„In Krisen werden Mythen mächtiger“

Interview Regiert Bill Gates die Welt, wer hat Angst vorm Impfen? Die Psychologin Pia Lamberty erklärt, wo Verschwörungserzählungen anfangen
Ausgabe 20/2020
Trag lieber ein gutes Schild durch die Gegend
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Foto: 7aktuell/Imago Images

Ken Jebsens Stimme ist eindringlich. Ob er eine Schutzmaske tragen müsse, so munkelt er auf seinem Youtube-Kanal, bestimme nicht die Bundesregierung, sondern die Bill & Melinda Gates Foundation. Das klingt nach Verschwörungstheorie. Oder doch nicht? Hat Bill Gates nicht tatsächlich viel Einfluss? Das fragen sich nicht nur viele der drei Millionen Abonnenten des Verschwörungs-Youtubers Jebsen, sondern auch viele andere. Wie geht man mit solchen Fake News um? Zeit, eine Expertin für Verschwörungsmythen zu befragen.

der Freitag: Frau Lamberty, Ken Jebsen erzählt Millionen von Menschen, Bill Gates habe sich über die Weltgesundheitsorganisation WHO in die Weltdemokratien hineingehackt. Haben Sie derzeit mehr als sonst zu tun?

Pia Lamberty: Ja, ich bekomme viele Anfragen. In Krisen werden Verschwörungsmythen mächtiger und gefährlicher. Bill Gates lässt sich in anderen Erzählungen durch einen beliebigen anderen mächtigen Akteur ersetzen: Angela Merkel, Hillary Clinton, oder einen Virologen. Wichtig ist: Dieses Feindbild ist konstruiert.

Konstruiert? Bill Gates hat ja nun tatsächlich großen Einfluss.

Es gibt häufig Überlappungen mit realen Machtverhältnissen, aber nicht immer. Juden, die häufigste zum Feindbild konstruierte soziale Gruppe, sind nicht mächtiger als der Rest der Welt. Im Gegenteil sind sie oft Antisemitismus ausgesetzt. Machtverhältnisse werden teils auch auf den Kopf gestellt: Präsidenten wie Donald Trump oder Wladimir Putin werden nicht als mächtig, sondern als Opfer der Verschwörer konstruiert.

Wie entscheidet sich, welchen Leuten vertraut wird? Nehmen wir die Virologen Christian Drosten und Sucharit Bhakdi: Warum misstraut Jebsen ersterem, während er letzteren in seine Sendung holt?

Psychologisch gesehen liegt der Grund gerade darin, dass die Mehrheit Christian Drosten vertraut. Dazu haben wir eine Studie durchgeführt: US-Amerikaner wurden mit einem „Rauchmeldermythos“ konfrontiert: Sie sollen angeblich sogenannte Ultrasounds ausstrahlen, die laut einem pensionierten Ingenieur sehr gefährlich seien. Einer Gruppe haben wir gesagt, die Mehrheit der Deutschen glaube dieser Erzählung, und der anderen Gruppe, es sei nur eine Minderheit.

Zur Person

Pia Lamberty ist Sozialpsychologin und forscht an der Universität Mainz zur Entstehung von Verschwörungsmentalitäten. Ihr Buch Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen (Co-Autorin: Katharina Nocun) erscheint am 29. Mai 2020 bei Quadriga

Normalerweise tendiert man wohl zu der Mehrheitsmeinung?

Die meisten Menschen tun das. Aber unsere Studie zeigt: Bei Leuten mit starker Verschwörungsmentalität dreht sich der Effekt. Sie glauben einer Erzählung eher, wenn eine Minderheit daran glaubt, und reagieren auf wissenschaftlichen Konsens ablehnend.

Man könnte auch sagen: Das sind kritisch denkende Menschen.

Es gibt einen wichtigen Unterschied: Während das kritische Denken alle Quellen reflektiert und sich auch kritisch mit der eigenen Position auseinandersetzt, ignorieren Anhänger von Verschwörungsmythen Informationen, die ihr eigenes Weltbild ins Wanken bringen.

Drosten weist oft darauf hin, dass er vieles selbst nicht oder nur schlecht einschätzen kann. Im „ZDF-Faktencheck“ wird seine Expertise dennoch als „Fakt“ klassifiziert, Bhakdis Expertise als „These“ deklariert.

Christian Drosten macht eine sehr gute Wissenschaftskommunikation, die Zweifeln und Unwissenheit Raum gibt. Leider wird das medial nicht immer transportiert. Corona konfrontiert uns alle mit der Frage: Wer kann zu dem Thema sprechen? Grundsätzlich müssen wir fragen: Was ist eine falsche Information, weil es jemand einfach nicht besser wusste; was ist eine Desinformation, die jemand mit Absicht streut; und was ist eine Verschwörungserzählung?

Manche nehmen jede Fehlinformation als gezielte Desinformation wahr. Woher kommt dieses Misstrauen?

Dazu wurde leider noch nicht so viel geforscht. Einzelfallstudien zeigen jedoch, dass es häufig eine Lebenskrise gab, in der Menschen das Grundvertrauen verloren – Verlassenwerden, plötzliche schwere Krankheit, Arbeitslosigkeit. Es gibt auch erste Hinweise, dass unsicheres Bindungsverhalten in der Kindheit mit Verschwörungsglauben zusammenhängt.

Es geht also um Angst vor Kontrollverlust?

Genau. Die Person, die einem Kontrolle anbietet, eine Erklärung für die als ungerecht empfundene Welt, der glaubt man dann.

Aber sowohl Drosten als auch Bhakdi bieten Lesarten des Virusgeschehens an, also Kontrolle.

Es muss also noch andere Bedürfnisse geben, die durch eine Verschwörungserzählung erfüllt werden. Wir forschten danach und fanden empirisch das Bedürfnis, einzigartig und besonders zu sein.

Will das nicht jeder ein bisschen?

Deshalb ist auch jeder empfänglich für Verschwörungserzählungen. Jeder US-Amerikaner hängt empirisch mindestens einem Verschwörungsglauben an, etwa, dass die Anschläge vom 11. September 2001 von der US-Regierung initiiert wurden.

Und in Europa?

Glaubt jeder Fünfte an eine Impfverschwörung.

Auch Jebsen legt nahe, dass alle Maßnahmen für den Profit eines Bill Gates durch eine Corona-Impfung durchgesetzt werden.

Das hat in Deutschland eine lange Tradition: 1881 erschien eine Kampfschrift von Eugen Dühring, einem der Vordenker der Nazi-Ideologie, die Impfungen als „verjudet“ darstellte. Im Nationalsozialismus wurde die Vorstellung einer „ganzheitlichen Volksmedizin“ der angeblich „verjudeten Schulmedizin“ gegenübergestellt. Dem Narrativ nach wurden Impfungen von Juden erfunden, um die Arier zu „beherrschen“; später hieß es „vergiften“. Diese historische Erzählung vermischt sich mit der Angst davor, etwas in den Körper gespritzt zu bekommen, das man nicht so ganz versteht.

Wenn der Staat verfügt, dass man sich etwas in den Körper hineinspritzen lässt – da genauer hinzuschauen, halte ich für vernünftig.

Wieder sind wir bei der Frage: Was ist berechtigte Skepsis und Kritik, was ist Verschwörungsglaube?

Ja, aber wer entscheidet das? Ich kann nicht beweisen, dass Bill Gates nicht alle Strippen in der Hand hält. Nur: Wie ich die Welt nach meinen Erfahrungen verstehe, halte ich die Zusammenhänge für viel komplexer.

Das ist ein methodisches Problem: Die Nichtexistenz von Dingen lässt sich schwer beweisen. In der Psychologie geht es uns aber nicht darum, den Wahrheitswert von Erzählungen zu bestimmen, sondern nachzuvollziehen, warum manche Menschen Verschwörungen erkennen können, aber auch sehen, wo es – wahrscheinlich – keine gibt. Andere sehen überall das gleiche Muster am Werk.

Vom Anti-Christ und der 5G-Verschwörung

Das Wörtchen „viral“ möchte man dieser Tage nicht unvorsichtig benutzen, aber hier wäre es doch angebracht: Dem ehemaligen RBB-Moderator Ken Jebsen, der seit seinem unfreiwilligen Ausscheiden aus den „Systemmedien“ ein eigenes Portal betreibt, ist mit einem Video ein Klick-Erfolg gelungen. In dem Clip beschreibt er eine angebliche Verschwörung der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung: Das Milliardärspaar habe die Weltgesundheitsorganisation WHO „gekauft“ und plane mit einem Corona-Impfstoff
die Reduzierung der Bevölkerung.

Verschwörungsmythen werden oft an aktuelle Ereignisse angepasst – etwa an die neuen 5G-Funknetzmasten, von denen einige in Großbritannien von Verschwörungsgläubigen in Brand gesetzt wurden. Sie würden das Virus ver- breiten. Hinter vielen Phänomenen der Welt steht für Verschwörungstheoretiker stets ein großer Plan, der von konkret benennbaren Akteuren erdacht und ausgeführt wird.

Der Sänger Xavier Naidoo beispielsweise glaubt nicht nur, dass die Covid-19-Pandemie eine reine Erfindung ist. Er wollte auch schon die Klimakrise nicht als solche begreifen. Wie weit die Personalisierungen gehen können, dafür ist Naidoo ein Paradebeispiel. Kürzlich suggerierte er, hinter der „Fridays for Future“-Bewegung stecke niemand Geringeres als der Antichrist persönlich. Grund: Das F entspreche dem 6. Buchstaben im Alphabet, die Abkürzung „FFF“ ergebe also „666“. Zufall?

Wenn es psychologische Mechanismen sind, die Menschen in Verschwörungstheorien treiben, bringt es dann überhaupt etwas, ihnen Recherche und Fakten entgegenzustellen?

Der Kontext spielt eine Rolle: Ist es ein Fremder in sozialen Medien, muss ihm spätestens dann öffentlich widersprochen werden, wenn der Verschwörungsmythos menschenfeindlich ist. Geht es um eine Person aus dem nahen Umfeld, kann man sich eher überlegen: Was ist im Leben dieser Person gerade los, dass sie sich nun an Verschwörungstheorien festhält?

Statt Beweise heranzuschaffen, soll ich also fragen: Hey, wie geht es dir gerade eigentlich?

Na ja, vielleicht ein bisschen weniger direkt ... Das Problem ist: Die Personen stecken meist sehr tief im Thema, kennen angebliche Expertenberichte, die in den sozialen Medien kursieren, und die zu widerlegen, ist sehr schwer. Man wird selbst schnell unsicher.

Wie bei Corona.

Genau, wir werden mit Massen an Zahlen konfrontiert, die kaum einzuordnen sind.

Aber wieso können manche sagen: Ich weiß einfach nicht, wie man Corona einschätzen sollte, wir werden es mit der Zeit herausfinden – und andere brauchen die eine Wahrheit, jetzt sofort?

Das nennt sich Unsicherheitstoleranz, und der Umgang mit ihr ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ich kann Kontrolle erlangen, indem ich Gesichtsmasken nähe – oder indem ich überall Muster herausarbeite, wo keine sind, und an böse Feinde mit viel Macht glaube.

Sind Verschwörungsmythen nun rechts, links oder politisch gar nicht einzuordnen?

Empirisch geht eine rechtsgerichtete politische Einstellung häufiger mit einer Verschwörungsmentalität einher als eine linke. Aber grundsätzlich finden sich solche Veranlagungen überall in der Gesellschaft. Auch Menschen mit über 100.000 Euro Jahresgehalt hängen Verschwörungsmythen an.

Dann ist eher ausschlaggebend, wie sehr ich mich mit der Mehrheit einer Gesellschaft identifiziere, als mein sozialer Status?

Das eine hängt häufig mit dem anderen zusammen. Menschen in unsicheren Arbeitsverhältnissen glauben eher oder stärker an Verschwörung, genau wie Menschen mit niedrigem Bildungsstand.

Weil sie nicht genug über die komplexen Zusammenhänge in der Politik wissen?

Lange wurde angenommen, es läge an niedriger Intelligenz oder fehlendem Wissen, doch diese These lässt sich nicht aufrechterhalten. Der Zusammenhang ist komplexer: Ein formal niedriger Bildungsabschluss führt leicht dazu, abgehängt zu werden, was wiederum Misstrauen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft fördert.

Müssten dann nicht auch andere benachteiligte Minderheiten zu Verschwörungsmentalität tendieren?

Ja. Das ist so.

Interessant! Psychologisch geht es also um Erfahrungen in der Gesellschaft. Was bedeutet das für die politische Einordnung?

Es gibt Verschwörungserzählungen, in denen die politische Einordnung kaum eine Rolle spielt, in esoterischen Bewegungen etwa. Aber meistens überlappen sich diese Mythen mit politischen Einstellungen, wie es beim Täter von Hanau der Fall war. Verschwörungstheorien waren in seinem Pamphlet zentral, gleichzeitig auch ein eliminatorischer Rassismus. Er hat neun Menschen mit Migrationshintergrund ermordet.

Radikalisiert sich die Verschwörungsszene?

Die Corona-Krise hat das Potenzial, Menschen stärker in Verschwörungsmentalitäten zu drängen. Entsprechende Telegram-Gruppen haben derzeit enormen Zulauf. Das ist besorgniserregend. In Hanau haben wir gesehen, wie Verschwörungsmythen Gewalt mobilisieren können. Wer glaubt, dass Bill Gates alle Macht über die Gesellschaft hat, für den hat der Erhalt dieser Gesellschaft kaum einen Wert.

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