„Die Wohnungen wurden verscherbelt“

Interview Die Enteignungsdebatte nimmt Fahrt auf. Ralf Hoffrogge von der Initiative "Deutsche Wohnen & Co Enteignen" erklärt die historischen Wurzeln der Vergesellschaftung
Die Werke denen, die drin arbeiten? Die Enteignungsdebatte wirft grundsätzliche Fragen auf, womöglich auch für Arbeiterinnen und Arbeiter wie diese im BMW-Werk Leipzig
Die Werke denen, die drin arbeiten? Die Enteignungsdebatte wirft grundsätzliche Fragen auf, womöglich auch für Arbeiterinnen und Arbeiter wie diese im BMW-Werk Leipzig

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Herr Hoffrogge, wie kommt es, dass das Grundgesetz die Enteignung und Vergesellschaftung von Wohnungskonzernen ermöglicht?

Artikel 15 hat seine Wurzeln in der Novemberrevolution von 1918. Die Arbeiterinnen und Soldaten haben nach dem 1. Weltkrieg für politische Demokratie gekämpft – also die Republik – und dafür, dass diese Demokratie nicht vor dem Fabriktor Halt macht. Sie wollten Wirtschaftsdemokratie. Zwei ihrer Errungenschaften haben es bis in die Bundesrepublik geschafft: Betriebsräte – und die Möglichkeit, Eigentum zum Wohle der Allgemeinheit zu sozialisieren.

In Artikel 15 steht: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“

Es war die SPD, die dafür gesorgt hat, dass dieser Artikel 1949 in das Grundgesetz übernommen wird, wobei allerdings auch Teile der CDU gerade in der Bodenfrage sehr für Gemeinwirtschaft waren. Vorlage für den Artikel war die Weimarer Reichsverfassung. Darin regelte der Artikel 156 die Vergesellschaftung: „Das Reich kann durch Gesetz, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen.“ Dieser Artikel wiederum fußt auf einem Beschluss des Reichsrätekongresses im Dezember 1918. Dort wurde dann der Beschluss gefällt: „Mit der Sozialisierung aller dazu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen.“

Zur Person

Ralf Hoffrogge ist Historiker in Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Geschichte der Arbeiterbewegungen und der Gewerkschaften. Seit 2014 ist er Redaktionsmitglied der Zeitschrift Arbeit – Bewegung – Geschichte

Welche Industrien galten als reif für die Sozialisierung?

Es gibt keine ordentliche Definition dieses Begriffes. Diskutiert wurden Industrien, die für die Gesellschaft eine zentrale Bedeutung haben und deshalb politisch kontrolliert werden sollten. Ein Paradebeispiel dafür war 1918 der Bergbau, denn Kohle war der primäre Energieträger jener Zeit. Definitiv nicht dazu zählten kleine Handwerksbetriebe wie Schuhmacher, Handarbeiter, Gastwirte – die galten eher als Arbeiterklasse.

Und dann wurde der Bergbau sozialisiert?

Leider nein. Der Beschluss der unverzüglichen Sozialisierung ist mit einer Mehrheit aus USPD und MSPD gefällt worden, beide Arbeiterparteien. Die Spartakusgruppe war damals noch in der USPD, ein KPD gab es noch gar nicht. Die Tragik der Novemberrevolution ist, dass diese weitreichenden sozialdemokratischen Beschlüsse nicht umgesetzt wurden.

Wieso nicht?

Der Rätekongress war der Auffassung, dass die Sozialisierung sofort durchgeführt werden muss – weil dies durch revolutionäres Recht gedeckt sei. Gewählt war er im Dezember 1918 von allen Arbeiterinnen und Soldaten in Deutschland, er hatte also – anders als die wild zusammengewürfelten Räte der ersten Stunde – das Mandat für derartige Entscheidungen. Die SPD hielt sich aber nicht daran, sondern bestand darauf, dass erst mal eine nationale Wahl für ein Parlament stattfindet, eine Verfassung ausgearbeitet und erst dann mit der Sozialisierung begonnen wird.

Und die Nationalversammlung beschloss die Sozialisierung nicht.

Nein, es gab in der im Januar 1919 gewählten Weimarer Nationalversammlung keine Mehrheit für eine solche Sozialisierung. USPD und SPD hatten keine Mehrheit, die KPD hatte die Wahl boykottiert. Die Nationalversammlung wurde ja nicht nur von Arbeitern gewählt, sondern von allen Bürgerinnen. Deshalb heißt die Weimarer Republik auch nicht Republik, sondern Deutsches Reich. Die Regierung setzte eine Sozialisierungskommission ein, die die Frage immer weiter vertagte. Bis 1920 hatte man noch immer nichts sozialisiert, dann gab es den Kapp-Putsch von rechten Militärs; es war ein wildes Hin und Her aus Revolution und Konterrevolution.

Aber in der Weimarer Verfassung wurde der Sozialisierungsbeschluss in Artikel 156 doch übernommen?

Vorsicht, der Beschluss wurde nicht übernommen, sondern lediglich die Möglichkeit! Die Logik im Artikel war nun nicht mehr: „Mit der Sozialisierung ist unverzüglich zu beginnen“, sondern: „Auf Grundlage eines Gesetzes ist es verfassungskonform, eine Sozialisierung umzusetzen.“

Und wieso wurde dieser Artikel nicht genutzt?

Er wurde genutzt, es ist komplizierter. In der Weimarer Verfassung bestand der Artikel 156 zur Sozialisierung aus mehreren Teilen, ersterer regelt die Überführung von Privat- in Gemeineigentum, ein weiterer Absatz ermöglichte den Zusammenschluss wirtschaftlicher Unternehmungen. Dieses Modell wurde in der Kohleindustrie umgesetzt, das heißt, es entstand kein Gemeineigentum, sondern ein staatlich organisierter monopolkapitalistischer Zusammenschluss. Nach wie vor hatten die Unternehmer das Sagen, mussten jedoch gewerkschaftliche Organisation und eine Aufsicht des Reichswirtschaftsministeriums ertragen. Die Konstruktion wurde von den Nazis übernommen – ohne Gewerkschaften. Für die Kriegswirtschaft war sie sehr effizient. Dieser Teil des Artikels wurde dann nicht im Grundgesetz übernommen – wohl aber jener erste Teil, der den Verfassungskompromiss zum Eigentum ausmacht.

Wie sieht der aus?

Einerseits ist das Privateigentum geschützt, aber andererseits verpflichtet es und man kann es sozialisieren, wenn man ein entsprechendes Gesetz verabschiedet und entschädigt. Auf diese Weise wird Wirtschaftsdemokratie weiterhin ermöglicht, auch in der Bundesrepublik.

Über Enteignung und Vergesellschaftung wird derzeit deshalb diskutiert, weil eine Volksinitiative in Berlin die Rekommunalisierung großer Wohnkonzerne fordert. Wurde 1918 auch schon die Vergesellschaftung von Wohnraum diskutiert?

Nein, die Wohnungen waren damals auch nicht im Besitz börsennotierter Großkonzerne, die es noch gar nicht gab, sondern von Einzelpersonen. Der Wohnungsmarkt war nach dem 1. Weltkrieg zudem komplett staatlich zwangsverwaltet. Es gab eine absolute Mietpreisbegrenzung, die Mieten waren eingefroren. Zusätzlich wurde massiv gemeinwirtschaftlicher Wohnungsbau betrieben: Die Regierung zog ab 1924 eine Hauszinssteuer von Immobilienbesitzern ein, und dieses Geld wurde an die Kommunen verteilt, damit sie bauen können. Landeseigene Wohnungsbauunternehmen wurden gegründet, Genossenschaften gefördert. Eine bunte, staatlich finanzierte Gemeinwirtschaft hat sich entwickelt, auf diese Weise wurden in der Zeit von 1924 bis 1930 hunderttausende Wohnungen gebaut, zu sozial gebundenen Preisen. Und dieser Wohnraum hat in Städten wie Berlin 80 Jahre lang die Preise gesenkt.

Bis in die 2000er Jahre hinein?

Bis das neoliberale Denken diese gemeinwirtschaftliche Form des Wohnungswesens ablöste. Bis 1990 gab es für die Gemeinwirtschaft im Wohnungsbau eine Rechtsform: Die Wohnungsgemeinnützigkeit regelte Steuervorteile für Wohnungsunternehmen, die keinen Profit machen. Das galt für viele Genossenschaften. 1990 wurde es abgeschafft. In Berlin gab es den großen Bruch mit dem gemeinwirtschaftlich geprägten Wohnungswesen dann um 2004 herum, als zwei sozialdemokratische Parteien, die PDS und die SPD, diese Wohnungen zehntausendfach verscheuert haben, um Haushaltslöcher zu stopfen.

Immerhin 300.000 der damals knapp 500.000 Wohnungen sind doch noch in kommunaler Hand, mehr als die Hälfte.

Ja, aber die kommunalen Wohnungsunternehmen in Berlin haben sich in dieser Phase teilweise sogar schlimmer verhalten als manche private: Sie sind vom Staat angehalten worden, eine Gewinnmaximierung zu betreiben, um die Haushaltslöcher zu stopfen. Sie haben die Mieten erhöht, weil sie Cash-Maschinen für den Staat waren. Das war möglich, weil sie in private Rechtsformen gegossen waren, GmbHs und Aktiengesellschaften, kaum Transparenzpflicht unterlegen und profitorientiert wirtschaftend.

Sie haben an dem Beschlussvorschlag mitgearbeitet, den das Volksbegehren zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ vorlegen will. Wie konkret wollen Sie dafür sorgen, dass nach der Rekommunalisierung der Wohnkonzerne stärker gemeinwohlorientiert gewirtschaftet wird?

Die Kampagne schlägt vor, eine Anstalt öffentlichen Rechts zu gründen, mit der die rekommunalisierten Wohnungsbestände verwaltet werden. Eine AöR ist keine private Rechtsform, weil darin gesetzlich festgelegt wird, was ihr Auftrag ist und wer sie regiert. Wir schlagen vor, einen Verwaltungsrat einzusetzen, der aus 15 Vertretern aus der Gesellschaft besteht, paritätisch besetzt mit Vertretern aus dem Berliner Senat, den Mieterinnen und Mietern, den Angestellten der dann kommunalisierten Wohnungsunternehmen und mit direkt gewählten Menschen aus der Stadtgesellschaft.

Wozu der Verwaltungsrat? Was ist mit der alten Forderung: „Die Häusern denen, die drin wohnen?“

Hier sind wir bei einer Debatte über demokratische Formen der Sozialisierung, die auch 1918 geführt wurde. Der Sozialdemokrat und spätere Kommunist Karl Korsch wies darauf hin, dass eine reine Arbeiterherrschaft keine Vergesellschaftung gewährleistet. Für heute gedacht gelte dann ja: die Atomkraftwerke den Atomkraftwerkern, BMW den BMWlern. Die gesellschaftlichen Folgen dieser Technologien, CO2-Ausstoß und Atommüll, können so aber nicht mehr kontrolliert werden. Analog bedeutet das für die Wohnungswirtschaft, dass die demokratische Kontrolle nicht nur durch die betroffenen Mieterinnen und Mieter alleine geschehen kann – denn warum sollten nur die Menschen über Häuser bestimmen, die zufällig dort wohnen?

Kann dann nicht einfach der Senat darüber bestimmen?

Die Erfahrung zeigt, dass auch hier keine lebendige demokratische Verwaltung zustande kommt, sondern die Bürokratie herrscht. 2017 zum Beispiel wollte die landeseigene Degewo eine Mieterhöhung von 15 Prozent für ihre 1.500 Sozialwohnungen durchsetzen, obwohl die Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) zuvor festgelegt hatte, dass die Landeseigenen die Miete nicht mehr anheben dürfen. Erst nach Protesten der Mieterinnen konnte Lompscher sich durchsetzen – in ihrem eigenen Unternehmen! Und selbst da musste sie zurückrudern: Erhöht wurden die Mieten um zwei Prozent, das ist jetzt die jährliche Obergrenze.

Wieso ist es für den Senat so schwer, die landeseigenen Unternehmen zu führen?

Es ist ein bisschen verrückt: Die landeseigenen Unternehmen werden nicht direkt vom Senat verwaltet, sondern es gibt Kooperationsverträge zwischen dem Senat und den privatwirtschaftlich verfassten Unternehmen. Ohne rechtlich bindende Gemeinwohlorientierung gibt es keine Pflicht zum sozialen Vermieten, auch in kommunalen Unternehmen. Daher der Vorschlag einer Anstalt öffentlichen Rechts .

Sind die Mieterinnen denn überhaupt bereit, sich über Mieterräte an der Verwaltung des Berliner Wohnungsbestands zu beteiligen? Das ist ja auch zeit- und energieaufwendig ...

Das ist eine wichtige Frage, über die man selbstverständlich öffentlich diskutieren muss! Wir sind dazu bereit, aber alle wollen lieber über die Milliarden diskutieren, die für die Entschädigung angeblich fällig werden. Dabei kann Vergesellschaftung haushaltsneutral gestaltet werden – denn die Wohnungen bringen ja jährlich riesige Einnahmen, die eine Entschädigung komplett refinanzieren. Und: Die eigentlich spannende Frage ist doch, wie man ein riesiges Unternehmen demokratisch verwalten kann! Das ist nicht einfach.

Und die Enteignungsdebatte geht über den Wohnungsmarkt hinaus. Kevin Kühnert sinnierte über die Kollektivierung von Automobilkonzernen, Jürgen Trittin über die Vergesellschaftung der Energieinfrastruktur.

Das ist interessant, denn das heutige Äquivalent zum Bergbau des frühen 20. Jahrhunderts wäre tatsächlich die Energieinfrastruktur: nicht jede Solarpfanne auf dem Dach, sondern Kraftwerke und Netze. Das wäre nötig, um demokratische Kontrolle über die Energieversorgung zu gewinnen – mit allem sozial-ökologischen Umbau, der notwendig ist.

In Berlin gab es 2013 ein Volksbegehren zur Rekommunalisierung der Energienetze – das scheiterte: Zwar votierten 83 Prozent der Abstimmenden mit Ja, aber das Quorum von 25 Prozent aller Wahlberechtigten wurde knapp nicht erreicht. Gibt es bald ein bundesweites Volksbegehren zur Rekommunalisierung der Energienetze?

Nein, das funktioniert leider nicht so einfach. In Berlin gibt es so viele Volksbegehren, weil wir seit den 1990ern eine funktionierende Volksentscheidsregelung auf Landesebene haben. Auf Bundesebene dagegen gibt es keine Volksentscheide. Gleichzeitig können nur Länder vergesellschaften, denn es gibt auch kein Bundesvergesellschaftungsgesetz.

Die FDP hat einen anderen Vorschlag, mit Ihrem Volksbegehren umzugehen. Seit einem Parteitag im April wollen die Liberalen Artikel 15 abschaffen und Vergesellschaftung für verfassungswidrig erklären.

Das würde dann bedeuteten, den langjährigen Verfassungskompromiss zum geschützten, aber der Allgemeinheit verpflichteten Privateigentum über Bord zu werfen, der in der Weimarer Verfassung festgeschrieben und in der Bundesrepublik übernommen wurde. Das wäre die Vollendung des Neoliberalismus: eine Wirtschaft, die sich vollständig von jeder demokratischen Kontrolle entkoppelt.

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