann das auf Bundesebene funktionieren?

Das ist kein leichter Weg, aber es ist der, der zu gehen ist.

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