„Einander kennen?“, fragt Danton verzweifelt seine Frau Julie. „Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“ Der Revolutionär hadert kurz vor seiner Guillotinierung mit der Empathie, ja, der Fähigkeit zur zwischenmenschlichen Verständigung überhaupt. Kann ein Mensch denn wissen, wer die Person neben ihm ist? Was sie will? Was ihre Welt ausmacht? Was ihre Interessen sind?
Joe Biden kann es. Der US-Präsidentschaftskandidat der Demokratinnen hat es eben erst wieder gesagt: Er wird ein Präsident für alle Bürger sein, für jene, die für ihn stimmen, ebenso wie für jene, die ihn nicht wählen. „Das ist die Aufgabe eines Präsidenten. Er muss ganz Amerika repräsentieren.“ Ähnlich familienoberhäuptliche Worte kennt man in Deutschland vom Bundespräsidenten. Oder von Bodo Ramelow, der sein Thüringen vor das Parteibuch schiebt. Oder Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. Repräsentative Demokratie ist schon cool: Der Präsident, der repräsentiert einfach alle. Selbst wenn er ein Mann ist, repräsentiert er auch Frauen. Selbst wenn er ein Weißer ist, repräsentiert er auch People of Color. Weil er alle, alle Interessen kennt. Im Blick hat. Und vertritt. Die Verkörperung der Nation in all ihren Ausprägungen. Wow.
Wenn Politiker solche Superhelden sind, ist ihr Geschlecht natürlich völlig egal für ihre politische Leistung. So argumentieren in Brandenburg auch die Gegner des Paritätsgesetzes, welches SPD, Linke und Grüne Anfang 2019 auf den Weg gebracht hatten: Auf jeder Wahlliste müssen sich männliche und weibliche Kandidatinnen quotiert abwechseln. Nach einer Klage von AfD und NPD befasst sich das Landesverfassungsgericht nun mit der Frage, ob das Gesetz die Parteifreiheit einschränkt – mit dieser Begründung war im Juli in Thüringen ein ähnliches Paritätsgesetz gekippt worden. Auch in Brandenburg signalisierte der Präsident des Verfassungsgerichts, Markus Möller, Bedenken: „Kann man sich bei der Wahl nicht an dem Recht des Einzelnen orientieren, sondern an der Zugehörigkeit zu einer Gruppe? Das erscheint problematisch.“
Der Parteienfreiheit zugrunde liegt folgende Logik: Abgeordnete vertreten die Ansichten ihrer Partei, und je mehr Menschen diese teilen, desto stärker die Fraktion. Wenn alle für ihr Interesse wählen, dann ist an alle gedacht. Und da Frauen ja für ihr Interesse wählen dürfen, ist an Frauen eben auch gedacht. Na ja, zumindest seit 1918.
Klingt gut, aber dann sind da diese Zahlen: Der Anteil von weiblichen Abgeordneten im Bundestag liegt bei 31 Prozent – obwohl Frauen die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Braucht die Gleichberechtigung in den Parlamenten einfach mehr Zeit? 31 Prozent in 100 Jahren, das ist ein beeindruckendes Schneckentempo an Gleichberechtigung. Zumal der Fortschritt keiner mehr ist: Seit 2017 herrscht im Deutschen Bundestag nicht mehr, sondern weniger Gleichberechtigung als zuvor, als der Frauenanteil noch 36,3 Prozent betrug. Ähnlich sieht es in den Landesparlamenten aus. Die Gleichstellung entwickelt sich zurück.
Revival der Ständegesellschaft
Maßgeblich treibt diese Entwicklung die AfD voran. Ihr Frauenanteil im Bundestag liegt bei elf Prozent. Im Brandenburger Landtag werden von 23 Fraktionssitzen fünf von Frauen besetzt. Nun ist die Frage: Ist das legitim? Wenn eine Partei der Meinung ist, dass lieber Männer Politik machen sollen, und 23,5 Prozent wählen diese Partei in Brandenburg – dann ist diese sexistische Politik halt von einem Teil der Bevölkerung gewollt. Vom zweitgrößten Wählerteil der Bevölkerung.
Andererseits ist die Herstellung von Gleichstellung gesetzlich vorgeschrieben. Es ist also nicht legitim, auf das Geschlechterverhältnis zu pfeifen. Was ist wichtiger: Parteienfreiheit oder Gleichstellung? Diese Frage klären nun Verfassungsgerichte, dahinter steckt aber eine tiefere demokratietheoretische Frage: Gibt es diesen freien, von seinem Geschlecht unabhängigen Superpolitiker – oder sind Menschen, auch Politiker, in ihrer sozialen Perspektive gefangen, weshalb alle Perspektiven im Parlament vertreten sein müssten? „Das sind Vorstellungen ständischer Art, dass man irgendwie seine Gruppe vertritt, dass man nur die Zimmerleute, dass man nur die Adeligen vertritt. Das ist gottlob nun wirklich seit 200 Jahren überwunden“, argumentiert der Staatsrechtler Martin Morlok im Deutschlandfunk. Die Überlegung, nur Frauen könnten weibliche Perspektiven vertreten, gehört für ihn in die Ständegesellschaft, ins Mittelalter.
Neben der Frage, welche sozialen Perspektiven Politiker zu vertreten in der Lage sind, stellt sich noch eine andere: Wieso sollte der soziale Unterschied zwischen den Geschlechtern der einzige auszugleichende sein? Konkret fragte die AfD-Landtagsabgeordnete Birgit Bessin in Brandenburg: „Was kommt als Nächstes, welche Quotenregelungen lassen Sie sich noch einfallen? Ist Ihnen irgendwann das Parlament zu alt oder zu jung?“ Aktuell ist diese Provokation leicht zu entkräften: Der im Grundgesetz verankerte Gleichstellungsauftrag gilt nur für Männer und Frauen, nicht für andere soziale Gruppen. Dort heißt es: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Es gibt keinen ähnlich formulierten Auftrag für die Gleichstellung von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne Behinderung, jungen und alten Menschen. Lediglich die Festlegung eines Diskriminierungsverbots.
Aber: Wer bestimmt denn, dass die Gleichstellung der Geschlechter wichtiger ist als andere? In der Bevölkerung hat rund ein Viertel der Menschen Migrationshintergrund, weiße Migrationshintergründe (mit Eltern etwa aus den USA, Frankreich, Großbritannien) mit eingerechnet. Im Bundestag haben jedoch nur 58 Abgeordnete einen Migrationshintergrund, das sind acht Prozent. Gilt in Hinblick auf andere Identitäten, zwischen denen strukturelle soziale Ungleichheit herrscht, nicht das Gleiche wie für das Geschlecht? Muss man sich hier nicht auch die Frage stellen, ob Abgeordnete, deren soziale Realität eine andere ist als die von Arbeiterinnen, von Migrantinnen, die Interessen dieser Bevölkerungsgruppen vertreten können?
Seit der Aufklärung gilt der Glaube, dass das geht. Dass man sich durch Austausch, Medien, Debatte, durch Anhörungen, durch Beauftragte das Wissen aneignen kann, welche anderen Interessen als die ganz subjektiv eigenen politisch wichtig sind. Empathie. Solidarität. Aber genau diese Fähigkeit stellt Georg Büchner in seinem eingangs zitierten Drama Dantons Tod infrage, indem er seinen Protagonisten Robespierres Fähigkeit zur Volksvertretung bezweifeln lässt: „Bist du der Parteisoldat des Himmels?“ Dem entgegen stellt Danton sein Menschenbild: „Jeder handelt seiner Natur gemäß, d. h. er tut, was ihm wohltut.“
Was ihm wohltut. Was einem weißen männlichen Abgeordneten wohltut, ist aber nicht das Gleiche wie das, was einer Frau oder einer Person of Color wohltut. Sonst wäre Vergewaltigung in der Ehe wohl nicht erst Ende der 1990er Jahre unter Strafe gestellt worden. Sonst wäre die Notwendigkeit einer Untersuchung von Racial Profiling in der Polizei wohl nicht vom weißen Bundesinnenminister gestoppt worden.
Es ist nicht einfach eine Modeerscheinung, dass den zwei Postulaten der Französischen Revolution – Freiheit und Solidarität – weniger vertraut wird und man sich stärker dem Kampf um Gleichheit widmet. Marginalisierte Bevölkerungsgruppen bauen nicht länger auf andere, sondern darauf, ihre eigene Stimme zu stärken und sich selbst zu vertreten. Es ist die Erfahrung, dass die Interessen marginalisierter Gruppen von ihren privilegierten Gegenspielern politisch nicht vertreten werden. Man kann das Identitätspolitik nennen. Und hier kommt die AfD-Propaganda-Frage ins Spiel: Wenn in Zukunft jede soziale Gruppe ihre eigene Identität im Parlament vertreten sehen will, setzen wir den Bundestag in Zukunft tatsächlich nach Zahlen des Statistischen Bundesamts zusammen?
Frankreich macht es vor
So absurd ist das gar nicht. Es existieren bereits Demokratieformen, in denen sich das Parlament nicht nur aus verschiedenen Parteien zusammensetzt, sondern auch aus Vertretungen sozialer Gruppen. Auch in Deutschland gilt für Parteien ethnischer Minderheiten die Fünf-Prozent-Hürde nicht, wie in Schleswig-Holstein für den Südschleswigschen Wählerverband. Oder in Südtirol, wo sich der Proporz des gesamten öffentlichen Wesens an drei gesetzlich anerkannten Sprachgruppen (deutsch, italienisch, ladinisch) gemäß der in Volkszählungen erhobenen Stärke orientiert. Oder im Libanon, wo ein Proporz dafür sorgt, dass alle Religionsgruppen am politischen System beteiligt sind. Eine Proporzdemokratie nennt man ein System, das alle relevanten sozialen Gruppen in den politischen Entscheidungsprozess einbezieht und so soziale Spaltungen verkleinert. Auch Paritätsgesetze für Geschlechter sind in westlichen Demokratien bekannt: In Frankreich etwa gilt die Parität für Wahllisten per Reißverschlussprinzip schon seit Anfang der 1980er Jahre. Die Idee, Geschlechterungleichheit in der Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen gesetzlich auszugleichen, ist also keine Erfindung genderwahnsinniger roter und grüner Landespolitiker.
Ab wann ist die Gleichstellung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen in einer Gesellschaft aber so relevant, dass man sie strukturell im demokratischen System absichern muss? Ab wann ist eine Identität eine soziale Identität, ab wann ist die Ungleichheit zwischen sozialen Identitäten strukturell?
Die Debatte über Identitätspolitik und über Gleichstellung zwingt alle an der Politik Beteiligten, alte Gewissheiten infrage zu stellen: die Gewissheit, dass die Gleichberechtigung sich mit der Zeit automatisch herstellt. Gesellschaft kann auch ungerechter werden, und das tut sie gerade. Die Gewissheit, dass wir nicht mehr in einer Ständegesellschaft leben. Vielleicht tun wir das noch immer, wenn auch mit durchlässigeren Grenzen zwischen den Ständen – den sozialen Gruppen. Und vielleicht ist die Ständedemokratie, also die Proporzdemokratie, darauf tatsächlich eine Antwort. Und vielleicht muss auch diese Gewissheit fallen: dass der Appell an Solidarität zu Gleichheit führt. Das war eigentlich noch nie so, es brauchte immer Gegenmacht. Ohne die Französische Revolution, in der bürgerliche Männer ihre Macht erkämpften, hätte es keine bürgerliche Demokratie gegeben; der Adel wäre wohl kaum von selbst auf die Idee gekommen, bürgerliche Interessen zu vertreten, um der Gerechtigkeit willen. Ohne die Suffragetten kein Frauenwahlrecht. Ohne Frauen im Parlament keine Debatte über Parität. Ohne Gegenmacht keine Gleichstellung. Auch das ist eine Lehre aus dem Kampf mit der AfD.
Egal, wie das Verfassungsgericht im Oktober im Fall des Brandenburgischen Paritätsgesetzes entscheidet: Die Hälfte der Macht steht den Frauen zu. Niemand wird sie ihnen geben, sie werden sie sich nehmen. Mit Annalena Baerbock, Katja Kipping, mit Aminata Touré in Schleswig-Holstein und Sawsan Chebli in Berlin sind einige auf dem Weg dahin. Dass ein SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz ein Paritätsgesetz als „echten Fortschritt“ bezeichnet, zeigt, wie weit sie bereits gekommen sind. Auch in Hamburg bringt die grüne Justizministerin Anna Gallina nun ein Paritätsgesetz auf den Weg. Und in den USA erleben wir mit Joe Biden und Kamala Harris vielleicht bald eine Form der Proporzpräsidentschaft.
Die vulgär-liberale Idee jedenfalls, dass ein jeder Volksvertreter (sic!) alles zu wissen, alles zu beachten, alles zu können vermag, wird rund 230 Jahre nach Gründung der ersten bürgerlichen Republik hinterfragt. Dabei verlor schon Danton seinen Kopf äußerst beunruhigt: „Ich lasse Alles in einer schrecklichen Verwirrung. Keiner versteht das Regieren.“
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