Man könnte meinen, wenn durch einen Unfall eine Kirche brennt, ist das politisch nicht besonders spannend. Irgendein Kurzschluss bei den Restaurationsarbeiten, vielleicht eine Arbeiterin, die ihre Zigarette hat fallen lassen und vermutlich längst außerhalb der Grenzen der Republik ist. Und dann fackelt dieses Dach ab, dieses Dach einer 850 Jahre alten Kirche, die schon so einiges gesehen hat. Das berührt, das macht traurig, das hält einem unweigerlich die Vergänglichkeit allen Seins vor Augen. Ja, natürlich reden alle darüber. Aber politisch? Eigentlich uninteressant.
Notre-Dame ist aber nicht irgendein gut gebauter Steinhaufen. Ihre Mauern erzählen 850 Jahre christliche und europäische Geschichte – und wenn diese Mauern brennen, dann flackern eben auch sämtliche Diskurse auf, die sich darin bis heute verknoten. In all ihrer Aktualität.
Nun gibt es Effekte einer politischen Ökonomie der Aufmerksamkeit, die nicht zwingend an diesem brennenden Gotteshaus hängen. Die vielfach kritisierte Live-Berichterstattung etwa. Bei jedem größeren Event werden auf n-tv live irgendwelche Expertinnen dazu geschaltet, aus denen Journalisten ein Wissen herauszupressen versuchen, das in dieser Kürze der Zeit gar nicht verfügbar sein kann. So auch diesmal: Warum löscht die Feuerwehr nicht mit Hubschraubern, wie bei einem Waldbrand? Wird die Kirche einstürzen? Woher kommt das Feuer? Wer in aller Welt soll diese Fragen wenige Minuten nach Ausbruch des Brandes als Journalistin schon beantworten können?
Professionelle Einordnung ist wichtig
Romy Straßenburg weist als Freie Korrespondentin aus Frankreich in einem Leserkommentar zu einer entsprechenden Kritik von Rudolf Walther darauf hin, warum es dennoch wichtig ist, sich als Journalistin zeitnah zu Wort zu melden. Weil die Bilder auf Twitter, Instagram und Youtube so schnell herumgehen und interpretiert werden, dass eine zeitnahe professionelle Einordnung wichtig ist. Wie professionell das dann noch sein kann, ist natürlich eine berechtigte Frage. Doch führt das Ausbleiben journalistischer Berichte ebenfalls zu großem Unmut, wie ihn die ARD erleben durfte, selbst von einem ehemaligen Leiter des Hauptstadtstudios. Unmut, der sich auf Twitter mit Verschwörungstheorien verklebte.
Wie also sollten Medien bei großen Ereignissen handeln? Diese Frage stellt sich jedesmal neu, völlig unabhängig von der Art des Ereignisses selbst – ob das nun die G20-Protest-Berichterstattung ist, die Rettung eines Fußballteams aus einer Höhle in Thailand, ein Anschlag oder eben ein Großbrand.
Ähnlich verhält es sich bei polarisierenden gesellschaftlichen Debatten. Jedes große Event wird auf seine Folgen für diese Debatte abgeklopft. So wurde etwa die mediale Abbildung der Rettung der Fußball-Jungs in der thailändischen Höhle mit der medialen Aufmerksamkeit für die Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer abgeglichen. Was der Rahmen für diesen Abgleich ist, zeigt, welche politische Debatte gerade einen Diskurs bestimmt. Der diskursive Rahmen ist wie eine Brille, durch die die Welt gesehen wird – und durch die eben auch jedes Ereignis betrachtet wird.
Brennt nun z.B. eine Kirche, legt die AfD in Gestalt von Alice Weidel nahe, dass islamistische Attentäter hinter dem Brand stecken könnten – schließlich haben in letzter Zeit schon mehrere Kirchen gebrannt. Die FAZ titelt „In Deutschland gibt es jede Woche einen Kirchenbrand“ und führt aus, warum Denkmalschutz eben schwierig ist – das ganze alte Holz und so! Und schon ist der Artikel Brennstoff für alle, die sich vor einem Kulturkrieg zwischen Islam und Christenheit fürchten. Herrschendes Framing.
„Ist es ein Anschlag?“
Eine solche Deutung des Brandes wäre einem noch vor ein paar Jahren – sagen wir vor 9/11 oder Huntingtons Clash of Civilisations – noch gar nicht in den Kopf gekommen. Während – ginge man noch ein paar Jahrhunderte mehr zurück – ein mittelalterlicher Brand in Notre-Dame vielleicht wahlweise als Zorn Gottes für etwaige Sünden, also als Disziplinarmaßnahme, interpretiert worden wäre. Oder als böses Machwerk der Juden, die im 14. Jahrhundert ja schließlich – so der irre Volksglaube unter Christinnen im 14. Jahrhundert – durch Brunnenvergiftung Schuld an der Ausbreitung der Pest gewesen sein sollen. Und an allem anderen sowieso.
Dass der rechte Kulturkämpfer Don Alphonso in einem spontanen Blogeintrag die Frage „Ist es ein Anschlag?“ tatsächlich als erste stellt, sagt nicht zwingend etwas über ihn selbst, sondern viel mehr über die Diskurse unserer Zeit aus. Erst in einem späteren Tweet regt sich Don Alphonso darüber auf, dass ein Gebäude zur Repräsentantin europäischer Werte erhoben wird, dessen Grundstein unter einem Bischof gelegt wurde, der sich als Schatzmeister eines Kreuzzuges verdingte. War Kirchenkritik nicht einmal Aufgabe der Linken, fragt man sich unweigerlich. Diese wiederum hätten in den 1970er Jahren bei so einem Event nur so um sich geschlagen mit „Religion ist Opium für das Volk“-Sprüchen. Die lichterloh fackelnde Kirche wäre womöglich als Befreiung von christlicher Heuchelei gefeiert worden. Doch diese Schlacht scheint schon so geschlagen, dass sie die überstrapazierte Empörungsmaschine linker Herzen kaum mehr in Gang setzen kann.
Genau darin liegt die Macht des Diskurses. Er kann über die Zeit und viele Kämpfe völlig verschoben werden. Und, ist dies einmal passiert, kann er Dinge in völlig neuem Licht erscheinen lassen. Mit Foucault gesprochen: Er kann sie völlig neu verketten, ja völlig neu produzieren.
Da wird eine riesige Machtdemonstration der christlichen Herrschaft über Leib, Leben und Tod eben mal zu einem Symbol für europäische Werte, das ausgerechnet ein CDU-Politiker dafür nutzt, an das Sterben im Mittelmeer zu erinnern: „Wir sind erschüttert, weil mit #NotreDame unser europäisches #Kulturerbe brennt. Wenn #Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, gehen unsere europäischen Werte mit ihnen unter. Auch daran erinnert #NotreDame“, schrieb Ruprecht Polenz.
„Der spitze Phallusturm ist den Flammen zum Opfer gefallen“
Die Empörung über Jahrhunderte der Kreuzzüge und der Hexenverbrennung scheint schon wieder so lange abgeebbt, dass Notre-Dame sogar zum Symbol der weiblichen Macht hochstilisiert wird. Auf Facebook schreibt etwa die Patriarchatskritikerin Kirsten Armbruster, dass der Name Paris von „parere“, gebären, kommt, dass die Île de la Cité einer Vulvalandschaft gleicht und dass Notre-Dame mit ihren beiden Türmen für das Bild einer gebärenden Mutter steht, die „auch nach dem Brand immer noch stehenden beiden Türme von Notre Dame, in der Mitte mit der typischen Rosette, die für den Kopf des Kindes steht, das bei der Geburt aus der Vagina-Vulva der gebärenden Mutter zu sehen ist. Der spitze Phallusturm ist den Flammen zum Opfer gefallen, denn er hat auch nichts dort zu suchen bei einer Geburt.“
Zu Rosetten wiederum hat Don Alphonso etwas ganz anderes zu sagen: „Die sind kunsthistorisch fraglos wichtig, weil der behauene Stein – also der Rahmen – eine Stilstufe der Hochgotik definiert, und mit ein paar anderen Kirchen in Frankreich großen Einfluss hatte.“ Die Glasfenster darin sind aber „wie schon gesagt, mehrheitlich aus der Zeit der großen Restaurierung im 19. Jahrhundert.“ Und dass der eingestürzte Dachreiter – der nervige Phallus, von dem Armbruster schreibt – ja nun keine 850 Jahre alt ist, sondern erst läppische 150 Jahre, hat in den vergangenen zwei Tagen wohl jede gelernt.
So wie sich die Kirche über die Jahrhunderte neu zusammensetzt, aus verschiedenen Epochen mit ihren jeweiligen Interpretationen der frühen Gotik, so setzt sie sich auch in unserer Wahrnehmung aus den verschiedensten Diskursen zusammen, die sie derzeit durchziehen. Notre-Dame wird diskursiv ständig neu gebaut. Ein sehr neuer Baustein ist dabei der Diskurs über Künstliche Intelligenz, den Notre-Dame ebenfalls zum Beben brachte: Weil YouTube sämtliche Videos von dem Großbrand aufgrund der zwei Türme als Video über den Anschlag auf das Word-Trade-Center interpretierte und als Fake News einordnete. So erscheint Notre-Dame in KI-Perspektive: Zwei brennende Türme. Nicht anders als das World-Trade-Center. Anhand dieses Bildes ahnt man, dass es sich bei diesen Erkennungsprogrammen noch um eine Art Babysprache handelt. Aber auch dieser Diskurs wird sich als verschieb- und erweiterbar erweisen, auch Programme lernen dazu.
850 Jahre Wahrheitskampf am Grunde der Notre-Dame
Selbst der Verteilungs- und Gerechtigkeitsdiskurs hängt sich an „Unsere Liebe Frau“. Wenn große Unternehmen in Frankreich innerhalb von wenigen Stunden über 700 Millionen Euro locker machen können, ja, sollte man dieses locker sitzende Geld nicht auch steuerlich zur Umverteilung anknapsen? Oder für die Kosten des Klimawandels – statt sie den Gelbwesten aufzudrücken? Und, hey! Sind da nicht ein paar Millionen Euro für die von Hungersnot bedrohten Mosambikanerinnen drin, die gerade in den Folgen des Klimawandels ertrinken?
Verschwörungstheoretiker sehen bekanntermaßen in jedem Ereignis eine Verschwörung. Und Medien in jedem Ereignis monetarisierbare Meldungen. Wenn aber Medienkritikerinnen, rechte Kulturkämpfer, Intellektuelle, Kunsthistorikerinnen, Datenschützer, Feministinnen, Verteilungslinke, Prediger und Staatsoberhäupter und sowieso alle Leute, die abends vor dem TV, Youtube und Twitter sitzen, zu einem Ereignis etwas zu sagen haben – und zwar selbstverständlich aus jenem Diskurs heraus, in dem sie gerade stecken –, dann haben wir es schon mit einem großen Knoten im Diskurs zu tun: mit einem Dispositiv. Die feine Ironie unserer Dispositive ist seit der Aufklärung – das lehrt uns Foucault: Sie machen uns glauben, auf ihrem Grunde läge die Wahrheit. Hier liegen 850 Jahre Wahrheitskampf am Grunde der Notre-Dame, vom Feuer bedroht. Natürlich berührt uns das.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.