Ey, frag ruhig!

Intersexualität Lynn wurde mit Eierstöcken und Hoden geboren, aber als weiblich festgelegt. Hier erzählt – ja, wer erzählt hier eigentlich sein Leben: er oder sie? Oder...sier?
Ausgabe 47/2018
Ey, frag ruhig!

Grafik: Susann Massute für der Freitag

Plötzlich reden wir über meine Vagina. Dabei fing alles so locker an. So normal. Lynn bestellte sich ein alkoholfreies Weizen, ich eine Limonade, wir saßen noch draußen, die Wespen kamen, wir lachten, jaja, der Hitzesommer, endlich vorbei. Smalltalk. Dann fragte ich Lynn nach Lynns Pronomen: Er? Sie? Und dann geht es ganz schnell, bis Lynn mir frech ins Gesicht lacht: „Ey, frag ruhig! Ich weiß doch auch ziemlich genau, wie du zwischen deinen Beinen so aussiehst!“ Natürlich hat Lynn recht. Sowohl mit der Einschätzung dessen, was zwischen meinen Beinen ist. Als auch damit, was ich Lynn so gerne fragen will: Lynn, wie sieht es eigentlich genau zwischen deinen Beinen aus?

Das erste Mal traf ich Lynn auf einer juristischen Tagung der Humboldt-Universität Berlin zu Intergeschlechtlichkeit im November 2017. Soeben hatte das Bundesverfassungsgericht der Klage von Vanja, einer ebenfalls intersexuellen Person, stattgegeben: Bis zum Jahresende 2018 ist der Gesetzgeber in der Pflicht, ein Gesetz für einen dritten Geschlechtseintrag im Personenstandsregister zu verabschieden.

Lynn saß bei der Tagung ganz hinten an der Wand. Während sich vorne Juristinnen über die Möglichkeiten nach diesem bahnbrechenden Urteil austauschten – eine „Dritte Option“ nur für das Personenstandsrecht? Ein umfassendes Mantelgesetz zum Schutz geschlechtlicher Vielfalt? Oder, revolutionär: die Abschaffung des Geschlechts im Recht überhaupt? –, rutschten Lynn und die anderen vom „Verein Intersexueller Menschen“ nervös auf ihren Stühlen hin und her.

„Mir ist die Revolutionierung des Gesetzes, ehrlich gesagt, ziemlich egal“, sagte mir Lynn damals in der Pause. „Ich will einfach, dass diese Zwangsoperationen an intersexuellen Babys aufhören. Dass Menschen wie ich ihr Geschlecht behalten dürfen, und fertig.“ Als Ingenieur stellte sich Lynn vor. Hard- und Softwareentwickler für die Windindustrie. Von den tiefen Narben auf Lynns Arm einmal abgesehen, hatte ich einen sehr fröhlichen Menschen mit punkigem Irokesenschnitt in Erinnerung, eher weiblich – und ich hätte diesen Menschen auf Anfang 20 geschätzt.

Jetzt, nicht einmal ein Jahr später im Café am Kottbusser Tor in Berlin, hätte ich diese Person beinahe nicht wiedererkannt. Die strahlenden Augen, ja. Aber das breite Gesicht, das breite Kinn, die breiten Schultern, die tiefe Stimme, der Bart: Lynn wirkt viel männlicher. „Klar“, lacht Lynn, „ich bin ja auch in den Stimmbruch gekommen!“ Lynn ist in der Pubertät. Mit 34 Jahren. „Ich habe angefangen, männliche Hormone zu nehmen. Meine Knochen wären ohne Hormone kaputtgegangen. Weibliche wollte ich auf keinen Fall, von denen habe ich jahrelang nur gekotzt. Also männliche. Es funktioniert ziemlich gut!“

Lynn wurde mit „Hermaphroditismus verus“ geboren, „ein echter Zwitter eben“, wie Lynn sagt. Das Baby hatte Eierstöcke und Hoden, eine Gebärmutter und eine Prostata, eine Vagina und einen Penis; je nachdem, in welche Zelle Mediziner schauen, finden sie dort XX- und XY-Chromosomen, immer abwechselnd. Die Ärzte nahmen der Mutter das Baby weg und steckten es in einen Brutkasten, um erst mal Tests zu machen. Hermaphroditismus verus! Bekommt man ja nicht alle Tage zu sehen.

Hormone feierlich verbrannt

Die ersten zwei Jahre verbrachte das gesunde Baby mit Operationen im Krankenhaus. „Wenn wir jetzt nichts machen, ist Ihr Kind in sieben Jahren tot!“, sagten die Ärzte der Mutter. Krebsrisiko, die Hoden – innen gewachsen – müssten weg. Lynn ist ein Mädchen, beschlossen die Mediziner. Also: Penis ab, Hoden weg, Eierstöcke auch weg. Es wurden Schamlippen angenäht. Fielen aber wieder ab. „Die haben mir meine Geschlechtsorgane kaputtgemacht, herumexperimentiert. Mit mir konnten einige Ärzte ihren medizinischen Ruf gewaltig ausbauen“, sagt Lynn.

Alle drei Monate wurde Lynn zur Untersuchung ins Krankenhaus geholt – ohne zu wissen, warum: „Niemand hat mir gesagt, dass ich intersexuell bin.“ Die Ärzte legten Lynn auf den Untersuchungstisch und missbrauchten das Kind, „alle paar Monate an den Geschlechtsteilen befummelt zu werden, das ist Missbrauch“. Anziehen, rausgehen, „dann wurde über mich geredet“. Fünfzig Studierende stürmten in den Raum, begierig auf die Ergebnisse, die der Arzt ihnen gleich präsentieren würde. Ihnen, und nicht Lynn. Lynn wurde gesagt: Du bist ein gesundes Mädchen.

Als Lynn neun war, beschlossen die Ärzte, es sei jetzt Zeit für die Pubertät: weibliche Hormone. Mit zwölf fing das Mädchen, das keines war, damit an, sich selbst zu verletzen. Mit 17 der Zusammenbruch. Verzweiflung. Lynn passte nirgendwo rein. Warum? Therapie. Erst als Lynn 20 war, wurde entschieden, dass es vielleicht besser sei, den Menschen über seine Geschlechtergeschichte aufzuklären. „Nach dem Motto: Wenn es mit dem Kind sowieso den Bach runtergeht, ist auch alles egal.“

Wie hat es sich angefühlt, zu hören, man sei intersexuell? Lynn reißt die Augen weit auf: „Ich war total geschockt!“ Worüber denn? „Na, ist doch klar! Dass es echt solche Monster gibt!“ Lynn lacht. „Das hat sich aber gelegt. Danach wusste ich endlich, wer ich war. Es ergab nun alles einen Sinn.“ Mit 20 hat Lynn die weiblichen Hormone feierlich verbrannt – und gar keine mehr genommen. Bis der Körper ohne Hormone nicht mehr zurechtkam. Mit 32 entschied Lynn dann, Testosteron zu nehmen. Und ist jetzt eben: im Stimmbruch.

„Ich liebe meinen Körper, wie er ist.“ Die Sorgenfalten auf Lynns Stirn weichen einem breiten Grinsen. „Inzwischen habe ich eine Marktlücke entdeckt: Ich bin der Traum bisexueller Frauen! Ich habe alles, Brüste, Bart, ich sage dir, sie fliegen auf mich!“, eine Augenbraue geht hoch, Lynn strahlt mich an. Flirten wir jetzt? Ich lache.

„Und der Sex?“, frage ich. Lynn zuckt mit den Schultern. „Es ist schon ein Problem, dass ich ganz klar Penisbedürfnisse habe.“ Penisbedürfnisse? „Na, Penetrationssex, da hätte ich schon Lust drauf. Ich hätte meinen Penis gerne gehabt. Das ist so ungerecht. Das waren alles Männer, die mich operiert haben, alles Männer, sie haben ihren Penis noch und mir haben sie ihn abgeschnitten, einfach so, ohne Grund.“

Intersexuelle forderten, dass das Verbot dieser OPs in das Gesetz zur Dritten Option aufgenommen wird. Wurde es nicht: Lediglich die Einführung der Dritten Geschlechtsoption „inter / divers“ im Personenstandsregister wird dort geregelt, sie soll dann erfolgen, wenn Mediziner einen Menschen als intersexuell diagnostiziert haben. Trans-Verbände laufen dagegen Sturm. Sie hatten gehofft, die Dritte Option könnte für alle gelten und würden auch ihnen den Geschlechtswechsel erleichtern.

Lynn schüttelt wütend den Kopf. „Viele Transsexuelle denken, die Realitäten seien gleich. Sie reden im Namen von Intersexuellen – und können sich null einfühlen.“ Im Gegensatz zu vielen Intersexuellen wünschen sich viele Transsexuelle das Recht auf geschlechtsangleichende Operationen. In Transsexuellen-Initiativen wird sogar die Ermöglichung solcher OPs ab dem vierten Lebensjahr diskutiert. „Ab dem vierten Lebensjahr!“

Lynn haut mit der Faust auf den Tisch, dass die Wespen sich ängstlich verziehen. „Da stehen Transmenschen in Dokus vor der Kamera und rufen: ‚Ich hasse mein Genital!‘ Unfassbar!“ Kann Lynn nicht verstehen, dass Transfrauen ihren Penis hassen? „Natürlich haben diese Menschen Probleme.“ Lynn seufzt. „Aber ich kann das nicht aushalten. Für mich ist jede OP, die medizinisch nicht nötig ist, Gewalt am Körper. Ich habe viel Zeit gebraucht, um meinen Körper so zu lieben, wie er jetzt ist.“

Ewig sei es nur um Transsexualität gegangen, jetzt endlich um Intersexualität. „Ich weiß, ich muss es zulassen können, dass Trans-Personen sich als inter / divers eintragen lassen. Ohne die Erfahrung der Zwangsoperationen, der Schmerzen, des Leidenswegs einer intersexuellen Person. Einfach aus einer freien Entscheidung heraus: ‚Ich bin jetzt inter.‘ Es fällt mir schwer. Lass uns über was anderes reden, bitte.“

Wir reden über Metal. Lynn spielt in einer Metal-Band, es läuft gut, ein Metal-Freund hat Lynn neulich erst freudig auf die Schulter geklopft: „Jetzt habe ich endlich verstanden, dass du beides bist! Einfach beides!“ Er war voller Bewunderung. Schade, dass auf Metal-Festivals nicht nur die Musik zählt, sondern auch das Geschlecht – zumindest an drei Orten: bei den Schleusen zu den Bühnen, wo die Gäste nach Getränken abgeklopft werden; bei den Duschen; und bei den Toiletten.

An jedem Ort bekam Lynn Ärger, immer: „Du bist hier falsch.“ Aber die Duschen, „die waren echt der Oberhammer“. Lynn entschied sich für die Männerduschen, „jetzt, da ich männlich aussehe, bekomme ich hier meist weniger Ärger, Frauen schmeißen mich immer aus den Toiletten raus.“ Es ging gut, bis zum Ausziehen, denn mit den Brüsten sieht Lynn auch weiblich aus. „Der Typ neben mir guckte nicht schlecht, sein Blick wanderte zwischen meine Beine, der konnte nicht fassen, was er sah. Ich habe ihm auf die Schulter geklopft. ‚Was soll ich machen, Alter‘, habe ich gesagt: ‚Die haben mir einfach den Penis abgeschnitten!‘ “

Zu viel Meta-Information

Ich bekomme Kopfschmerzen. Es fühlt sich an, als hätte ich die falsche Brille auf: Die ganze Zeit versucht mein Gehirn, Lynn scharf zu stellen, und es funktioniert nicht. „Welches Pronomen soll ich denn jetzt verwenden?“, ich bettele fast um Klarheit. Wieder Schulterzucken. „ ‚Er‘ ist falsch, ‚sie‘ ist falsch, und ‚es‘ ist erst recht falsch“, sagt Lynn. „Einige verwenden das schwedische ‚hen‘ oder versuchen es mit einem neuen deutschen Pronomen, ‚sier‘, aber mal ehrlich, wem soll ich das denn beibringen, auf der Straße oder unter Kollegen, hen und sier?“ Wie soll ich denn diesen Text schreiben? „Wenn es dir hilft: Nimm doch ‚er‘. Wie ‚der Zwitter‘. “

Ich nicke erleichtert: „Er!“ Und plötzlich entspannt sich mein Gehirn, ich sehe Lynn an, den Bart, das breite Kinn, Penetrationssex, alles klar, ich fühle mich besser. „Oh nein!“, ruft Lynn da. „Vorsicht! Schreib ‚er‘, aber denk dabei auf keinen Fall an einen Mann! Das bin ich nicht.“ Ertappt. Wir lachen. „Ich kann das verstehen“, sagt Lynn, „diese ganzen Meta-Informationen, die bei Männern und Frauen mitgesprochen werden, Verhaltensweisen, Körper, Sexualität, die muss ich selbst auffüllen. Das ist anstrengend. Es gibt kein Bild, das sich mein Gegenüber schnell von mir machen kann.“

Wie Michael Jackson, überlege ich, ich denke Lynn einfach wie Michael Jackson. Wie schockiert ich war, als meine Mutter mir sagte, Michael sei ein Mann. „Was hast du denn gedacht: dass er eine Frau ist?“, hat sie mich gefragt, und ich habe den Kopf geschüttelt: nein, auch keine Frau. Einfach Michael Jackson.

Okay, einfach Lynn: Und wie siehst du denn nun genau aus, zwischen den Beinen? Lynn erzählt mir ganz genau, was Lynns Körper ausmacht, Zentimeter für Zentimeter. Ich würde sagen, es sind vor allem die strahlenden Augen. Und diese Sommersprossen.

Redaktionelle Anmerkung

In einer vorherigen Version des Artikels hieß es, die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität fordere sogar die Ermöglichung solcher OPs ab dem vierten Lebensjahr. Dies ist nicht korrekt. Wir bedauern diesen Fehler. Die Positionen der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen können Sie hier nachlesen.

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