Ich fühle mich nicht gut regiert

Corona Im Vakuum zwischen zwei Regierungen explodiert das Virus. Das liegt nicht allein am Übergang: Wir haben verlernt, für die Politik zu demonstrieren, die wir brauchen. Wir sind keine Gemeinschaft mehr – wir sind eine Ansammlung von Individuen
Im Privaten streiten wir über Impfungen. Dabei sollten wir auf der Straße von der Politik fordern, was sie uns vorenthalten: gute Politik
Im Privaten streiten wir über Impfungen. Dabei sollten wir auf der Straße von der Politik fordern, was sie uns vorenthalten: gute Politik

Foto: Raul Arboleda/AFP via Getty Images

Ich fühle mich in dieser Pandemie nicht gut regiert. Ein komisches Gefühl. Es ist das Gefühl, dass die alte Regierung im Juli Maßnahmen gegen eine vierte Welle hätte ergreifen müssen und es nicht tat. Es ist das Gefühl, dass die neue Regierung Maßnahmen ergreift, ohne Regierung zu sein, also ohne unter Druck setzbar zu sein, ohne adressierbar zu sein. Es ist ein merkwürdiges Gefühl der stillen Tatenlosigkeit. Diese Tatenlosigkeit, die zwischen zwei Bundesregierungen entstanden ist, hat zu einer Situation geführt, in der wir über Impfpflicht diskutieren. Eine Impfpflicht bedeutet für mich das Scheitern jeder Regierung in einer Pandemie.

Als leicht antiautoritär tickende Linke muss ich vielleicht erstmal erklären, was ich verstehe unter einer „guten Regierung“. In der globalisierungskritischen Bewegung haben wir darüber nämlich noch viel diskutiert – das tun wir heute kaum noch. Wir haben nach Chiapas in Mexiko geschaut, wo die Zapatistas das Konzept des „gehorchenden Regierens“ eingeführt haben: Die Regierung wird verstanden als eine Verwaltung der Gemeinschaft, die dieser stets zuhören muss, und die Gemeinschaft ihrerseits drückt aus, was sie gerade benötigt, welche Politik sie wünscht – wie sie verwaltet werden möchte. Die Regierung hat die Aufgabe, herauszufinden, was die Gemeinschaft benötigt, die sie regiert. Und wenn sie nicht das tut, was die Gemeinschaft benötigt, dann ist es keine gute Regierung. Eine Regierung muss der Gesellschaft, die sie regiert, gehorchen.

Nun ist die zapatistische Gemeinde in Chiapas nicht über 80 Millionen Menschen groß, und ihre Interessen haben nicht die Gegensätze, die sich in Deutschland finden lassen: Die verschiedenen Interessen verschiedener Kapitalfraktionen, die verschiedenen Interessen verschiedener Arbeitnehmer vom Auto-Ingenieur bis zur Guerilla-Fahrerin. Und dann sind da noch all die unterschiedlichen Lebensweisen und politische Haltungen: Die einen wollen keinen Lockdown, die anderen wollen Lockdown plus Impfpflicht.

Eine gute Regierung muss vorausschauend handeln

Von einer Regierung erwarte ich, dass sie diese Gemengelage durchblickt und einen Weg findet, diese bunte Gesellschaft so zu regieren, dass es allen einzelnen einigermaßen gut geht – und der Gesellschaft im Großen und Ganzen. Soll heißen, auf die Pandemie bezogen: Eine gute Regierung muss einen Weg finden, das Virus in den Griff zu bekommen, ohne das Recht auf körperliche Selbstbestimmung anzutasten. Eine Pandemie erfordert die Fähigkeit, vorausschauend zu handeln, also vorausschauend heute das zu tun, was die Gesellschaft in der Zukunft benötigt. Ohne davon abhängig zu sein, was jeder einzelne tut.

Das hätte im Juli geschehen müssen. Unsere Regierung hätte im Juli dafür sorgen müssen, dass in allen Schulen Luftfilter eingebaut werden – und in diesem Fall bedeute „unsere Regierung“: die Regierungen der Länder und der Kommunen. Unsere Regierung hätte im Juli Impfteams in die Pflegeheime und andere Einrichtungen losschicken müssen. Unsere Regierung hätte vor eineinhalb Jahren spätestens damit beginnen müssen, Krankenhäuser zu subventionieren, um sie vom Kostendruck des „Wettbewerbs“ im Gesundheitssystem zu befreien und das Pflegepersonal so zu entlasten. Unsere Regierung hätte die Kommunen mit mehr Finanzen versorgen müssen, damit diese ihrerseits die Entwicklung lokaler Gesundheitszentren in den Kiezen fördern können. Unsere Regierung hätte massiv in das Gesundheitssystem investieren müssen. Unsere Regierung hätte im Juli schon eine Kampagne für die dritte Impfung starten müssen. Hat sie nicht. Sie weigerte sich, Politik zu machen für unsere Gesellschaft.

Unsere kommende Regierung müsste all dies tun, was unsere gehende Regierung versäumt hat. Um all dies zu finanzieren, was wir brauchen – und mit „wir“ meine ich: die von unserer Regierung regierte Gesellschaft von über 80 Millionen Menschen – dafür müsste unsere kommende Regierung Geld beschaffen. Sie müsste die Schuldenbremse abschaffen. Sie müsste eine Vermögenssteuer einführen. Sie müsste umverteilen. Sie müsste alles dafür tun, dass mehr Geld in die Gesundheitssysteme kommt, zum Pflegepersonal, an die Gesundheitsämter, in die Krankenhäuser, in Gesundheitszentren. Wir werden bald erfahren, was die kommende Regierung tun wird, nur – und nun kommen wir wieder zu den Lehren der Zapatistas in Mexiko: Damit unsere Regierung mehr für das tut, was eine Gesellschaft benötigt, muss die Gesellschaft ihr deutlich sagen, was sie benötigt.

Ich schäme mich für diese Gemeinschaft

Und damit sind wir nicht mehr bei „unserer Regierung“, sondern: bei uns. Der einzige Vorwurf, den „wir“ „uns“ machen, ist: Dass wir uns nicht impfen lassen. Da ist die Regierung fein raus, denn dieser Vorwurf und das Impfen kostet sie beinahe nichts – gemessen an dem, was unsere Regierung eigentlich leisten müsste. Während wir uns in der Frage bekriegen, wer sich warum nicht impfen lässt, während sich die einen gegen die Impfung wehren und die anderen auf sie zeigen, sprechen wir nicht darüber, was „wir“ als Gesellschaft wirklich bräuchten. Warum ärgern wir uns über die Demonstrationen der Impfgegner – anstatt diese Energie darauf zu verwenden, selbst zu demonstrieren? Wo waren denn die großen Demonstrationen für mehr Investitionen in das Gesundheitssystem? Wo waren die großen Solidaritätsbekundungen mit dem Kampf der Krankenhäuser? In Berlin gab es sie. Gekommen sind 2.000 Menschen, immerhin. Aber wo bleiben die Hunderttausenden von "Unteilbar"? Wo bleibt die bundesweite Krankenhausbewegung? Wo bleiben die großen Versammlungen, im Sommer, auf denen wir kollektiv überlegt haben, wie wir lokale Gesundheitszentren in unsere Nachbarschaften aufbauen können? Wo waren die vielen Crowdfunding-Kampagnen für Extrazahlungen an unser Pflegepersonal?

2011, vor zehn Jahren, gab es Platzbesetzungen überall auf der Welt, von New York über Kairo und Madrid bis nach Tokio. Die Menschen haben sich zu Hunderttausenden versammelt, um über sich als Gesellschaft zu diskutieren. Über „echte Demokratie“.

Hätte es solche Versammlungen auch 2021 gegeben, hätten wir den Sommer genutzt, um uns als Gesellschaft darüber zu verständigen, was wir nun brauchen, inmitten der Krisenerfahrung einer globalen Pandemie – dann wäre die kommende Regierung jetzt in einer anderen Situation. Sie stünde unter Druck: dem Druck, zuhören und gehorchen zu müssen. Doch stattdessen diskutierten wir über Annalena Baerbocks Lebenslauf. Und diese Regierung kann wieder nicht hören, was wir brauchen. Weil wir es nicht laut sagen.

„Gehorchendes Regieren“, dazu gehören zwei Seiten: Jene, die sagen, was sie brauchen, und jene, die tun, was die Gemeinschaft braucht.

Ich fühle mich nicht gut regiert. Nicht von meiner Regierung – und nicht von meiner Gemeinschaft. Denn dies ist keine Gemeinschaft. Es ist eine Ansammlung von 83 Millionen Individuen, die sich die Schuld an der Misere nun gegenseitig in die Schuhe schieben. Ich schäme mich für diese Gemeinschaft, die keine ist. Und ich schäme mich, dass ich im Sommer nicht auf den Plätzen meiner Stadt war, um das zu ändern.

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