Meinung Nach der Invasion russischer Truppen ist die Lage in der Ukraine festgefahren. Trotzdem wissen seit dem 24. Februar 2022 alle immer ganz genau, was zu tun ist. Wirklich? Ein Plädoyer für mehr Mut zur Ungewissheit
Mehr Waffen! Keine Waffen! Woher nehmen bloß alle ihre Überzeugung?
Foto: Anatolii Stepanov/AFP via Getty Images
Die Nachkriegsordnung Europas ist Geschichte. Welche neue Ordnung aus den Trümmern entsteht, wird dieses Jahr zeigen. Vielleicht. Womöglich bringt 2023 aber auch noch mehr Zerstörung, wer weiß das schon? Ich jedenfalls nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Ja, dies ist ein Leitartikel, liebe Lesende, aber wenn Sie hier Leitung suchen, dann muss ich Sie wohl enttäuschen. Denn ich zweifle. Ich zweifle an den Waffenlieferungen, und ich zweifle am Frieden. Wenn ich Sie überhaupt irgendwohin leiten kann, dann in den Zweifel. Möchten Sie mir folgen?
Es war der 24. Februar 2022, an dem mein Mund plötzlich offen stand. In meinem Kopf brach etwas zusammen, und es war nicht so sehr die Nachkriegsordnung wie vielmehr die letzte Hoffnung darauf, dass die linke We
e linke Weltsicht doch noch recht behalten kann. Ja, Putins Russland hatte zuvor schon Krieg in Tschetschenien, Georgien und Syrien geführt. Ja, Geopolitik war nie ein Ponyhof. Aber für all das hatte es immer eine Erklärung gegeben: Der Westen setzte Russland unter Druck, im Nahen Osten, in Osteuropa, auf dem Kaukasus. Und Russland? Reagierte nur.Am 23. Februar hatte mir diese Weltsicht noch versichert, Wladimir Putin sei nicht so verrückt, einen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beginnen. Solange die Ukraine weder der NATO noch der EU beitrete, drohe Putin nur. Gregor Gysi sagte das. Sahra Wagenknecht sagte das. Ich zweifelte zwar an ihrer Gewissheit, aber im Zweifel wollte ich mich stets links entscheiden, also hielt ich an diesem Glauben fest. Am 24. Februar floss dieser verzweifelte Glaube aus meinem offenen Mund in eine Welt der großrussischen Machtfantasien hinaus.Seither beobachte ich stumm all die anderen Münder, die sich so schnell bewegen.Sie reden ohne Punkt und KommaDie Münder von Annalena Baerbock, Olaf Scholz, Anton Hofreiter, Ralf Fücks oder Sascha Lobo sagen mir: Die Ukraine braucht jetzt gute Waffen, sonst baut Putin sein Großrussland auf. Wenn die Ukraine es nicht schafft, Putin zu stoppen, dann nimmt er noch Moldawien ein, vielleicht Polen oder Litauen, wer weiß, wie weit er geht, und ich denke mir: Ja, wer weiß das schon? Sie sagen mir: Sieh dir Putins Politik an, er verfolgt Menschen, nur weil sie Menschen lieben, er lässt Menschen festnehmen, die ihre Gedanken äußern, wenn wir diesen Machthungrigen nicht stoppen, dann wird Liebe verboten, und es herrscht Angst, Denunziantentum und Gewalt.Ich sehe diese Münder, aber ich frage mich: Was für eine politische Kultur entsteht denn im Krieg? Wie ist denn Liebe zwischen zwei Männern möglich, wenn der Feind den Vater, den Sohn, den Bruder, den Freund umgebracht hat? Wenn jemand auf dich zielt, wie kannst du dich dann je wieder öffnen? Was für eine Politik etabliert sich denn in einem Land, in dem nationalistisches Kriegsheldentum jede Weichheit, Zärtlichkeit und jeden Zweifel platt walzt?Wer Frieden will, muss zweifelnAuch die Münder jener Menschen bewegen sich, die ich vor dem 24. Februar ohne große Zweifel als meine Gesinnungsgenossinnen bezeichnete, und sie sagen mir: Hör nicht auf diese Kriegstreiber! Wer Waffen an die Ukraine liefert, steht auf der Seite der USA! Wer Frieden will, muss auf Russland zugehen und dafür in Kauf nehmen, dass die Grenzen der Ukraine nach dem Krieg nicht mehr so aussehen wie vorher, Frieden gibt es erst, wenn Putin zufrieden ist, also geben wir ihm, was er braucht. Ich sehe, was diese Münder sagen, und ich denke mir: Habt ihr die Bilder vom Maidan 2014 gesehen? Ist es für euch Frieden, wenn demonstrierende Ukrainerinnen fortan dieser brachialen Gewalt ausgeliefert sind? Und wer sagt mir überhaupt, dass ihr diesmal recht habt und Putin sich mit Kompromissen zufriedengibt – was, wenn Putin an seinen großrussischen Plänen festhält? Was, wenn ukrainische Paramilitärs den Kampf gegen Russland fortführen – wenn Bürgerkrieg ausbricht?Ich beobachte all diese Münder, die mehr Waffenlieferungen fordern (für den Frieden!), die einen Stopp der Waffenlieferungen fordern (für den Frieden!), und frage mich: Woher nehmen sie ihre Gewissheit?Seit dem 24. Februar 2022 bleibt mein Mund offen und stumm, aber erst jetzt bin ich fähig, dieser Regung einen Namen zu geben: Sie heißt Zweifel.Ich zweifle an einer Weltsicht, die einen aggressiven Westen von einem defensiven Osten unterscheidet, und ich bezweifle, dass die gegenteilige Aufteilung in einen aggressiven Osten und einen defensiven Westen die Realität besser trifft.Ich bezweifle, dass ein Mensch Frieden finden kann, der einen anderen Menschen getötet hat, und ich bezweifle, dass es dabei einen Unterschied macht, ob er in einer Angriffsarmee kämpft oder in einer Verteidigungsarmee. Ich bezweifle, dass ein Mensch Frieden finden kann, der sich in einer Welt der großrussischen Fantasien und der Gewalt wiederfindet, in der er weder lieben noch sprechen darf.Ich bezweifle, dass es eine Abkürzung zum Frieden gibt. Ich glaube, Frieden muss gewünscht werden. Und ich glaube, um Frieden zu wünschen, muss zuerst der Zweifel wachsen. Denn Kriege werden aus Gewissheit begonnen: aus der Gewissheit, überlegen zu sein. Erst wenn diese Gewissheit bröckelt, kann der Frieden sich durch den Zweifel am Krieg einen Weg bahnen. Das weiß ich nicht, aber das hoffe ich.
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