Helena Steinhaus: „Bei drei Babys läuft der Trockner durch und der Strom ist unbezahlbar!“
Interview Bei dem Verein „Sanktionsfrei“ melden sich in den vergangenen Wochen Hunderte Hartz-IV-Beziehende und Armutsbetroffene, die ihre Stromnachzahlungen nicht mehr stemmen können. Die Gründerin Helena Steinhaus warnt: Hier droht bittere Kälte
Zahllose von Armut betroffene Menschen sitzen gerade in ihren kalten Wohnungen, frieren und wissen nicht mehr weiter
Foto: Arnulf Hettrich
Knappe 43 Euro monatlich erhalten Bürgergeld-Beziehende ab Januar für Strom. Reicht das 2023 wirklich aus für Durchlauferhitzer, für Waschmaschine, Trockner und Herd? Der Verein Sanktionsfrei hat Hartz-IV-Beziehenden angeboten, bei Zahlungsproblemen die Stromnachzahlungen zu übernehmen – es meldeten sich 500 Familien. Helena Steinhaus schlägt Alarm.
der Freitag: Frau Steinhaus, entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, aber Sie sehen ein wenig mitgenommen aus.
Helena Steinhaus: Die letzten Wochen waren echt heftig. Wir haben Hartz-IV-Betroffene dazu aufgerufen, sich bei uns zu melden, wenn sie eine Stromnachzahlung nicht stemmen können. Es haben sich über 500 Familien in drei Wochen gemeldet! 136.000 Euro sind bereits ausgezahlt.
Haben Sie genug Sp
ilien in drei Wochen gemeldet! 136.000 Euro sind bereits ausgezahlt.Haben Sie genug Spenden dafür?Wir haben eine Großspende reinbekommen und es haben uns auch viele Leute ihre Energiepauschale gespendet. Aber dieser Topf ist jetzt leer, obwohl wir die Übernahme auf 500 Euro gedeckelt haben. Es melden sich weiterhin Menschen, die ihre Stromabrechnungen nicht zahlen können. Wie denn auch: Im Regelsatz sind nur 38,07 Euro für Strom vorgesehen.Und beim Bürgergeld?Ab Januar sind es 42,55 Euro. Wir haben aber schon 2021 deutlich gespürt, dass die Menschen damit nicht mehr auskommen: Die Preise sind schon vor dem Ukrainekrieg stark angestiegen und es haben sich damals viele Menschen bei uns gemeldet, denen eine Stromsperre drohte. Aber jetzt melden sich echt Hunderte.Um wie viel Geld geht es jeweils?Ganz unterschiedlich. Manchmal sind es nur 40 Euro, oft um die 200, 250 Euro – und manche haben sich mit 900 Euro, sogar 1.700 Euro bei uns gemeldet.What?!Genau, das dachten wir natürlich auch: 1.700 Euro, was läuft denn bei denen falsch?! Wir fragten nach, es stellte sich heraus: Die Frau hat fünf Kinder, und drei davon sind Babys, Drillinge. Okay, da hatten wir keine weiteren Fragen!Sie haben selbst Zwillinge, oder?Genau. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es mit Drillingen ist! Da laufen Waschmaschine und Trockner natürlich durch. Der Frau muss man sofort alles geben, was sie braucht. Dann meldete sich jemand mit einer sehr hohen Nachzahlung, die uns erklärte, dass sie an einer chronischen Lungenkrankheit leidet und nachts ein Beatmungsgerät anschließen muss. Viele andere leben einfach in alten Gebäuden, in denen das Wasser mit einem Durchlauferhitzer gewärmt wird – da sind die Stromkosten dann sehr hoch.Placeholder infobox-1Fällt es den Leuten leicht, Ihnen zu schreiben?Manche schicken uns einfach die Rechnung: Hier, könnt ihr das bitte übernehmen? Das ist total okay so. Andere schreiben uns: „Ich habe drei Nächte darüber gegrübelt, aber jetzt schreibe ich euch, ich weiß sonst nicht mehr weiter.“Was würden diese Leute denn tun, wenn es Sie nicht gäbe?Es gibt die Möglichkeit, Mehrbedarf zu beantragen – wenn sie etwa einen Durchlauferhitzer haben, muss der bewilligt werden. Aber der Mehrbedarf orientiert sich am Regelsatz, nicht an den Preissteigerungen beim Strom.Und wenn der Mehrbedarf nicht ausreicht oder abgelehnt wird?Dann gibt es die Möglichkeit eines Darlehens, das man dann vom Regelsatz abstottern muss, wodurch pro Monat noch weniger Geld zur Verfügung bleibt – während die Stromabschläge weiter steigen! Das Geld für die Energie reicht einfach hinten und vorne nicht mehr. Und oft wird so ein Darlehen für Strom auch ablehnt.Mit welcher Begründung?Der Grund ist immer derselbe: Es sind 38,07 Euro im Regelsatz für Strom und Wohnungsinstandhaltung vorgesehen. Davon nur 36,42 Euro für Strom. Das heißt: Von dem Rest, also 1,65 Euro, sollst du Rücklagen bilden. Deswegen wird geschrieben: Es gibt im Regelsatz einen Bedarf für Strom und für Einsparungen, bezahl davon bitte deine Nachzahlung, danke.Was passiert dann?Dann muss man versuchen, mit dem Stromanbieter eine Ratenzahlung zu vereinbaren. Wenn die Ratenzahlung abgelehnt wird, was häufiger passiert, wenn die Leute schon mal in Zahlungsverzug waren, dann kommt es zur Stromsperre. Deshalb haben wir die Kampagne gestartet: um vor Stromsperren zu schützen.Und es meldeten sich 500 Leute.Ja, der helle Wahnsinn. Das Problem ist so groß, dass wir jeden Tag schon eine halbe Stunde, nachdem wir angefangen haben, auf ’ne Art am Ende unserer Kräfte waren. Weil ja klar ist, dass wir nur einen Bruchteil von denen erreichen, die betroffen sind, und unsere Unterstützung das Problem nicht im Kern angehen kann. Gut, wir können jetzt diese Jahresendabrechnung ausgleichen, aber ab nächstem Monat geht die Verschuldung bei vielen wieder los, oder: weiter. Die Kosten haben sich so verschärft, dass die Leute mit jedem Monatsabschlag in die Existenznot gebracht werden.Schreiben die Menschen über ihre Not?Eine Frau hat uns geschrieben, dass sie seit Jahren in Therapie ist und einigermaßen zurechtkam, aber jetzt ihre Dosis Antidepressiva erhöhen musste: „Ich schaff’s einfach nicht mehr, ich habe so viel Stress von allen Seiten und meine Kinder können nicht Weihnachten feiern. Ich habe zum ersten Mal keinen Weihnachtsbaum und es bricht mir das Herz.“ Solche Geschichten erreichen uns.Können die Menschen denn ihre Heizkosten zahlen?Bis Ende Dezember gilt ja noch die Corona-Sonderregelung, nach der die Heizkosten in ganzer Höhe von den Jobcentern übernommen werden – außer für Haushalte, deren Unterkunftsgröße nicht voll anerkannt wurde. Da übernimmt das Jobcenter nur einen Teil der Mietkosten und dann auch nur einen Teil der Heizkosten. Davon ist jeder sechste Hartz-IV-Haushalt betroffen, das sind etwa 400.000.Placeholder authorbio-1Klingt nicht so viel, 400.000.Genau, das wird mir dann geantwortet: Das sind ja wenige Menschen. Okay, und ist es dann egal, in was für einer Notlage diese Menschen leben? Wie kalt muss man sein, um 400.000 Familien in der Kälte sitzen zu lassen?Sie klingen etwas angefressen.Ich verstehe es einfach nicht. Dieser „Sozialstaat“ gibt Kindern zwischen sechs und 13 Jahren 4.06 Euro am Tag für Essen und Trinken. Nicht für eine Mahlzeit! Sondern am Tag! Wie soll das gehen? Und beim Bürgergeld sind es dann 4,54 Euro. Und wenn ich sage, dass ich das Bürgergeld nicht so großartig finde, versteht man mich nicht? Ich verstehe das nicht.Ja.Ja.Wie reagieren andere Leute, wenn Sie fragen, wie ein Kind von 4,54 Euro am Tag essen soll?Letztens sprach ich mit einem Journalisten darüber, der sagte dann: „Ja, ich bin froh, dass ich von diesem Regelsatz nicht leben muss. Aber man muss ja auch gucken, dass zwischen den Menschen, die arbeiten, und Erwerbslosen noch Abstand besteht.“Leistung muss sich lohnen.Ja. Diese Debatte hat krasse Langzeitschäden. Je mehr Menschen in der Familie sind, desto weniger steht für den Einzelnen zur Verfügung. Und dann behaupten manche echt, dass „Hartzer“ einfach immer mehr Kinder kriegen, damit sie mehr Geld bekommen. Das ist einfach so neben der Spur! Das kann man nur sagen, wenn man selber nie ein Kind gehabt hat oder nie gelernt hat, was es heißt, mit wenig Geld zu überleben.Sind Sie enttäuscht, dass die Unterstützung für eine tiefgreifende Hartz-Reform so gering war?Ich glaube, dass viele Menschen mehr Verständnis hätten, wenn sie mehr Hintergrundwissen über das System Hartz IV hätten. Aber man muss sich eben auch leisten können, sich dieses Hintergrundwissen anzueignen – nicht nur zeitlich, sondern auch emotional.Dass man sich dieses Wissen erst aneignen muss, sagt ja schon viel über die Spaltung dieser Gesellschaft. Wer Freundinnen hat, die vom Bürgergeld leben, muss doch vieles mitbekommen.Daran sieht man, dass Hartz IV oft zu Isolation führt. Es ist kein Geld da, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen – und es gibt auch eine große Scham, von der Notlage zu erzählen, selbst gegenüber Freunden. Diese Abwendung von Armutsbetroffenen liegt auch im Leistungsdenken der Gesellschaft begründet – und daran, wie Medien funktionieren.Wie funktionieren denn Medien?Würde ich in einer Pressemitteilung erzählen, dass es einen Menschen gab, der seine Stromrechnung um 1.000 Euro gefälscht hat, um Geld von uns zu bekommen, würde sofort ein fetter Artikel daraus. Wenn wir sagen, dass wir 136.000 Euro für Stromnachzahlungen ausgezahlt haben – dann interessiert das weitaus weniger Menschen. Viele freuen sich, einen Grund zu finden, sich nicht mit Armut auseinanderzusetzen.Was meinen Sie, woher diese soziale Kälte kommt?Es ist nun mal sehr bedrückend, sich mit Armut auseinanderzusetzen. Ich habe sieben Jahre bei Sanktionsfrei direkt mit den Menschen gesprochen, im Support. Zwischendurch musste ich aussetzen, weil ich zu krasse Albträume hatte. Jetzt mache ich eher andere Aufgaben, aber letzte Woche bin ich eingesprungen – und fühlte mich schnell am Boden zerstört. Was mich aufbaut, ist die große Bereitschaft, zu spenden: 2021 hatten wir Spenden von 280.000 Euro, und 2022 sind es schon über 500.000 Euro! Ein echter Boom.Eine Hoffnung für das Jahr 2023?Klar, das ist großartig. Aber wenn ich an 2021 denke, war unsere Hoffnung da noch viel größer: Bevor der Koalitionsvertrag geschlossen wurde, dachten wir echt kurz, dass es uns vielleicht gar nicht mehr brauchen wird – wenn SPD und Grüne ein Bürgergeld einführen, das sanktionsfrei und existenzsichernd wird.Haha!Ja, hahaha, kam anders.
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