„Es ging nie um Frieden in Afghanistan“

Interview Tausende Demokrat:innen versuchen aus Kabul zu fliehen. Eine entkommene Feministin übt scharfe Kritik an der Bundesregierung
Ausgabe 33/2021

Am Sonntag standen die Taliban in Kabul. Panisch flohen Menschenrechtlerinnen zum Flughafen, es kam zu chaotischen Szenen. 10.000 Ortskräfte will die Bundesregierung nun ausfliegen. Die Feministin Paniz Musawi Natanzi konnte sich als deutsche Staatsbürgerin nach Leipzig in Sicherheit bringen – ihren Ehemann, den afghanischen Fotografen Ramin Rahman, musste sie zunächst in Kabul zurücklassen.

der Freitag: Frau Musawi Natanzi, wie geht es Ihnen jetzt?

Paniz Musawi Nazanzi: Ich fühle mich etwas erleichtert, weil mein Mann nun in Sicherheit ist. Ein US-amerikanisches Flugzeug flog ihn gerade nach Doha aus. Aber seine Familie und unsere Freunde stecken in Afghanistan fest und sind in Gefahr.

Was hören Sie über die Situation in Kabul?

Die Taliban patrouillieren auf den Straßen. Frauen trauen sich nicht, die Wohnung zu verlassen. Es wurden jedoch auch Frauen gesehen, die weiterhin bescheidene islamische Kleidung tragen, aber keinen Chadari – afghanisch für Burka. Gleichzeitig machen einige Männer Selfies mit den Taliban. Die Talibanführung hat gesagt, sie sollen Gewalt vermeiden und die Infrastruktur nicht zerstören.

Also stimmt die Erzählung von den gemäßigteren Taliban?

Das kann man so nicht sagen. Die Taliban haben sich zwar verändert seit den 1990ern. Viele von ihnen nutzen etwa Apps wie TikTok und andere soziale Medien. Aber in den eroberten Provinzen wurde auf Flyern angekündigt, dass der Schleier nicht mehr erlaubt ist – nur die Burka. Ein weiteres Taliban-Dokument kündigt an, dass junge ledige und verwitwete Frauen zwangsverheiratet werden. Es trägt den offiziellen Stempel der Taliban: „Islamische Emirate“. Viele unverheiratete Freundinnen verstecken sich nun bei Freunden, um nicht so einfach ausfindig zu sein.

Die Situation ist unübersichtlich.

Wir sind in einer Putschsituation. Die Taliban konzentrieren sich darauf, die Kontrolle zu übernehmen – dazu gehören Regierungsgebäude, Banken und Straßen. Aber wie ihre Frauenpolitik konkret aussehen wird, kann man jetzt nicht sagen: Werden sie Frauen wieder mit Gewalt domestizierten oder integrieren sie sie in ihren Staats-, Militär- und Polizeiapparat, wie die Islamische Republik Iran? Ich habe in den vergangenen Jahren mit Frauen gearbeitet, die in gewaltsamen Ehen gelebt haben. Sie haben es jetzt noch schwieriger, sich davon zu befreien. Frauenhäuser und Frauengefängnisse sind zudem ein Angriffsziel für Taliban: Für die sind das nichts anderes als Bordelle.

Sie selbst sind derzeit in Leipzig. Wann haben Sie entschieden, Afghanistan zu verlassen?

Ich bin Ende Juli eigentlich nur für meine zweite Corona-Impfung nach Deutschland gekommen. Anfang August wurde mir klar, dass ich nicht zurückkehren kann.

So spät erst?

Ja. In Kabul waren viele der Meinung, dass die Taliban erst in sechs Monaten bis in die Stadt vorrücken würden. Ich war da pessimistischer. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, und wie alle hier kenne ich die Geschichten von den Jüd:innen, die viel zu spät ausgereist sind, weil sie sich nicht vorstellen konnten, wie schnell die Nazis das politische System übernehmen werden. Das ist aber kein historischer Vergleich. In Afghanistan wurde seit Beginn des Abzuges der US-Truppen eine Provinz nach der anderen erobert. Soldaten des afghanischen Militärs haben den Taliban Waffen und Tanker hinterlassen oder sind weggelaufen. Das waren alles Gründe, warum ich schon viel früher zu meinem Mann sagte: Ramin, das wird schneller gehen.

Aber er glaubte Ihnen nicht?

Niemand wollte das glauben: es ist einfach zu verstörend. Dass die Taliban wirklich zurückkommen würden, nach Kabul: Das war für die urbane, junge und gebildete Schicht unvorstellbar, die während des Bürgerkrieges und der Machtübernahme durch die Taliban in den 1990ern im Kindesalter war und während des vermeintlichen staatlichen Aufbaus der NATO hier aufgewachsen ist.

Zur Person

Foto: privat

Paniz Musawi Natanzi arbeitet seit 2015 als Politikwissenschaftlerin und Beraterin zu zu Geschlechter- und Migrationspolitik sowie Kunstproduktion unter Kriegsbedingungen in Afghanistan, im Iran und Pakistan. Sie wuchs in Lübeck auf, studierte in Berlin, promovierte in London. Seit 2019 lebte sie mit ihrem Mann in Kabul

Selbst der Bundesaußenminister Heiko Maas ging noch im Juni nach eigener Aussage nicht davon aus, dass die Taliban so bald das Zepter übernehmen würden. Wie ist das möglich?

Die Deutschen waren in den Verhandlungen der USA mit den Taliban in Katar 2020 nicht involviert. Aber dass die Bundesregierung nicht wissen konnte, dass die Machtübernahme der Taliban bevorsteht – das kann ich mir nicht vorstellen. Seit Doha hätte man die Evakuierung vorbereiten müssen. Seit Beginn des US-Abzugs hätte man damit beginnen müssen.

In Deutschland ist in diesem Jahr Wahlkampf.

In solch einer Zeit gibt es kein großes Interesse daran, zuzugeben, dass in Afghanistan nichts okay ist. Aber auch die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), mit der ich gearbeitet habe, war vor allem an Berichten über Leute interessiert, die sich nach ihrer Abschiebung in Afghanistan durch deutsche Hilfen gut integrieren konnten. Solche Erfolgsgeschichten konnte ich in den letzten Monaten nicht liefern.

Sondern, welche Geschichten haben Sie gesehen?

Ich habe etwa mit einem 22-Jährigen gearbeitet, der noch im Januar von Deutschland aus nach Afghanistan abgeschoben wurde. Das einzige, was ich für ihn machen konnte: ihm eine Ausbildung zum Schneider zu vermitteln. Er kann nun nicht ausreisen, hat keinen Pass. In dem Gasthaus einer lokalen Nichtregierungsorganisation, in der Rückkehrende aus der EU nach ihrer Ankunft unterkommen, habe ich absolut verlorene Menschen gesehen. Verzweifelte. Traumatisierte. Depressive.

„So läuft das“

Wann kippte die Lage im Land?

Im Frühjahr war klar: Die afghanischen Soldaten riskieren ihr Leben nicht für diesen „Staat“. Die rasante Eroberung von Herat sowie der Provinzen im Norden des Landes schränkte die Mobilität der Menschen dann sehr schnell ein.

Aus der Deutschen Botschaft hieß es nun, sie habe schon vor Wochen an das Auswärtige Amt appelliert, die Evakuierung zu beginnen.

Die Deutsche Botschaft hat sich trotz der katastrophalen Lage beste Mühe gegeben. Aber den Mitarbeitenden waren die Hände gebunden, sie waren selbst hilflos. Uns konnten sie nur sagen: Sie können nichts tun. Wir mussten warten. Wir waren verzweifelt. In so einer Situation in einer Warteschlange zu stehen, kann tödlich sein.

Seit wann haben Sie beide versucht, Afghanistan zu verlassen?

Einen Antrag auf Familienzusammenführung habe ich im Januar 2020 gestellt – nichts ist passiert. Seit Frühjahr dieses Jahres haben wir verstärkt versucht, ein Visum für meinen Mann zu bekommen, auch auf dem Schwarzmarkt. Ich meine damit ein offizielles Visum der türkischen Botschaft, für das man statt der normalen 150 Dollar aber 3.000 Dollar bezahlt.

Korruption.

Ja, da sitzen ein paar Leute in der türkischen Botschaft, die sich gerade dumm und dämlich verdient haben. Ende vergangener Woche schloss sogar der Schwarzmarkt bei Visapreisen von 5.000 Dollar.

Wie kam Ihr Mann dann in die amerikanische Maschine nach Doha?

Er ist Fotograf und Sozialarbeiter, hat viel mit deutschen Journalisten zusammengearbeitet, auch für die Deutsche Presse-Agentur. Ein Kollege meldete sich am Freitag und setzte ihn auf die Liste der Deutschen Botschaft.

So läuft das also?

Ja. So läuft das. Man braucht deutsche Kontakte. Auf der Liste stehen Ortskräfte, die beim Militär oder der Polizei waren, oder Leute, die mit deutschen Ministerien oder der GIZ zusammengearbeitet haben, und das haben mein Mann und ich. Aber ohne Kontaktperson bei den Organisationen kommt man auf keine Liste. Ich bin meinen Kolleginnen sehr dankbar, ohne die wäre er jetzt noch dort.

Die Lage am Kabuler Flughafen war chaotisch, wie ist Ihr Mann da durchgekommen?

Die Innenstadt war am Sonntag bereits mit dem Auto unpassierbar, er lief große Teile zu Fuß. Der Flughafen war dann sehr voll, über den Tag wurden erstmal alle Ausländer ausgeflogen: US-Amerikaner und Europäerinnen. Die verbliebenen Afghan:innen gingen abends auf das Rollfeld, wo sie stundenlang warteten. Die Gerüchte gingen los: Die Deutschen schicken ihre Flugzeuge morgen, Kanada nimmt Leute, und so weiter. Schließlich kamen vier amerikanische Militärflugzeuge, dann das Chaos: Es war unklar, wen die Amerikaner mitnehmen. Es fielen Schüsse.

US-Soldaten gaben offenbar Warnschüsse ab. Am Montag wurden dann zwei Männer im Flughafen erschossen, die bewaffnet gewesen sein sollen.

Mein Mann ist zum Glück seit der Nacht auf Montag in Doha – am Kabuler Flughafen eskalierte die Lage weiter. Unseren Mitbewohner, der auch dorthin unterwegs war, wurde von US-Soldaten gesagt, wo er sich verstecken könne, bis die Lage sich beruhigt.

„Das sind junge Frauen wie Sie und ich“

Was können Sie von hier aus für Ihre Freunde in Kabul tun?

Wir, migrantische und nicht-migrantische Frauen, haben uns in den vergangenen Tagen organisiert und helfen gefährdeten Afghaninnen und Afghanen mit den bürokratischen Hürden für ein kanadisches und US-Visum: Nachweis ihrer Arbeit, Erstellung von Referenzen durch internationale Kollegen und so weiter. Wir erstellen zudem Listen mit stark gefährdeten Individuen und Familien, darunter Künstlerinnen, NGO-Mitarbeitende, Journalistinnen und Nachrichtensprecherinnen und Menschenrechtlerinnen, die unter den Taliban in Gefahr sind. Wir wissen bereits von Frauen, die aufgrund ihrer Arbeit von den Taliban verhaftet worden sind.

Sie sprechen über Frauen mit internationalen Kontakten. Was ist mit weniger hoch Gebildeten, weniger gut Vernetzten?

Das Visa-System ist sehr ungerecht. Die Hürden für ein Visum sind hoch: Man muss Englisch beherrschen, Dokumente parat haben, über Internetzugang verfügen, einen Arbeitsvertrag haben. Hausfrauen werden ausgeschlossen, ökonomisch Schwache auch. Afghaninnen können zudem seit 2017 nur nach Indien oder Pakistan zur Deutschen Botschaft – für sie schloss die Deutsche Botschaft in Kabul aus Sicherheitsgründen. Das hätte man alles schon viel früher vereinfachen müssen. Hat man nicht.

Angela Merkel kündigte nun an, 10.000 Ortskräfte und Menschenrechtlerinnen aus Afghanistan nach Deutschland auszufliegen, mit ihren Familien ...

... jetzt, wo unklar ist, ob nur ihre Urne ankommt, oder sie selbst! Sorry, das sage ich jetzt als pessimistische Ehefrau. Die Politikwissenschaftlerin in mir sagt: Die Familienzusammenführung muss entbürokratisiert und beschleunigt werden. Bei der Evakuierung werden nur bis zu fünf Familienangehörige berücksichtigt. Ich habe mit einer Frau gearbeitet, die nicht ins Frauenhaus ging, weil sie ihre sechs Kinder – mit Töchtern, die teils über 18 sind – nicht mitnehmen konnte. Wie soll solch eine Frau nach Deutschland gehen und ihre ledigen Töchter alleine in Kabul lassen, wo sie womöglich zwangsverheiratet werden? Es gibt viele Frauen in Afghanistan, für die es keinerlei Sicherheit gibt. Sie werden die meiste Zeit ihres Lebens nun eingesperrt im Haus verbringen. Das sind junge Frauen wie Sie und ich.

Was hätte die NATO – nachdem sie einmal einmarschiert war – über die vergangen 20 Jahre anders machen können, um diese Situation zu verhindern?

Es wurde einfach Geld in das Land gepumpt, ohne gegen Korruption und Vetternwirtschaft vorzugehen. Afghanistan war in den vergangenen 20 Jahren ein neoliberal funktionierendes Territorium, ein wichtiger militärischer Standort des Westens im Herzen Asiens. Aber die Grenzen sind porös, das islamische und nationale Rechtssystem widersprechen sich, den Staat Afghanistan gab es nie. Das zeigt die Tatsache, dass „seine“ unterbezahlten Soldaten ihre Waffen widerstandslos übergeben haben. Die NATO hat versagt und die afghanische Elite mit ihr.

Markus Söder warnte vor einem zweiten 2015: Man müsse aufpassen, jetzt keinen „Migrationsdruck“ auszulösen. Was macht so ein Satz mit Ihnen?

Wie soll man so einen Satz ernst nehmen? Menschen migrieren, wenn es Unsicherheit gibt, das war in Deutschland zuletzt 1989 der Fall. In Afghanistan gibt keinerlei Sicherheit mehr. Aber darum geht es einem Söder nicht. In der EU besteht vielmehr die Angst, dass das System der Mitgliedsstaaten zusammenbricht angesichts der kommenden Verantwortung für Geflüchtete aus Afghanistan. Diese Angst zeigt, dass es ihnen klar ist: Die interventionistische Politik der demokratischen Friedensbildung hat versagt. Das haben wir im Irak gesehen. Und jetzt sehen wir es in Afghanistan.

Gezielter Demokratieaufbau von außen muss also scheitern?

Wir konnten hier sehr genau beobachten, wie das Nationbuilding mithilfe einer nationalen Elite, die aus dem Ausland zurückkehrt und mit westlichen Staaten zusammenarbeit, scheitert. Jeder Mensch konnte in Afghanistan sehen, wie die Hilfsgelder in der afghanischen Elite monopolisiert werden. Die haben sich mit dem Geld für ihre tolle Projektarbeit dann in Doha oder Kanada Häuser gekauft! Nicht nur die afghanische Elite, auch Entwicklungshelfer aus den USA sind mit den Entwicklungsgeldern reich geworden. Und haben sich natürlich rechtzeitig in Washington in Sicherheit gebracht.

Sie sind wütend.

Ich glaube inzwischen, es ging nie um Frieden in Afghanistan. Es ging immer nur darum, mit dem Land einen Alliierten in der Region zu haben. Denn um wie viel afghanisches Leben weniger wert ist als amerikanisches oder deutsches Leben – das sehen wir ja jetzt.

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Geschrieben von

Elsa Koester

Redakteurin „Politik“, verantwortlich für das Wochenthema

Elsa Koester wuchs als Tochter einer Pied-Noir-Französin aus Tunesien und eines friesischen Deutschen in Wilhelmshaven auf. In Berlin studierte sie Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach einigen Jahren als selbstständige Social-Media-Redakteurin absolvierte sie ihr Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland. Seit 2018 ist sie Redakteurin für Politik beim Freitag, seit 2020 für das Wochenthema und die Titelseite zuständig. Sie schreibt am liebsten Reportagen von den Rändern der Republik und beobachtet mit großer Spannung die Umgestaltung des politischen Systems im Grünen Kapitalismus.

Elsa Koester

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