der Freitag: Herr Dehm, Sie haben Außenminister Heiko Maas beim diesjährigen Ostermarsch als “Nato-Strichjungen” bezeichnet, später nur noch als “Strichmännchen”. Woher der Sinneswandel?
Diether Dehm: Der Nato-Strichjunge hat seine Schuldigkeit getan. Seit meiner Provokation konnte ich in vielen Medien auf die brandgefährliche Pentagon-Studie vom vergangenen Dezember hinweisen, nach welcher der Hauptfeind für die NATO nicht IS-Terrorarmeen sind, sondern Russland. Das Pentagon schreibt dort, wie es die mediale Öffentlichkeit auf einen neuen Krieg und Aufrüstungskosten einstimmen will. Jetzt schon steht die NATO mit einem Rüstungsetat von über 900 Milliarden Dollar einem russischen Etat von gerade einmal um die 65 Milliarden gegenüber.
Sie glauben, Ihre Provokation hat die Friedensbewegung gestärkt?
Ein Tabubruch kann aufklärerisch wirken. Bei den Sexarbeitern habe ich mich sofort entschuldigt, weil deren Tätigkeit allemal moralischer ist als die von prostituierten Kriegsvorbereitern. US-Präsident Trump hat mit seinen Tomahawks jetzt Giftlager in die Atemluft gesprengt und Beweise zerstört. Wieder wollte Maas der Erste sein bei der Übernahme von CIA-Lügen und beim Mitbombardieren – und da wurde er von etwas Weiblichem gestoppt: der Kanzlerin. Mittlerweile hat ihn sogar sein SPD-Parteirat gerügt.
Zur Person
Diether Dehm, Jahrgang 1950, ist Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke
Ihr außenpolitischer Sprecher, Stefan Liebich, kritisiert die Kriegshandlungen sowohl der USA, als auch Russlands in Syrien gleichermaßen. Wäre das keine bessere Linie für eine Friedensbewegung?
Ich stütze und schätze Stefan Liebich sehr, trotz unterschiedlicher Akzente. Ich halte jedenfalls Putin für wesentlich berechenbarer und unkriegerischer als Trump und Macron. Gemeinsam stehen Liebich und ich aber mit der israelischen und der amerikanischen Friedensbewegung gegen Rüstungskapital und Nationalismus in unserem jeweiligen Land. Und wir beide halten Maas an der Stelle von Sigmar Gabriel für eine friedenspolitische Fehlbesetzung.
Der Linkspartei-Vorsitzende Bernd Riexinger, Ihr Chef, kritisierte, Ihre Beschimpfung gegenüber Maas sei „unter der Gürtellinie“.
Ist sie ja auch. Es war eine sprachliche Form von zivilem Ungehorsam. Außerdem: Wer mit der SPD und Grünen koalieren will, sollte sich doch nicht deren Political Correctness unterordnen. Als Antifaschist kämpfe ich nicht nur gegen Antisemitismus und Homophobie, sondern auch gegen „political correcten“ Antikommunismus, Gewerkschaftsfeindlichkeit und Russenphobie.
Die Linke Niedersachsen hat einen Frauenanteil von 26,3 Prozent und ist damit Schlusslicht unter den Landesverbänden, gemeinsam mit Baden-Württemberg. Wie wollen Sie das Geschlechterverhältnis verbessern?
Der Frauenanteil ist überall zu niedrig. Obwohl Riexinger in Baden-Würtemberg und wir in Niedersachsen von Anfang an drakonisch eine Frauenquote von 50 Prozent durchgesetzt haben. Sogar dort, wo nur acht aktive Genossen und zwei Genossinnen auf 300 Quadratkilometer kommen, blieben Arbeitsposten unbesetzt. Wer dann als Frau bei drei nicht auf den Bäumen ist, wird oft bedrängt, Kreisvorsitzende oder Quoten-Delegierte zu werden. So was törnt Frauen auch ab. Für die Geschlechterquote von 40 Prozent hatte ich in der SPD, deren Mitglied ich bis 1998 war, gekämpft. Weil ich diese Größe in Flächenregionen für realistischer halte.
Noch mal: Was wollen Sie gegen das Missverhältnis zwischen den Geschlechtern tun?
Wir sollten lernen, viel mehr Kinderlärm bei Sitzungen zu ertragen. Das würde Teilnahmen erleichtern. Die Themen in unseren Parteiveranstaltungen sind oft lustlos, zänkisch, wenig sinnlich, ohne Kunst und Glücksentwürfe. Der Widerspruch zwischen Privatsphäre und Politik sollte endlich aufgehoben, Psychologie im Klassenkampf wieder diskutierbar werden, wie 1968.
Sie meinen, Frauen interessieren sich nicht für trockene Politik, weil sie sinnlicher veranlagt sind?
Nicht veranlagt. Die Natur des Menschen ist seine Geschichte, nicht seine Biologie, sagt der italienische Philosoph Antonio Gramsci. Die DDR schuf als Sozialstaat die rote Basis für Freikörper-Kultur, für die Abschaffung des Schwulenparagrafen 175, für die Pille. Und wurde mit kollektiver Kinderbetreuung lustbejahender als das heutige rosagrünliche Gehabe von Political Correctness.
Seit der #metoo-Debatte treten Frauen stärker für lustvolle, selbstbestimmte Sexualität ein und verteidigen sich verstärkt gegen Übergriffe. Wie finden Sie das?
#metoo ist gut, solange es nicht in eine virtuelle Lynchjustiz ausartet, die den Rechtsstaat aushebelt.
Darf nicht die Frau selbst entscheiden, was sie als übergriffig empfindet?
Doch. Aber rechtlich ist die Aussage eines Mannes zunächst genauso zu werten wie die einer Frau.
Und wenn die Frau etwas als sexuellen Übergriff empfindet, der Mann aber nicht?
Dann können sich beide täuschen. Manche Frau empfand Bert Brechts pornographische Sonette als übergriffig. Die feministische Literaturforscherin Sabine Kebir hingegen lobt diese Liebesgedichte.
Gedichte sind das eine, sexuelle Gewalt etwas anderes. Letztere unterliegt dem Sexualstrafrecht, mittlerweile verschärft durch “Nein heißt Nein”. Danach wird juristisch verfolgt, wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person an ihr sexuelle Handlungen verübt.
Ich habe für den neuen Paragrafen gestimmt – trotz Bedenken: Wie soll man dieses Nein justiziabel machen? Das neue Gesetz spielt eine Rechtssicherheit vor, die es so nicht gibt, wo Aussage gegen Aussage steht. Die Zeit-Journalistin Sabine Rückert ironisierte das seinerzeit: „Was leidenschaftliche Liebesnacht und was Vergewaltigung war, definieren wir Frauen künftig am Tag danach.“
Soll Vergewaltigung nicht mehr juristisch verfolgbar sein?
Oh doch, ohne Rücksicht auf das Herkunftsland des Täters. Jeder Rechtsstaat kennt die Unschuldsvermutung, wenn die Beweise nicht ausreichen. Der wegen Vergewaltigung angezeigte Wettermoderator Jörg Kachelmann war nicht halbschuldig, er ist voll unschuldig. Aber er hat bis heute beim öffentlichen Fernsehen Berufsverbot.
Es gibt keine Berufsverbote in Deutschland, Kachelmann arbeitet wieder als Wetteransager. Unabhängig davon zeigen Studien, dass die Quote bei Falschbezichtigung wegen Vergewaltigung bei drei Prozent liegt. Nur wenige sexuelle Übergriffe kommen überhaupt zur Anzeige.
Ich bin jedenfalls bei Vergewaltigung für drakonische Strafen, nicht nur zum Schutz von Kindern. Wenn aber Flirten starren Regeln unterworfen wird, sollten wir diese Kulturtechnik lieber gleich ganz abschaffen. Gesetze können auch Glück ersticken. Was würden Sie als Mann von einer Frau halten, die aus Sorge vor dem Gesetz im Spiel der Geschlechter beim allerersten sexfokussierten Akquisegebaren sofort sagt: „Jaaaah.“
Bei #metoo geht es nicht um eine Flirtkultur, sondern um sexuelle Belästigung und Gewalt.
#metoo war zunächst eine bürgerlich-feministische Bewegung, die sich auf Political Correctness im Showbusiness beschränkt. Die schlimmsten Übergriffe indes finden in der ökonomischen Abhängigkeit an alltäglichen Arbeitsplätzen statt. Die rote Frauenbewegung hat darum für Demokratisierung der Wirtschaft und gegen Kapitalmacht gekämpft, nicht für Kleinkrieg der Geschlechter und ein Klima aus Prüderie und Einschüchterung.
Deshalb arbeitet #metoo mit Landarbeiterinnen in Kalifornien zusammen. Wenn die Kapitalmacht abgeschafft ist, ist das Patriarchat noch lange nicht abgeschafft, sexuelle Übergriffe bestehen fort. Wieso halten Sie es nicht für legitim, diesen Widerspruch zu bekämpfen?
Das mit dem Haupt- und Nebenwiderspruch ist ein dummer Spruch. Gesellschaftliche Widersprüche sind nicht wie Haupt- und Nebenstraßen. Es gibt in einer imperialistischen Welt einen unauflösbaren Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. Der muss von Frauen und Männern im Klassenkampf gebrochen werden. Der Widerspruch um Feminisierung der Lohnarbeit oder die Zurückweisung sexueller Gewalt sind im Imperialismus durchaus lösbar. Wer aber, wie die Grünen-Politikerin Marieluise Beck, die NATO an die russische Grenze verlagern will, weil Putin homophob und sexistisch sei, zeigt, was Political Correctness anrichten kann.
Mit diesem Argument nehmen sie feministische Anliegen nicht ernst.
Doch. Aber ich nehme vielleicht nicht alle feministischen Anliegen so ernst, wie die von Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Alexandra Kollontai, Nadjeschda Krupskaja, Ines Armand, Sabine Kebir und Sahra Wagenknecht.
Linke Feministinnen thematisieren schon immer den Zusammenhang zwischen Geschlechteridentitäten und Machtverhältnissen. Sie aber sprechen abfällig über Identitätskämpfe, warum?
Das stimmt nicht. Ich freue mich, dass mit der Zunahme der Roboterisierung die Vorrechte der männlichen Arbeitskraft und deren Alpha-Gehabe zurückgehen, das Patriarchat also materielle Basis einbüßt. Jetzt muss endlich die Arbeitszeit gekürzt werden. Weil das Gesicht der Armut noch überwiegend weiblich ist, weil das Kinderkriegen als Kostenfaktor im Verwertungsprozess des Kapitals weiterhin Frauen aus der Lohnarbeit drängt. Dem gilt auch unser Kampf für Betreuung und bessere Pflege. Für die Rockband Bots habe ich darum in den Achtzigern Anti-Macho-Hits getextet: „Ich bin ein Mann, ich bin ein Jäger“, „Aufstehn“ und viele Schwulensongs. Aber manche elitäre Schrulligkeit erschwert die Aufklärung.
Was meinen Sie mit Schrulligkeit?
Ich las kürzlich, dass ein Rockkonzert in einem Bielefelder Arbeiterjugendzentrum von der feministischen Leiterin abgebrochen wurde, weil der Drummer in der Hitze den Oberkörper entblößt hatte, Frauen das aber so nicht könnten. Den sogenannten kleinen Leuten die sogenannten kleinen Freuden zu vergällen, treibt der AfD die Hasen in die Küche. Oder wenn ich Heimat lobe und mir einen Shitstorm einhandele. Wir verlieren, wie der französische Soziologe Didier Eribon kritisiert, zunehmend den lebendigen Umgang mit den Werktätigen.
Was schreibt Eribon denn über Political Correctness?
Ein wenig überspitzt: wenn dieselbe Kaste, die dich mit Hartz IV und Rentenkürzung überzieht, dir diktieren will, du musst ab sofort ein behaartes Männerbein in einem Nylonstrumpf genauso hübsch finden wie ein Frauenbein, sonst wirst du als bildungsferner homophober Sexist ausgegrenzt, dann freuen sich Rechtspopulisten wie Marine Le Pen, Silvio Berlusconi, Donald Trump und eben die AfD.
Das stimmt so nicht. Eribon stellte selbst klar: „Es ist eine Tatsache, dass die Probleme der Unterschicht in den Hintergrund gedrängt wurden. Sie sind nicht aus der Realität, aber bis zu einem gewissen Grad aus dem Diskurs verschwunden, besonders aus dem Diskurs der Linken. Aber daran ist weder der Feminismus noch die Homosexuellen-Bewegung schuld. Der Grund dafür ist die Annäherung zwischen den sozialdemokratischen Parteien und der neokonservativen Rechten.”
Eribon kritisierte nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch die KP. Aber er hat mit der bürgerlichen PC nix am Hut. Das Beste, was zu einer Annäherung von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sexualität führen kann, ist der gemeinsame, materielle Kampf für Frieden, Sozialstaat und bessere Reallöhne. Die organisierte Verweigerung der Arbeitskraft, der Streik, bleibt der Hochaltar von Zivilisation und Aufklärung.
Linkspartei-Chefin Katja Kipping schlägt eine „integrierende Klassenpolitik“ vor: Feministische Anliegen durch Arbeitskämpfe stark machen, etwa in der Pflege.
Wenn das endlich reale Massenbewegung würde: prima! Aber ohne rosagrünliche Phrasen gegen die realexistierenden Arbeitskraftverkäufer.
Können Kosmopolitinnen wie Kipping und Traditionslinke wie Sahra Wagenknecht in der Linken zusammen finden?
Sahra erreicht die großen werktätigen Mehrheiten, Mittelschichten, Handwerkerinnen, Landwirte. Katja eher etwas noblere Minderheiten, Refugee-Welcome-Milieus, Befürworterinnen des bedingungslosen Grundeinkommens. Beides gemeinsam gedacht, zusammen gebracht und mobilisiert, würde die AfD in den Abgrund bringen. Und wenn wir dann auf die gegenseitige Denunziation verzichten würden, wären wir fast unschlagbar.
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