Hans-Christian Ströbele sah ich zum ersten Mal auf der Yorckstraße in Berlin Kreuzberg, 6 Uhr morgens. Er radelte durch die Polizeiabsperrung, er radelte an den Räumpanzern und Wannen vorbei, er radelte am Einsatzleiter der Berliner Polizei vorbei, und blieb bei uns stehen: „Geht es euch gut?“ Uns ging es nicht so gut, weil die Yorck 59 gerade geräumt worden war – ein Hausprojekt, das es seit 1988 gab. Der neue Eigentümer wollte mehr Miete, die Besetzer*innen wollten nicht zahlen – der Eigentümer ließ räumen. Trotz langer Verhandlungen mit dem rot-roten Berliner Senat, trotz Besetzungen der PDS- und SPD-Parteizentralen, trotz unserer Sitzblockade vor der Tür, trotz etlicher zugeschweißter Türen und Barrikaden, d
Wie Hans-Christian Ströbele twittern lernte: 140 Zeichen sind nicht genug
Nachruf Snowden-Besucher, Hausbesetzer-Unterstützer: Ströbele tat, was er für richtig hielt. Auch über Social-Media-Regeln setzte er sich hinweg: keine Verkürzungen in der Politik! Unsere Autorin erinnert sich an ihre Zeit mit dem grünen Twitterer
Exklusiv für Abonnent:innen

Hans-Christian Ströbele war ein bekannter und beliebter Gast auf Berliner Demos
Foto: IMAGO / Olaf Wagner
, die mit Teerpappe versehen waren, damit die Polizisten beim Aufflexen möglichst oft ihre Flex-Scheiben wechseln mussten: wurde die Yorck 59 morgens um 5 Uhr geräumt. Ströbele kam um 6. Wir buhten ihn aus. Er kam, nachdem wir verknüppelt worden waren, nachdem eine Aktivistin in der Polizeigewalt bewusstlos geworden war. Aber er kam. Ließ sich ausbuhen, ließ sich berichten, und kümmerte sich um diejenigen, die festgenommen worden waren. Das war 2005, da war Hans-Christian Ströbele 66 Jahre alt.Dann, Hans-Christian Ströbele war inzwischen 73, brachte ich ihm Twitter bei. Denn das konnte er nicht, und sein Büroteam wusste auch nicht so recht, wie man für dieses Grünen Urgestein die Socialmedia-Accounts aufbauen sollte. Dafür wurden ich und der damalige Attac-Aktivist Pedram Shahyar engagiert. Nach den ersten Tweets wurde uns schnell klar, dass niemand für Hans-Christian-Ströbele twittern konnte; niemand konnte seinen Ton treffen, und unsere Tweets fand er „manchmal unpassend“. Er musste es selbst tun: „Zeig mal, wie das geht.“ Da saß ich also in seinem kalten Büro, er mit rotem Schal und ich mit kalten Fingern (er heizte nie), und zeigte ihm, wie er die App öffnete, wie er auf das kleine Schreibsymbol klickte, und wie er die damals noch auf 140 Zeichen begrenzten Textfelder vollschreiben konnte. Die 140 Zeichen machten Ströbele fertig: „So kann man das nicht sagen! Das ist doch viel komplizierter!“ Ich versuchte, ihm zu erklären, dass Twitter so nicht funktioniere, wie er das versuche: Man könnte nicht alle Zusammenhänge darstellen, man müsse sich halt auf eine Aussage begrenzen. Er schüttelte den Kopf: „Nein, das funktioniert nicht.“Er schrieb dann Tweets, die einer Socialmedia-Beauftragten die Haare zu Berge stehen ließen: Ewige Sätze, jedes zweite Wort abgekürzt, drei Einschübe, keine Hashtags. Und es funktionierte! Und wie es funktionierte. Die Zahlen schnellten in die Höhe, die Follower folgten, die Liker*innen liketen: Hans-Christian Ströbele war auf Twitter angekommen, und er hatte seine eigene Twitter-Poesie erfunden.Hans-Christian Ströbele war ein Mann mit PrinzipienFortan kommentierte er die Tagespolitik für alle zugänglich. Er verteidigte die occupy-Bewegung, „weil sie das Bankensystem in Frage stellt“, und kritisierte die Blockupy-Demo-Verbote in Frankfurt am Main als verfassungswidrig; er kritisierte immer wieder Hartz IV, gegen dessen Einführung er schon 2003 gestimmt hatte; er forderte den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan; er unterstützte die Mietproteste in Berlin und das Protestcamp Kotti&Co; er forderte die Aufklärung des NSU-Rechtsterrors. Dann wurde es eines Tages aufgeregt im Büro Ströbele. „Keine unabgesprochenen Tweets mehr in den nächsten Tagen!“, hieß es, „können wir dir nicht sagen – wirst schon sehen, warum!“Eingebetteter MedieninhaltHans-Christian Ströbele war nach Moskau gefahren, zu Edward Snowden.Er machte die Dinge einfach. Es ist ja nicht so, dass nicht auch andere wüssten, was eigentlich das Richtige wäre: Eigentlich müsste man zu Snowden nach Moskau fahren. Eigentlich müsste man gegen jeden Kriegseinsatz stimmen. Eigentlich müsste man Baader und Ensslin verteidigen. Eigentlich bräuchte man eine linke Tageszeitung. Eigentlich sollte man als wichtiger Bundestagsabgeordneter auf alle Demonstrationen gehen, bei denen linke Aktivist*innen in Gefahr sind. Eigentlich dürfte man sich den Twitter-Verkürzungen nicht beugen.Ströbele laberte nicht. Er verteidigte Baader und Ensslin, er gründete die taz, er stimmte bei den ersten Kriegseinsätzen unter der rot-grünen Regierung mit NEIN. Was er tat, tat er richtig. Er arbeitete sich ein, und wer richtig eingearbeitet ist, dem sagt so schnell niemand was.Als die innerparteiliche Kritik an ihm mal wieder lauter wurde, er stimme gegen Grüne Parteitagsbeschlüsse, nahm er seine Abstimmungsverhalten detailliert auseinander. Seine Ablehnung des Bundeswehreinsatzes im Kosovo 1998 und 1999 habe nicht gegen Grüne Parteitagsbeschlüsse verstoßen, "weil es damals zum Kosovo- bzw. Serbienkrieg keine Beschlüsse von grünen Parteitagen gab.“ Vielmehr habe es damals das Bundestagswahlprogramm 1998 gegeben, auf dessen Grundlage die Grünen in den Bundestag gewählt worden waren, und darin stünde unmissverständlich: „Bündnis 90 / Die Grünen tragen militärische Friedenserzwingung und Kampfeinsätze nicht mit.“ Ströbele machte klar: „Nicht das NEIN von wenigen Abgeordneten, sondern das JA der Mehrheit war mit Programm und der geltenden Beschlusslage der grünen Partei nicht zu vereinbaren.“ So geht es weiter: Sein NEIN gegen den Afghanistan-Einsatz „Operation Enduring Freedom“ am 16. November 2001; sein NEIN gegen die Ausweitung der Bundeswehr-Tornado-Einsätze im Süden Afghanistans 2007; haarklein erklärt er, warum er zwar anders als die Mehrheit der Grünen Fraktion stimmte, dies aber nicht gegen die Entscheidungen der Partei tat."Die AfD wurde gewählt. Das muss ich zur Kenntnis nehmen"Ströbele machte es sich nie leicht. Dass er im Dezember 2001 dann doch für die Teilnahme am UN-mandatierten ISAF-Einsatz in Afghanistan stimmte, brachte ihm viel Kritik ein. Ab 2006 dann lehnte Ströbele jede Verlängerung des Einsatzes ab, verbunden immer mit persönlichen Erklärungen, die sich detailliert mit der Situation in Afghanistan auseinandersetzten. Als Anwalt hatte er gelernt, dass immer die Details zählen. Als Abgeordneter im Bundestag machte er klar, dass nur so die parlamentarische Demokratie funktioniert: Wenn alle ihren Job ernst nehmen. Nicht eigentlich denken, sondern tun, was nötig ist: „Mein erster Wunsch: Machen Sie die parlamentarische Demokratie wirklich zu einer solchen, wo die erste Macht, die erste Gewalt im Staat das Parlament ist, das unabhängige, souveräne, selbstbewusste, mutige Parlament. Mein zweiter Wunsch: Holen Sie Edward Snowden nach Deutschland, holen Sie ihn da raus aus Moskau, er hat sich um die Welt und auch um Deutschland verdient gemacht. Ihre Kanzlerin wüsste nicht, dass sie abgehört wurde, wenn es Edward Snowden nicht gegeben hätte. Mein dritter Wunsch: Beenden Sie den Krieg in Afghanistan.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich 2017 aus dem Bundestag.Der letzte Wunsch wurde wohl erfüllt – es blieb aber nicht sein letzter. Ströbele forderte 2021 die Bundesregierung dazu auf, sich für den Afghanistan-Einsatz zu entschuldigen. Im Juni 2022 twitterte er: „BK Scholz heute im TV: NATO sei defensive Allianz, greife keine Länder an. Was war denn das, als NATO 1999 in Serbien Belgrad, Häuser, Fabriken, Personenzug bombardierte. Oder als sie 2001 Afghanistan angriff und dort 20 Jahre Krieg führte? Auch NATO greift Länder an. Leider.“Ströbele schenkte niemandem etwas, und auch sich selbst nicht. Dass aber auch dieser Kämpfer nicht ganz unermüdlich war, spürte ich, als ich eines Sitzungswochentages im Bundestag mal wieder zur Twitter-Planung in seinem kalten Büro saß und anmerkte: „Es wird kalt. Der Herbst kommt.“ Ströbele blickte hinaus in die ergrauten Wolken und sagte etwas wie: „Ich mag das. Dann kann man auch mal zuhause bleiben.“ Das war vor zehn Jahren.Ich traf ihn danach noch oft, draußen. Auf der Straße. Als die AfD 2018 nach Berlin zum „Tag der Abrechnung“ mobilisierte, waren er und seine ehemaligen Mitarbeiterinnen unter den 25.000 Gegendemonstrant*innen; er „wollte sich das mal anschauen.“ Da hatte er sich aus Krankheitsgründen bereits aus dem Bundestag zurückziehen müssen – was ihn nicht daran hinderte, sich mit den Problemen der Parlamentarier zu befassen. Zur Frage, ob man eine AfD-Kandidatin zur Vizepräsidentin wählen solle oder nicht, antwortete Ströbele im Deutschlandfunk: „Man muss da sehr vorsichtig sein, weil es natürlich nicht zweierlei Abgeordnete im Bundestag gibt, der eine hat mehr Rechte als der andere, oder die eine Fraktion hat mehr Rechte als die andere. Das kann so nicht sein, sondern da ist der Wille der Wählerinnen und Wähler maßgeblich. Die wollen, dass die AfD im Bundestag sitzt. Ich finde das nicht gut, aber ich muss das zur Kenntnis nehmen. Und deshalb muss man ihr grundsätzlich dort auch die parlamentarischen Rechte geben.“ Aber? „Natürlich: Die Abgeordneten haben die Wahl. So steht es im Grundgesetz. Da steht nicht drin, die Fraktionen bestimmen die Vizepräsidenten, sondern der Bundestag wählt den Präsidenten des Bundestages und die Vizepräsidenten. Das heißt, man ist natürlich nicht gezwungen, das zu tun, sondern das wird man von der Person abhängig machen."AKWs ja, bitte?! Bloß nicht!Wer Ströbele fragt, kann sich nicht hinter politischen Abkürzungen wegducken: "Wenn ich aber jetzt höre, dass gesagt wird, die AfD ist verfassungswidrig und deshalb kann ich keine Person aus ihren Reihen wählen, ganz egal wer das ist, dann finde ich das problematisch. Für verfassungswidrige Parteien ist eigentlich ein Verbot vorgesehen und nicht die Beschneidung der Rechte der einzelnen."Einfach machte es sich Ströbele nie, bis zuletzt nicht. Dass seine Partei nun erneut einen Krieg unterstützt, diesmal durch Waffenlieferungen, und wegen der Energie-Engpässe nun auch überlegt, Atomkraftwerke länger laufen zu lassen – das schmerzte, mal wieder: „Grüne wollten immer ,Frieden schaffen ohne Waffen', nun ,Frieden mit immer mehr schweren Waffen'. Jetzt auch statt ,AKWs Ne' – ,AKWs ja bitte' gegen die Alternative weiter mit russischem Gas? Wann kippt die nächste Säule? Bloß nicht“, twitterte er im Juli auf typischer Ströbele-Polit-Poesie.Und zuvor: „BR mit Grünen jetzt für CETA Freihandelsabkommen mit Canada einschl. Klagerecht der Konzerne. Dagegen hatten wir maßenhaft demonstriert. Noch ist nicht verabschiedet. Es ist Zeit für Befassung der Basis. Dann mal ran.“„Bleibst du bei den Grünen?“, das habe ich ihn immer mal wieder gefragt. Er war sich sicher: „Ja.“ Dort war sein Platz. Von dort aus kämpfte er. Bis zuletzt. „Die von beiden Seiten in der Ukraine angekündigte Grossoffensive bleibt wohl aus. Gut so. Es wäre sonst Eskalation mit noch viel mehr Toten u. Verletzten auf allen Seiten, auch der Ukrainischen, u. zunehmender Gefahr von Nuklear-Krieg. Endgültige Sieger wird’s so nicht geben.“ Das war sein letzter Tweet. 19. August 2022.Ströbele ist nun nicht mehr draußen. Es ist Zeit für die Basis. Dann mal ran.