Wagenknecht und Habeck: Links, grün, fossil – wo bleibt die progressive Energiepolitik?
Meinung Fracking-Gas kaufen, auf Atomenergie setzen und Energiekonzerne retten, wie es die Grünen gerade machen? Die Linke hat bessere Ideen – doch ihre Prominenz ist dafür leider ebenfalls zu reaktionär
Das Problem ist, dass die Grünen in der Krise auf Fracking-Gas und Atomenergie setzen. Und dass diejenige, die genug Prominenz, Charme und Eloquenz hätte, um die Proteste gegen diese reaktionäre Politik anzuführen, im Bundestag bewiesen hat, dass sie das nicht kann – weil sie für prog
genug Prominenz, Charme und Eloquenz hätte, um die Proteste gegen diese reaktionäre Politik anzuführen, im Bundestag bewiesen hat, dass sie das nicht kann – weil sie für progressive Klimapolitik selbst zu reaktionär denkt. Das Problem ist: Es fehlt mitten in Krieg, Klimakrise und Energiekrise, kurz vor einer Wirtschaftskrise, eine progressive Kraft in Deutschland.Lassen Sie es mich gleich klar stellen: Reaktionär nutze ich hier nicht als Synonym für „politisch rechts“. Reaktionär ist eine Einordnung des französischen Staatstheoretikers Montesquieu, der beobachtete, dass politische Prozesse sich im Wechselspiel von Aktion und Reaktion bewegen: Ein Politiker agiert, ein anderer Politiker reagiert (sic! Politikerinnen gab es im 18. Jahrhundert nicht). Auf den deutschen Sprachgebrauch des 21. Jahrhunderts übertragen, geht es also eher um aktive und reaktive Politik. Im Rahmen der Französischen Revolution erhielt „reaktionär“ dann eher die Bedeutung von „rückwärtsgewandt“ und erhielt als Gegenbegriff eher „progressiv“ und „vorwärtsgewandt“. Es fällt schwer, diese Begriffe ohne ihre moralische Färbung zu lesen, doch sollte man dies versuchen – insbesondere in Zeiten tiefer gesellschaftlicher Krisen kann das erhellend sein.Energiedebatten wie vor 25 JahrenReaktiv ist es etwa, auf den russischen Angriff auf die Ukraine Sanktionen zu verhängen oder Nord Stream 2 abzusägen. Reaktiv und rückwärtsgewandt, also reaktionär ist es, die russischen Sanktionen gegen Europa – anders lässt sich die russische Reduktion der Gaslieferungen wohl kaum bezeichnen – mit verlängerter Stromproduktion durch Atomkraftwerke zu beantworten. Wie nennen Sie nun die Politik einer Abgeordneten der Linksfraktion, die die so entstandene Energiekrise mitten in der Klimakrise damit lösen will, die Sanktionen gegen Russland halt wieder aufzuheben?Dass seit Wagenknechts Rede sämtliche Linke auf Twitter und die Mehrheit der Journalist*innen nach der Linken-Vorstandsklausur am Wochenende nur noch über eins reden wollen, nämlich die Positionen der Linkspartei zu den Sanktionen gegen Russland, das wiederum ist so reaktionär, dass man glauben könnte, es gäbe überhaupt keinen einzigen vorwärtsgewandten Gedanken mehr in der Republik. Was in Zeiten von Krieg und Krise leider keine Seltenheit ist.Wäre da nicht Claudia Kemfert. Vom Deutschlandfunk über die Welt bis zum ZDF versucht die Energieökonomin verzweifelt, die Debatte progressiv zu wenden: „Überraschend ist“, moniert Kemfert, „dass im Jahr 2022 die Diskussionen noch immer komplett identisch sind mit allen rückwärtsgewandten Energiedebatten der letzten 25 Jahre. Es geht immer und ausschließlich um Technologien der Vergangenheit – von Atomkraft über Fracking und Flüssiggas bis zu Kohle.“ Sie fragt: Wenn innerhalb von vier Monaten LNG-Gasterminals in die Nordsee gebaut werden können, mitsamt der dafür gebrauchten Infrastruktur zum Abtransport des Gases – wieso können wir nicht ebenso schnell Windräder und Stromtrassen bauen? Wieso diskutieren wir nicht über Lastmanagement, Energiespeicher, dezentrale Netzinfrastruktur?Berliner Stadtwerke sollten 100 Prozent erneuerbare Energie erzeugenDass die inmitten einer Krise regierenden Grünen lieber auf Nummer Sicher gehen – und die alten Antworten kann man immer besser einschätzen als neue –, das mag man nachvollziehen. In solchen Zeiten ist die Opposition in der Verantwortung, die Regierung zu größerem Reformwillen anzutreiben. Und tatsächlich versucht die Linke-Spitze ebenso verzweifelt wie Kemfert, mit progressiven Ideen durchzudringen: Janine Wissler und Martin Schirdewan fordern die Verstaatlichung der Energieinfrastruktur und der Stromkonzerne. Das klingt nach der seit ungefähr 100 Jahren immer gleichen linken Antwort für alles – also reaktionär und rückwärtsgewandt –, aber kann, richtig angestellt, progressiv sein: 2013 legten Berliner Klimainitiativen einen Gesetzesentwurf für die Rekommunalisierung der Stadtwerke und der Energienetze vor, der es in sich hatte:Die Stadtwerke sollten 100 Prozent erneuerbare Energie erzeugen und vertreiben; sie sollten Energie einsparen, Private bei Vorhaben zum Energiesparen und zur dezentralen Erzeugung von erneuerbaren Energien beraten. Die Stadtwerke sollten explizit die Aufgabe erhalten, Energiearmut entgegenzuwirken: Stromsperren sollten verboten werden, einkommensschwache Haushalte für die Anschaffung sparsamer Haushaltsgeräte gefördert werden. Und: Die Stadtwerke und Netzgesellschaft sollten durch einen Verwaltungsrat kontrolliert werden, dem neben Wirtschafts- und der Umweltsenator sieben Vertreter*innen der Beschäftigten angehören sollten – und sechs von allen Wahlberechtigten direkt gewählte Verwaltungsratsmitglieder. Auf demokratischen Versammlungen sollten in jedem Berliner Bezirk einmal jährlich die Angelegenheiten der Stadtwerke und der Netzgesellschaft diskutiert werden.In Berlin wurde das Energienetz inzwischen rekommunalisiert. Nun zeigt sich hier, dass die Verstaatlichung von Netzen allein nicht progressiv ist: Das wird es erst, wenn es dem Staat dann auch gelingt, die Stromnetze bundesweit von ihrer zentralen Ausrichtung auf wenige fossile und Atomkraftwerke umzubauen in die dezentrale Versorgung von vielen kleineren erneuerbaren Energiequellen. Dafür müssen die Energiekonzerne mitziehen. Wenn man jetzt sowieso Energieversorger wie Uniper mit riesigen staatlichen Hilfen durch die Gasumlage „rettet“ – wieso sollte man ihre Strompolitik dann nicht gleich auch so regulieren dürfen, dass sie der Gesellschaft helfen?Progressive Energiepolitik bei Sahra Wagenknecht kein ThemaHätte man 2013 schon die radikal ökologischen und sozialen Vorschläge zur staatlichen Lenkung von Energieerzeugung und dezentralen Netzen umgesetzt, und zwar bundesweit, wären wir heute nicht in dieser Krise – sondern weit unabhängiger von russischem Gas. Das wäre 2013 progressive Politik gewesen. Die Regierungen aber entschieden, diese Frage dem Markt zu überlassen. Und das ist nun mal das Dumme an Märkten: Sie reagieren.Wie gestaltet eine Gesellschaft ihre Energieversorgung im Gegenteil progressiv, also nachhaltig, sozial – und demokratisch? Ulrich Schneider vom Paritätischen hat diese Frage immer wieder gestellt – eine zentrale Frage in Zeiten einer Energiekrise. Er war damit bei der Linken ganz richtig, denn die hat dazu eine Menge Know-how angesammelt. Doch von all diesem linken Know-how hörte man in der Rede der wichtigsten Linke-Politikerin im Bundestag exakt: null Komma nichts. Das ist das Problem.
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