Es ist nicht so, dass Andrea Nahles nicht wüsste, was zu tun wäre. Sie weiß es sehr genau: „Angekündigt haben wir das schon öfter, dass wir zur Sacharbeit zurückkehren, aber wir sollten es jetzt einfach auch mal machen, ne?“, flapste sie nach der Bayernwahl. Die SPD ist schon von sich selbst genervt. Dabei findet sie durchaus statt, die Sacharbeit. Zum Beispiel in den Debatten über die Änderung des Strafrechtsparagrafen 219a, der Information über Abtreibung als Werbung verbietet. Dazu wurde sogar irre viel gearbeitet: Es gab Arbeitsfrühstücke zwischen Fraktionen, Besprechungen vor Ausschüssen, eine öffentliche Anhörung, Debatten im Plenum. Drei Ministerinnen und zig Abgeordnete befassen sich spätestens seit März intensiv mit dem Paragrafen. Nur: Diese Sacharbeit bewirkt gar nichts. Weil die SPD gleichzeitig dafür sorgt, dass sie keine Früchte trägt. Selbstblockade.
Es war im November 2017, als einige Parteien im Bundestag Gesetzesentwürfe zu 219a schrieben. Anlass war der Prozess gegen die Gießener Ärztin Kristina Hänel, die auf ihrer Homepage darüber informierte, dass – und wie – sie Abtreibungen durchführt. Abgeordnete der Linken, der Grünen und der SPD zögerten nicht mit der Sacharbeit: Sie erstellten nahezu wortgleiche Gesetzesinitiativen zur Streichung des Verbotsparagrafen aus dem Strafgesetzbuch. Unter „Lösung“ steht in allen drei Papieren der lapidare Satz: „§ 219a StGB wird aufgehoben.“ Einzig die FDP rückt davon etwas ab. Sie will die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche weiterhin verbieten, die sachliche Information darüber jedoch erlauben. Unter „Alternativen“ schreibt sie in ihrem Entwurf jedoch: „Denkbar wäre eine komplette Streichung des § 219a StGB.“ Denn, so argumentiert die FDP, die „grob anstößige“ Werbung für medizinische Leistungen verstoße ohnehin gegen das ärztliche Standesrecht. Sie sei auch dann verboten, wenn 219a komplett gestrichen werde.
Kompromissloser Herbst
Eine Mehrheit im Bundestag ist also für die Streichung des Informationsverbots. Nahles zog den Gesetzesentwurf der SPD im März jedoch aus dem Gesetzgebungsverfahren zurück – aus Rücksicht auf die Situation des damaligen CDU-Fraktionschefs Volker Kauder. Die Kanzlerin versprach, in der Bundesregierung einen Kompromissvorschlag auszuarbeiten – zwischen dem federführenden Justizministerium (SPD), dem Gesundheitsministerium (CDU) und dem Familienministerium (SPD). Selbst diesen Rückzieher versuchte die SPD als Stärke zu vermarkten: Würde die Regierung bis Herbst keinen Kompromiss präsentieren, würde die SPD die Abstimmung ohne Fraktionszwang im Bundestag freigeben. Man könnte sagen: ein Ultimatum.
Nun ist Herbst. Es liegt kein Kompromissvorschlag vor. Die parlamentarische Mehrheit für die Legalisierung der Information über Abtreibung steht noch immer. Die Sacharbeit sah inzwischen so aus: Zwischen März und Oktober wurde das Thema 219a mehrfach auf die Tagesordnung des Rechtsausschusses gesetzt. Bis Juni befasste man sich mit der öffentlichen Anhörung, die dann durchgeführt wurde. Zwischendurch wurde das Thema mehrmals mit der Regierungsmehrheit von Union und SPD von der Tagesordnung gesetzt – „runterstimmen“ heißt das. Oder: verschleppen. Würde der Ausschuss beraten, käme er zu einer letzten Lesung und einer Beschlussempfehlung, und dann müsste der Bundestag darüber in letzter Lesung beraten und abstimmen.
Doch unterdessen passierte noch mehr: Es gab verschiedene inoffizielle Frühstücke zwischen den Fraktionen, um über das weitere Vorgehen zu beraten, es gab ein inoffizielles Treffen zwischen Angela Merkel und den Frauen der SPD-Fraktion im September, bei dem über 219a gesprochen wurde. Es gab inoffizielle Gespräche zwischen den frauenpolitischen Sprecherinnen der Grünen und Linken, Ulle Schauws und Cornelia Möhring, mit dem rechtspolitischen Sprecher der SPD, Johannes Fechner, und mit der stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Eva Högl. Ohne Ergebnis.
Reden, auf Tagesordnungen setzen, runterstimmen, wieder auf Tagesordnungen setzen. So kann man ein Gesetzgebungsverfahren bis ins Unendliche in die Länge ziehen. „Wenn wir Pech haben, geht das so lange wie bei der Öffnung der Ehe“, seufzt Möhring. „Das waren vier Jahre.“
Aus der SPD war über den Sommer immer das Gleiche zu hören, egal, wen man fragte: „Die sachliche Information über die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen muss Ärztinnen und Ärzten rechtssicher möglich sein, damit Frauen in Konfliktsituationen bestmögliche Unterstützung und Information erhalten“, sagt die zuständige Ministerin Katarina Barley, sagt Eva Högl, sagt Johannes Fechner auf Anfrage. Man warte auf den Einigungsvorschlag aus der Regierung. „Ich nehme die Kanzlerin beim Wort, dass die Union zu einer Lösung bereit ist“, sagt Högl, sagt Fechner. Zwischendurch ging Juso-Chef Kevin Kühnert sogar davon aus, dass die Einigung demnächst vorliege. Was ist daraus geworden? In der Opposition munkelt man, der Vorschlag sei so schwach gewesen, dass die SPD ihn intern abgelehnt habe. Man munkelt überhaupt viel über die SPD. Zum Beispiel, dass Nahles sich beschwert habe, Ralph Brinkhaus würde sich nicht an Kauders Versprechen einer Einigung gebunden fühlen. Dass den Genossen der Preis, die Abstimmung freizugeben, einfach zu hoch sei: die GroKo riskieren – nur für ein Gesetz zur Abtreibung?
„Wenn die Prozesse gegen die Ärztinnen und der öffentliche Druck nicht wären, würde die Debatte einschlafen“, fürchtet man in der Linksfraktion. Doch es gibt auch ein parlamentarisches Mittel, die Debatte nicht einschlafen zu lassen: Wird ein Tagesordnungspunkt länger als zehn Wochen nicht im Ausschuss beraten, hat die Opposition das Recht, einen Bericht aus dem Ausschuss im Plenum des Bundestags zu beantragen. Das hat sie nun getan. 45 Minuten lang wurde am vergangenen Donnerstag über den Abtreibungsparagrafen diskutiert.
In dieser Debatte wurde deutlich, dass das Problem keineswegs im Nichtstun liegt. Da kann man in den Fraktionen, Ausschüssen, Ministerien und im Plenum noch so viel Sacharbeit leisten: Es gibt einfach keine gemeinsame Position zur Regelung von Abtreibung. Das Problem ist ein zutiefst politisches. „Es geht um den Schutz des ungeborenen Lebens“, sagte etwa die CSU-Abgeordnete Silke Launert in einem Zwischenstatement. „Das Kind ist Mensch von Anfang an“, sagte ihre Fraktionskollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker, auch wenn sie einwandte, dass es „nur mit der Mutter geschützt werden“ könne, „nicht gegen sie“. Für die Konservativen sind der Zellhaufen und der Embryo der ersten Wochen der Schwangerschaft also ein „Kind“, dessen Schutz gegenüber der Selbstbestimmung der Mutter Priorität hat. Radikalisiert findet sich diese Frauenrolle bei der AfD wieder: „Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, das ungeborene menschliche Leben zu schützen – auch gegenüber seiner Mutter“, sagte deren MdB Jens Maier, und: „‚Mein Bauch gehört mir‘ – das gilt nicht.“ Demnach gehört der weibliche Uterus wohl dem Staat.
Wo sind die DDR-Frauen?
Gemäß diesen ethischen Überzeugungen ist die CDU nicht bereit, vom Beratungsmodell abzuweichen: Jede Information zu Abtreibung, die eine schwangere Frau erreicht, soll von dem Zusatz „Aber eigentlich sollten Sie die Schwangerschaft nicht abbrechen“ begleitet sein. Denn so sieht es der Kompromiss vor, der vor fast 25 Jahren im Bundestag gefunden wurde: Aufgabe der Beratungsstellen ist es laut Gesetz, „insbesondere über solche Hilfen“ zu unterrichten, „die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Lage von Mutter und Kind erleichtern“. Die Möglichkeit für Frauen, sich unabhängig von dieser Vorgabe zu informieren, will die CDU verhindern – und muss es auch: Das konservative Milieu radikalisiert sich unter dem Einfluss der erstarkenden Rechten und der Abtreibungsgegner und würde eine Aufgabe der konservativen ethischen Position wohl kaum akzeptieren.
Ein gänzlich anderes Frauenbild vertreten die SPD, die Linken, die FDP und die Grünen, deren Abgeordnete allesamt das Selbstbestimmungsrecht der Frauen in den Mittelpunkt stellen, zu dem selbstverständlich auch das Recht gehöre, sich selbstständig im Internet über Abtreibung und durchführende Ärzte zu informieren. In den sozialen Medien wird debattiert: Hat eine schwangere Frau eine moralische Verpflichtung gegenüber einem Zellhaufen, dann einem Embryo, der einmal ein Mensch werden könnte? Der Streit um Paragraf 219a ist eigentlich einer um das Abtreibungsrecht an sich. Das konservative und das progressive Lager stehen sich hier unversöhnlich gegenüber. Dementsprechend war in den CDU-Beiträgen auch mit keinem Wort von einem Kompromiss die Rede: Man findet den Paragrafen 219a genau so richtig, wie er ist. Möhring hofft darauf, dass es auch in der CDU einige Frauen – zum Beispiel DDR-sozialisierte – gibt, die dies anders sehen. Doch ohne die Aufhebung des Fraktionszwangs wird an der Unionsposition nicht zu rütteln sein.
Es stellt sich die Frage, auf was die SPD also wartet. „Die Meinungen in der Großen Koalition sind in dieser Frage verschieden“, weiß auch Eva Högl, und: „Wir sind jetzt gefragt.“ In der Tat. Die SPD weiß, was sie jetzt eigentlich tun müsste, und tut es trotzdem nicht. Haltung ohne Taten. Währenddessen geht die rechte Offensive ungebremst weiter, eine Feministin nach der nächsten wird vor Gericht gezerrt: Erst Kristina Hänel, dann zwei weitere Ärztinnen in Kassel, dann die linken und grünen Politikerinnen Caren Lay und Canan Bayram, die eine Demonstration radikaler Abtreibungsgegner blockiert haben sollen, sowie die Vorsitzende von pro familia Hamburg, Kersten Artus, die dafür angeklagt wurde, einen radikalen Abtreibungsgegner öffentlich benannt zu haben, der Ärztinnen anzeigte.
„Es eilt!“, stellt Högl fest. „Es besteht dringender Handlungsbedarf“, versichert Fechner. Sie wissen es. Diese propagierte „Haltung“ ist in Bayern jedoch deshalb krachend gescheitert, weil ihr keine Taten folgen; gleichzeitig hilft auch keine Sacharbeit, hinter der keine Haltung steht. Das eine ist Bigotterie, das andere Bürokratismus. Beides führt nicht zu politischer Veränderung. Die treiben andere voran.
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