Dass Michael Kretschmer schon am Sonntagabend aus müden Augen erleichtert in die Kamera lächeln wird, braun gebrannt vom vielen Grillen, daran glaubt 24 Stunden vorher auf dem Görlitzer Marienplatz echt keiner. „Kretschmer“, muss Sebastian Wippel nur von der blauen Bühne herunter sagen, schon grölt die Menge. „Anteil ausländischer Täter bei Vergewaltigung“, sagt der Görlitzer AfD-Direktkandidat zwar auch, „Braunkohle verteidigen bis zur letzten Schippe“, sagt er. Und: „Wir sind eine Friedenspartei“; keine Regung. Aber „Kretschmer muss abgewählt werden“: Volltreffer! „Pfui! Weg mit dem!“
Die Menge, das sind rund 300 AfD-Unterstützer, die am Samstagabend zum Wahlkampfabschluss der sächsischen AfD gekommen sind – wie bei der Europawahl auch findet er in Görlitz statt, „unser Görlitz!“, schwärmt Blau, hier wäre der Polizist Sebastian Wippel beinahe Oberbürgermeister geworden. 45 Prozent erhielt er bei der Wahl im Juni.
Eine in der Menge, das ist die rothaarige Rentnerin, 71 Jahre alt, kurz vor ihrem Urlaub in Bulgarien wollte sie sich die AfD noch mal anschauen. Sonntagfrüh geht es los, gewählt hat sie schon, per Briefwahl, Nicken Richtung Bühne, „weil man die CDU nicht mehr ernst nehmen kann“. Warum? „Was ham se denn die letzten fünf Jahre gemacht? Was ham se denn die letzten 30 Jahre gemacht? Und jetzt kopieren se alles bei der AfD!“ Die Forderung nach einem ICE-Anschluss? Nach wirtschaftlicher Förderung der Region? „Alles abgeschrieben! Ein Plagiator“, sagt sie. Plagiator, so hat Jörg Meuthen Kretschmer eben auf der Bühne genannt, „hoffentlich ist der morgen weg“.
Doch während sich die rote Blaue bereits in Bulgarien sonnt, hat der amtierende Ministerpräsident es tatsächlich noch geschafft: die CDU mit 32,1 Prozent als stärkste Partei in Sachsen erhalten, das Direktmandat im Wahlkreis Görlitz II gewonnen, aus Augenringen in die Kamera gelächelt, Koalitionsverhandlungen mit Linkspartei und AfD ausgeschlossen. Doch während ein Teil der Republik erleichtert aufatmet, wird in Görlitz genauer auf die Zahlen geschaut. Denn als Direktkandidat gewann Kretschmer zwar 45,8 Prozent der Stimmen und Wippel nur 37,9 Prozent; bei den Zweitstimmen aber wurde nicht die CDU, sondern die AfD stärkste Partei. Seinen Görlitzer Wahlsieg also hat Kretschmer dem taktischen Wählen der SPD-, Linken- und Grünen-Wählerinnen zu verdanken, die einen AfD-Direktkandidaten verhindern wollten. Auf kommunaler Ebene wiederholt sich bei der Sachsenwahl, was schon bei der Bürgermeisterwahl passierte: Ein breites Bündnis aus CDU, SPD, Linken und Grünen verhindert einen Wahlsieg Sebastian Wippels – im Vertrauen auf Kretschmers Worte, der klare Kante gegenüber der AfD versprach. Und nun wohl mit SPD und Grünen zusammenarbeiten muss.
Dass diese Allianz längst nicht allen in der CDU passt, erfuhren die Görlitzer bereits am Donnerstag vor der Wahl. Als ein AfD-Kandidat in einen Stadtratsausschuss gewählt wurde, vermutlich mit CDU-Unterstützung. Es handelt sich dabei um Norman Knauthe, Justizvollzugsbeamter und AfD-Mitglied, nun eben auch „sachkundiger Bürger“ im Ausschuss für Umwelt und Ordnungspolitik. 20 Stimmen hat er bei der geheimen Ausschusswahl erhalten, 13 Stimmen hat die AfD-Fraktion im Stadtrat, woher also kamen die sieben weiteren?
Stehenbleiben. Abdrücken
Joachim Schulze, Vorsitzender der Bündnisfraktion aus Grünen, SPD und zwei Wählervereinigungen, ist sich sicher: Da haben CDU-Stadträte ihrem Bürgermeister und nicht zuletzt Kretschmer eine Ansage gemacht. „Völlig ohne Not! Die waren bei ihren eigenen Kandidaten nicht auf die Stimmen der AfD angewiesen“, echauffiert sich Schulze. Die Wahl sieht er als lokale Ausprägung des Machtkampfes, der in der sächsischen CDU im Gange ist, als Ausdruck eines „Flügelproblems“. Denn um wen es sich bei Norman Knauthe handele, „das wussten die alle, als sie ihn gewählt haben. Er ist ein Waffennarr und Sympathisant der rechtsextremen Identitären.“
Wer Norman Knauthes Facebook-Wall liest, findet Kommentare wie „Das Einzige, was sich ändern wird, ist die Häufigkeit der widerlichen Gräueltaten, die sich durch Migration hier abspielen. (…) Multikulti-Utopisten wähnen sich immer noch der ‚Gefahr von rechts gegenüber. Ihr habt Blut an euren Händen und es kommt die Zeit, da wird es euer eigenes oder das eurer Familien sein.“ Wer Norman Knauthe googelt, findet noch ein anderes Posting: das Foto einer Pistole, drapiert neben einem Kampfmesser. „Home defense low level“, schreibt Knauthe. 66 Likes, vier Herzchen.
Ein Waffennarr? Knauthe lacht. In einem Görlitzer Café auf der sonntäglich leer gefegten Einkaufsmeile sitzt der 41-Jährige im T-Shirt der Marke Carhartt, zurückgegelte braune Haare, blaue Augen, und lacht: „Ich bin Sportschütze. Ich habe eine Waffe und eine Waffenbesitzkarte, ganz legal, und ich habe ein Foto meiner Waffe in die Glock-Facebook-Gruppe gepostet. Das ist wie eine Hobbygruppe von der Waffenfirma Glock. Leute aus der ganzen Welt posten dort ihre Waffenbilder, und ich eben auch.“
„Er ist ein Waffennarr!“, wiederholt die Grüne Franziska Schubert, die am Sonntagabend etwas geknickt auf der grünen Wahlparty im Café sitzt, ein anderes Café natürlich, Altstadt, veganes Essen gibt es hier. Auf zweistellig hatte sie in Sachsen gehofft, nun haben die Grünen nur 8,6 Prozent geholt, und die CDU stimmt womöglich mit der AfD in jenem Stadtrat, den sie eigentlich als Oberbürgermeisterin führen wollte – sie lag bei der Wahl im Mai jedoch hinter den Kandidaten der AfD und CDU, knapp. Als Direktkandidatin holte sie nun 7,2 Prozent der Stimmen, „ist okay“, sagt sie, „ist ja schließlich einer der blauesten Wahlkreise hier“. Schubert ist bekannt dafür, dass sie Dinge sagt wie „Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen“ und „Der grüne Weg durch schwarzes Land ist lang“, wobei das Land auf der Wahlkarte auch ganz schön blau aussieht. Aber wenn sie über Norman Knauthe spricht, wird sie blass. „Jemand, der sich gerne mit Waffen umgibt, erscheint mir nicht als harmlos. Ich bin Pazifistin, ich bin grundsätzlich gegen Waffenbesitz.“
„Ich kann da abschalten“, sagt Knauthe, „beim Kraftsport kann ich abschalten, beim Kampfsport, und beim Schießen eben auch. Das ist eine Übung für Körper und Geist: Stehenbleiben. Atmen. Und Abdrücken. Das ist mein Sport, und das ist legal.“ Fakt sei jedoch auch: Wenn jemand ihn und seine Tochter zu Hause angreife, dann habe er das gesetzlich verbriefte Recht, sich angemessen zu verteidigen.
„Hat der denn keine Alarmanlage?“, seufzt Schubert und winkt ab: genug Knauthe. Sie ist sich sicher, dass die Zusammenarbeit von CDU und AfD kein Einzelfall bleiben wird. Auch in Sachsen-Anhalt diskutiert der Harzer Kreisverband eine Zusammenarbeit mit rechts: „Die Tabubrüche mehren sich.“ Als Schubert sich müde erhebt, ist das Café bereits leer.
Schrei nach Liebe
Leer sind auch die Görlitzer Straßen, ein kühler Wind bläst die schwüle Hitze des Wahlwochenendes aus der Stadt, das Gewitter ist ausgeblieben. Eine Gruppe Jugendlicher zieht über den Platz, „deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe“, singen sie den Ärzte-Song, „deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit“, von weit her hört man ihn durch die Nacht, ihren Aufschrei: „Arschloch!“ 37,9 Prozent hat die AfD in Görlitz geholt.
Einige Ecken weiter liegt das Da Vinci, in dem Restaurant hat sich die Görlitzer CDU getroffen, es leert sich ebenfalls. Unionsmitglied Anselm Hofmann ist schockiert von dem Vorkommnis im Stadtrat, so sagt er es der Süddeutschen Zeitung. Das müsse man jetzt aufarbeiten im Kreisverband.
Draußen im Hof steht Octavian Ursu, seit August Oberbürgermeister, und verabschiedet seine Kollegen. Er lächelt leicht, entspannt. Ob es ihn nicht beunruhige, dass Teile seines Ortsverbands mit der AfD stimmten? „Ich beteilige mich nicht an Spekulationen über eine geheime Wahl.“ Habe nicht auch Ursu selbst eine Zusammenarbeit mit der AfD abgelehnt? „Ich sage: Eine Koalition mit der AfD sollte man nicht anstreben. Aber als Oberbürgermeister behandle ich alle Stadträte gleich. Ich mache keine Politik für die eine oder die andere Seite, ich vertrete die Interessen meiner Stadt.“ Kann er denn die Sorgen nicht verstehen, dass sich die CDU auf lokaler Ebene nicht an Kretschmers Ansage halte: keine Zusammenarbeit mit der AfD?
Ursu wippt nicht mehr. Er steht jetzt fest, verschränkt seine Arme hinter dem Rücken, beugt sein Gesicht vor. „Wollen Sie das wirklich?“, fragt er. „Wollen Sie, dass sich alle Untergliederungen, alle Mitglieder einer Partei an das halten müssen, was von oben angesagt wird? Wollen Sie diese Zeiten zurück?“
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