Ein 25-jähriger Mann überfährt mit seinem Lieferwagen vorsätzlich Menschen auf einem Gehsteig in Toronto, über eine Strecke von 2,2 Kilometer, mit einer Geschwindigkeit von bis zu 70 Kilometer pro Stunde. Zehn Menschen sterben, 15 weitere werden zum Teil schwer verletzt. Bei Facebook postet der Mann kurz zuvor folgende Zeilen: "Die Incel-Rebellion hat bereits begonnen. Wir werden alle Chads und Stacys stürzen." Was ist das nun für eine Tat?
Zunächst sorgte die Todesfahrt in Deutschland medial deshalb für relativ wenig aufsehen, weil sie als „Amokfahrt“ eingeordnet wurde – ein politischer Hintergrund galt zunächst als wenig wahrscheinlich. Zumal der Täter kein Muslim war – denken an dieser Stelle vermutlich die meisten Leserinnen mit. Gut, psychisch Kranke gibt es überall, in Münster hat einer davon offenbar auf ähnliche Weise zwei Menschen getötet und anschließend sich selbst. „Es wird nicht von einem politischen Motiv ausgegangen“, heißt es dann, oder „die Tat bedroht nicht die nationale Sicherheit“, wie der kanadische Minister für öffentliche Sicherheit, Ralph Goodale, sagte. Trittbrettfahrer, die ihrer Depression, ihrer Verzweiflung und ihren Selbstmordgedanken auf ähnliche Weise ein Ende setzen wollen. Erweiterter Suizid. Was soll man darüber politisch diskutieren, was kann die Gesellschaft da schon machen?
Die Tat könnte durchaus politisch sein
Die Zeilen des Mannes auf Facebook aber – "Die Incel-Rebellion hat bereits begonnen. Wir werden alle Chads und Stacys stürzen" – weisen daraufhin, dass wir es mit einer ganz anderen Tat zu tun haben könnten – nämlich durchaus mit einer politischen Tat: mit einer Attacke, die durch Frauenhass motiviert war. Denn „Incel“ ist das Kurzwort für „involuntarily celibate“, übersetzt bedeutet das „unfreiwillig zölibatär“. „Chad“ und „Stacy“ sind Schimpfworte für Männer und Frauen, die sexuell befriedigt sind. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, „Beta-Männer“ vom Sex auszuschließen – Frauen, indem sie nur Alpha-Männer „ranlassen“, Alpha-Männer, indem sie Beta-Männer erniedrigen.
Die Begriffe sind zentral in der maskulinistischen Netzcommunity, die eng mit dem „Pickup Artist Movement“ verbunden ist. In Foren geben Männer Tipps, wie sie Frauen dazu bekommen, Sex mit ihnen zu haben – die Grenze zwischen aggressiven Flirtversuchen, sexueller Nötigung und Vergewaltigung sind dabei fließend. Wie selbstverständlich herrscht in diesen Foren unter Männern der Konsens, sie hätten ein Recht auf Sex (mit Frauen!), oder andersherum: Frauen stünden in der Pflicht, Männer sexuell zu befriedigen.
Der Täter wird bereits gefeiert
Der mutmaßliche Täter von Toronto setzte seinen Angriff in seinem Facebook-Post nicht nur über die Begriffe in Zusammenhang mit dem Maskulinismus. Er bezieht sich auch positiv auf die Attacke an der University of California in Santa Barbara von 2014, die als Amoklauf betitelt wurde. Damals erschoss und erstach ein Mann namens Elliot Rodger sechs Menschen und verletzte 13 weitere. Auch Rodger beklagte zuvor in einem Video seine Zurückweisung durch Frauen: “Ich bin 22 Jahre alt und immer noch Jungfrau. Ich habe noch nie ein Mädchen geküsst.“ Der mutmaßliche Täter von Toronto nannte Rodger auf Facebook einen „Obersten Gentleman“. Wie sein Vorbild wird auch der Täter von Toronto in den maskulinistischen Foren für seine Tötungsfahrt bereits gefeiert.
Sollten sich diese Zusammenhänge bestätigen, stellen sich für die politische Einordnung solcher Angriffe einige Fragen: Handelt es sich noch um Amok, wenn der Täter gezielt Menschen dafür umbringt, dass sie Frauen sind? Handelt es sich dann nicht vielmehr um einen Frauenmord, der sich darüber definiert, dass eine Frau deshalb umgebracht wird, weil sie eine Frau ist? Dann: Was genau war in Toronto das Motiv? Wollte der junge Mann Frauen deshalb umbringen, weil keine von ihnen mit ihm schlafen wollte? Hat er ein Frauenbild, das besagt, dass Frauen der Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse zu dienen haben – tun sie das nicht, bringt er sie um? Oder handelt es sich um einen – warum auch immer – psychisch labilen Mann, der Amok lief?
Studien zu Gewalt an Frauen und Femiziden zeigen, dass das Femizidrisiko für Frauen in Situationen eklatant zunimmt, in denen ein Mann sich ohnmächtig fühlt. In Trennungssituationen vor allem, aber auch dann, wenn der Partner seinen Job verliert und die Partnerin beruflich erfolgreicher ist. Wenn Männer gegen Frauen – zumeist gegen ihre (Ex-)Partnerinnen – psychische oder physische Gewalt ausüben, ist der Auslöser häufig ein Machtverlust, auf den sie mit Aggression reagieren. Für 158 Frauen endete diese patriarchale Gewalt 2016 in Deutschland tödlich.
Handelt es sich um maskulinistischen Terror?
Bestätigt sich das frauenfeindliche Motiv in Toronto, müsste man die Frage stellen, ob diese individuellen Motive auch auf Anschläge auf Frauengruppen übertragbar sind. Traf das Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühl des jungen Mannes auf in den USA verbreiteten organisierten Maskulinismus? Schaffen es Maskulinisten, psychisch labile Männer mit einer Umwandlung ihres Ohnmachtsgefühls in Hass auf Frauen abzuholen und auf diese Weise soziale Probleme von Männern in politischen Sexismus zu kanalisieren? Haben wir es dann sogar mit einem maskulinistischen Terroranschlag zu tun?
Terror zeichnet sich jedoch – neben einer ideologischen Motivation – auch durch eine politische Zielsetzung aus. War es das Ziel des Täters, Frauen generell zu verängstigen und einzuschüchtern, wie seine Ankündigung einer „Incel Rebellion“ nahe legt? Oder geht das zu weit – und es handelte sich eher um eine psychologische Motivation, also Rache?
Die jüngsten Attacken auf Menschengruppen werfen für ihre politische Einordnung jede Menge Fragen auf. Auch Anschläge, die islamistisch motiviert scheinen, haben ja die erwähnten psychischen Komponenten von Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühlen, Depression, suizidalen Gedanken bei Männern. Wo also verläuft die Grenze zwischen einem Terroranschlag, einem politisch motivierten Anschlag und einem Amoklauf?
Viele dieser Fragen lassen sich jetzt noch nicht beantworten. Noch ist nicht einmal klar, ob der Täter in Toronto ausschließlich Frauen töten wollte – und wie viele Frauen und/oder Männer sich unter seinen Opfern überhaupt befinden. Fest steht jedoch, dass sich nicht nur in der rechten Alt-Right-Bewegung der USA, sondern auch in Europa ein Maskulinismus entwickelt, der nicht konstruktiv mit sozialen Problemen von Männern umgeht, der nicht eine patriarchale Gesellschaftsstruktur angreift, sondern Frauen für ihre Situation verantwortlich macht – die Probleme der Männer also für Frauenhass und Antifeminismus politisch instrumentalisiert. Sollte die Attacke von Toronto tatsächlich maskulinistisch motiviert sein, bedeutet dies eine neue Dimension von Sexismus und Gewalt an Frauen. Die Gesellschaft müsste sich dann die Frage stellen, wie sie diesen gefährlichen Sexismus und Maskulinismus in den Griff bekommt. Und zwar sowohl den Sexismus, unter dem nicht-patriarchale Männer leiden, als auch jenen, unter dem Frauen und besonders Feministinnen leiden. Denn es ist der gleiche: der Sexismus einer patriarchalen Gesellschaft, in der sich der stärkste Mann durchsetzt.
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