Grün ist das neue Rot, sagt die Bild. Die neue Volkspartei, sagt der Spiegel. Die neue Zentrumskraft, sagt Robert Habeck. Sie alle verweisen dabei auf nicht viel mehr als eine nackte Zahl: 17,5 Prozent. Das Knabbern an den 20 Prozent macht aber noch lange keine Zentrumskraft. Was die Grünen so stark macht, ist nicht der Schnickschnack der üblichen Wahlberichterstattung. Es ist nicht Habecks betont schmuddelige Sexyness, Baerbocks entschiedene Stimme oder ein kleines Hoch nach dem Diesel-Skandal. Um das Phänomen der Grünen als neue SPD zu verstehen, lohnt ein Blick auf die gesellschaftlichen Umwälzungen hinter der Parteienpolitik. Womöglich ist das Endes des Industriezeitalters in den Parlamenten angekommen – in Form des Niedergangs der Sozialdemokratie. Das hieße, der Wahlerfolg der Grünen wäre ein Anfang. Wovon?
Der Anfang vom Ende der Sozialdemokratie erklärt sich zunächst einmal durch die Grenzen dieses Modells. Dass der Industriearbeiter als klassischer Wähler der Sozialdemokraten gilt, hängt ja nicht mit einer vor Jahrzehnten einmal klugen Entscheidung von Wahlkampfmanagern zusammen, sondern ist historisch aus der Gewerkschaftsarbeit im Industriezeitalter entstanden: Der Klassenkompromiss der Sozialdemokratie basierte auf Umverteilung. Der Arbeiter bekommt ein angemessenes Stück vom Kuchen, und wer nicht arbeiten kann, bekommt auch eins, das ist der Sozialstaat. Was genau angemessen heißt, ist eine Frage der Verteilungskämpfe. Dieses Modell klingt starr, hat sich aber als sehr anpassungsfähig erwiesen: Es vertrug die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse unter Gerhard Schröders Agendapolitik, die Ausweitung des Niedriglohnsektors, die Abschaffung des Rechts auf Arbeitslosengeld, die Prekarisierung durch Befristungen und Minijobs. Was die Sozialdemokratie aber nicht verträgt, ist die Infragestellung des Umverteilungsmodells.
Und genau das ist notwendig geworden: Der Klimawandel stellt nicht mehr die Frage, was mit dem Produzierten gemacht wird, sondern stellt die der Umverteilung vorgelagerte Frage nach Ressourcen. Das Produktionsregime muss sich ändern. So ein Produktionsregime besteht gesamtgesellschaftlich nicht nur aus dem Verhältnis zwischen Arbeiterin und Unternehmen, sondern umfasst die Frage, wie Produktion in der gesamten Gesellschaft organisiert ist. Sich die Gesellschaft als Fabrik vorzustellen, diese Idee entwickelten die Postoperaisten um Toni Negri in Italien seit Ende der 1970er Jahre. Da steckte das neue Regime noch in den Kinderschuhen.
Wenn Gesellschaft die Fabrik ist, schwindet die Grenze zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit. Ressourcen sind nicht nur Öl und Kohle, Wasser oder Wind, sondern zwischenmenschliche Beziehungen, kulturelle Codes, Körper. Und produziert werden nicht nur Autos, sondern auch Gesundheit und Identität, mehr noch: Produziert wird die Art, wie Gesellschaft sich organisiert. Produziert werden Lebensweisen. Was bei den Postoperaisten so abstrakt klingt, ist schon längst in die Politik eingeflossen: Die Kämpfe in Kitas und Krankenhäusern stellen die Frage, wie Erziehung und Gesundheit produziert werden sollen. Feministinnen fragen, wie Zwischenmenschliches produziert werden soll. Von der AfD bis zu den Grünen wird die Frage diskutiert, welche Identitäten welche Rolle in der Produktion einnehmen sollen. Welche Identität übernimmt welche Aufgaben und woran wird diese Arbeitsteilung entschieden? Die AfD will die Restauration der alten geschlechtlichen Arbeitsteilung über die Familie, die Grünen stehen für die Loslösung der Arbeitsteilung von den Geschlechtergrenzen. Gestritten wird auch über die Frage, ob Identitätsproduktion an Nationalgrenzen haltmachen sollte.
Beide Parteien werden in dieser Auseinandersetzung deshalb so stark, weil sie sehen, dass der sozialdemokratische Kompromiss zwischen nationalem Sozialstaat und globalisierter Wirtschaft an sein Ende gekommen ist: Die gesellschaftliche Produktion des Sozialen national zu organisieren, während die Produktion von Gütern global organisiert ist, diese Trennung geht nicht auf. Die AfD schlägt ein Zurück in die nationale Organisation sämtlicher Produktion vor – durch einen Rückgriff auf Identitäten aus dem 20. Jahrhundert, durch die Leugnung des Klimawandels. Die Grünen stehen für einen nachhaltigen, globalen Kapitalismus. Ressourcen sind erneuerbare Energien, aber auch Migrationsbewegungen, die doppelt verwertet werden können: einerseits über eine Vielfalt der Identitäten, andererseits über die Vielfalt der Arbeitskräfte. Die verwertbare Seite einer liberal organisierten Gesellschaft ist Diversität. Soziale Sicherheit wird durch Bürgerrechte gewährleistet: das Recht auf soziale Absicherung (die Grünen fordern die Abschaffung der Sanktionen bei Hartz IV), auf Mobilität, auf körperliche Selbstbestimmung, auf Freiheit: Die Grünen waren die Ersten, die gegen die Verschärfung des Polizeigesetzes in Bayern geklagt haben.
Der Klassenkonflikt, wie er im 20. Jahrhundert verstanden wurde, ist nicht mehr die zentrale Frage, um die sich Gesellschaft herum organisiert. Zur Kernfrage wird die Frage der Reproduktion und der Ressourcen. Das schafft auch neue kämpfende Klassen jenseits des Industrieproletariats: das Prekariat, die Frauen, die Kosmopoliten. Gesellschaftsarbeiterinnen. Sie sind es, die grün wählen. Gegenpol der autoritären AfD ist daher nicht die Linke. Es sind die liberalen Grünen: die neue Zentrumskraft im Zeitalter einer Ökonomie der Existenz.
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