Interview Joachim Holstein war viele Jahre Nachtzugbegleiter. Er kennt den größten Fehler der Deutschen Bahn und das Glück im Schlafwagen. Ein Gespräch
Wenn das Puzzle fertig ist, geht es im Schlaf nach Brüssel
Illustration: der Freitag
Eigentlich ist die Sache klar: Wer den innereuropäischen Flugverkehr verringern will, braucht Nachtzüge. Weil die Deutsche Bahn ihre aber 2016 abschaffte, profitieren gerade andere Betreiber wie die ÖBB von dem Comeback der Nachtzüge. Joachim Holsten weiß: Liegewagen sind nicht nur fürs Klima gut. Sondern auch ein Ort, an dem Freundschaften entstehen.
der Freitag: Herr Holstein, erleben wir jetzt das große Comeback der Nachtzüge? Dieses Jahr startet die Strecke Wien–Genua, bis 2024 kommen Berlin–Paris und Zürich–Barcelona dazu. Und schon ab Mai 2023 gibt es einen Zug von Brüssel nach Berlin ...
Joachim Holstein: Eigentlich sollte er sogar weiter über Dresden nach Prag fahren! Aber die Deutsche Bahn hat das verhindert.
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eiter über Dresden nach Prag fahren! Aber die Deutsche Bahn hat das verhindert.Verhindert?Ja, sie sagte dem European Sleeper in Belgien: Ihr könnt keine Trasse bekommen, wegen der Bauarbeiten an diesen Strecken kann dort nur alle zwei Stunden ein Zug fahren, und die nutzen wir für unsere eigenen Züge.European Sleeper: Was ist das?Das ist ein niederländisches Start-up von Leuten, die unzufrieden damit waren, dass es keinen Nachtzug von den Niederlanden in den Osten gab. Sie haben klassisches Crowdfunding betrieben, sind dann auf die Suche gegangen nach einem Unternehmen, das diesen Zug mitbetreibt, dann sind sie fusioniert mit der belgischen Moonlight-Express-Initiative.Der Großteil des bestehenden Nachtzug-Netzes wird von der ÖBB gestellt. Wie kam das?Die Deutsche Bahn hat ihre Nachtzüge 2016 komplett eingestellt, die Österreicher haben ihre Chance erkannt und jene Linien übernommen, die sie mit ihren eigenen Standorten verbinden konnten: von Zürich und Innsbruck nach Berlin, Hamburg und ins Rheinland. Außerdem haben sie die Verbindungen nach Italien mit aufgenommen, also von München nach Rom, Venedig und Mailand. Und das Geschäft läuft gut! Die Schlaf- und Liegewagen sind fast immer ausgebucht, inzwischen machen Nachtzüge an die 20 Prozent des Fernverkehr-Umsatzes aus.Ärgert sich die DB da nicht? Und die Bundesregierung?!Ich erinnere mich gut an eine Sitzung des Verkehrsausschusses im Bundestag: 2015 ging es um die geplante Abschaffung der Nachtzüge, die Linksfraktion hatte dazu eine Anhörung beantragt, unter anderem war ich geladen, damals als Vertreter der Belegschaft der DB European Railservice und Sprecher des DB-Wirtschaftsausschusses. Sabine Leidig von der Linken und Matthias Gastel von den Grünen waren die Einzigen, die Nachtzüge verteidigt haben, sie traten dort gegen den Rest der Welt an. Von der Union tönte es, Nachtzüge seien von gestern, das Festhalten an ihnen pure Nostalgie. SPD und FDP schwammen so mit. Und glaubten der Propaganda der DB, Nachtzüge seien unwirtschaftlich.War damals denn noch nicht klar, wie wichtig Nachtzüge für die Verkehrswende in Zeiten der Klimakrise sind?Groteskerweise ist die Entscheidung, Nachtzüge abzuschaffen, ja 2015 vom DB-Vorstandsmitglied Ronald Pofalla in einem Sonderzug auf der Fahrt von Berlin zum Klimagipfel in Paris bekannt gegeben worden! Die Reporterinnen der Klimaretter-Plattform haben ihn interviewt, und er sagte, dass sie die Schlaf- und Liegewagen durch ICEs ersetzen würden, weil Nachtzüge unwirtschaftlich seien. Daraufhin ist bei der Deutschen Bahn Hektik ausgebrochen, die mussten gemäß deutschem Arbeitsrecht ja rechtzeitig die bedrohten Mitarbeiter informieren – es ging um 500 Arbeitsplätze – und mit dem Betriebsrat in Verhandlungen treten.Sie bekamen dann also einen Brief: Lieber Nachtzugbegleiter, Ihr Arbeitsplatz wird demnächst abgeschafft?Genau. Wir wurden innerhalb von wenigen Tagen informiert, und die DB begann, taktische Infos rauszuhauen: Die Fahrgastzahlen würden sinken, Nachtzüge machten nur noch ein Prozent des Umsatzes aus, seien unwirtschaftlich.Wieso war die Deutsche Bahn überhaupt so gegen Nachtzüge?Die Deutsche Bahn hatte schon seit den 1980er Jahren zu wenig in ihr Wagenmaterial für die Nachtzüge investiert. Die letzten großen Anschaffungen waren Schlafwagen aus dem Baujahr 2003, 2005, das war eine Serie von 42 Wagen. Es gab eine ältere Generation von Doppelstockwagen, die baufällig waren, da tropfte schon das Wasser durch die Decke, die Instandhaltungskosten waren hoch.Kann die Bundesregierung denn heute nicht einfach sagen: Hallo DB, wir haben Klimakrise, stellt gefälligst Nachtzüge?Ja, das kann die Bundesregierung, und tatsächlich nehme ich hier einen großen Kurswechsel zur Kenntnis. Im Grundgesetz steht ein Artikel, der 1994 mit der Bahnreform reingeschrieben wurde: Überall dort, wo die Länder nicht zuständig sind bei der Bahn, ist der Bund dafür verantwortlich, jenes Angebot auf die Schiene zu stellen, das den Transportbedürfnissen der Bevölkerung entspricht. Der Bund sagte immer: Hier geht es nur um die Infrastruktur. Das stimmt aber nicht, da steht auch was von Zügen und dem Betrieb auf Bundesstrecken.Ich habe das nachgeschlagen, Artikel 87e des Grundgesetzes besagt: „Der Bund gewährleistet, daß dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz ... Rechnung getragen wird.“Hier gab es nun einen Kurswechsel. Mitte 2016 sagte der damalige CSU-Verkehrsminister Alexander Dobrindt: Das Wichtigste sind nicht die Profite, die die Bahn an den Bund abliefert, sondern das Wichtigste ist die Kundenzufriedenheit und Zuverlässigkeit. Der damalige Bahnchef Rüdiger Grube hat diese Äußerung zum Anlass genommen, hinzuschmeißen: Kundenzufriedenheit macht offenbar nicht so viel Spaß wie Profitorientierung. Aber seitdem gibt es plötzlich politische Vorgaben an die Deutsche Bahn AG. Den Deutschlandtakt etwa: Wir wollen jede Stunde vernünftige Anschlüsse haben.Aber Nachtzüge gehören nicht zu den politischen Vorgaben?Noch nicht. Die Politik ist in Deutschland leider noch nicht so weit, dass gezielt gesagt wird: Hier habt ihr 100 Millionen Euro, kauft bitte mal 50 Schlaf- und 60 Liegewagen. Denn es fehlt vor allem am Rollmaterial.Was fasziniert Sie eigentlich so an Nachtzügen, Herr Holstein?Hier kommen Leute miteinander ins Gespräch, die sonst eigentlich nie was miteinander zu tun gehabt hätten. Am Ende einer Fahrt sind nicht selten Freundschaften entstanden. Oder man erlebt eine Opernsängerin aus Ostasien.Live im Nachtzug?Ja, sie fuhr im Nachtzug von Paris nach Berlin. Ich machte meine Ansagen in vier Sprachen – Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch – und machte mich auf den Weg, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Da sprach mich eine Frau an: Sie sei Opernsängerin, habe eine Rolle im Freischütz von Carl Maria von Weber, und ob ich ihr wohl mit der deutschen Aussprache helfen könne? Ich habe gesagt, ich kann es versuchen. Und dann fing diese Frau an, diese Arie zu singen, im Nachtzug, die Reisenden trauten ihren Ohren kaum und lauschten mit offenen Mündern. Ihre Aussprache war übrigens perfekt.Danke für diese Einblicke!Moment, halt, eine andere Geschichte muss ich noch erzählen.Okay, schießen Sie los, welche?Es war 2006, in der Nacht nach dem Eröffnungsspiel der Fußball-WM in Deutschland. Ich fuhr den Zug von Paris nach Hamburg, wo am nächsten Tag Argentinien gegen die Elfenbeinküste spielen sollte. Die Wagen war voll mit Argentiniern, Brasilianern, mit Leuten aus Mexiko, Frankreich, der Elfenbeinküste, in Brüssel kamen England und Trinidad und Tobago dazu: Die Zugfahrt war eine 1.000 Kilometer lange Fanmeile! Wir haben dann in Lüttich noch den Zug angehalten, um im Spätverkauf die Biervorräte aufzustocken. Denn für uns war es vielleicht nachts um 00:45 Uhr, aber für die Mexikaner war es 16:45 Uhr, für die Argentinier war es 19:45 Uhr. Und da kann man nicht sagen: Leute, es gibt nichts mehr.Nee, klar.Na also. Es war eine riesige Party! Vier Wochen später noch habe ich auf der Strecke Menschen getroffen, die sagten: Letztens war hier im Nachtzug so eine fantastische Stimmung! Und dann stellte sich raus: Stimmt ja, da warst du der Zugbegleiter! Mit dem wir das Argentinien-Trikot getauscht haben!Placeholder infobox-1
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