Quiet Quitting heißt das Phänomen, dass qualifizierte Arbeistkräfte ihren Job nicht mehr machen wollen, weil ihre Ansprüche an den Arbeitsplatz steigen. Vor 20 Jahren noch freuten sich junge Menschen über jedes unbezahlte Praktikum. Wächst die Macht der Arbeitenden – trotz drohender Krise?
der Freitag: Herr Dörre, erinnern Sie sich an die „Überflüssigen“?
Klaus Dörre: Diese Aktionsgruppe in roten Pullis? Vage.
Die Aktivist*innen in roten Kapuzenpullis stürmten 2005 ein Luxusrestaurant in Hamburg-Blankenese. Sie aßen den Reichen das Essen weg und verteiltenFlyer mit dem Hartz-IV-Satz für Ernährung. Sie besuchten auch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der von „Sozialschmarotzern“ gesprochen h
28;hrung. Sie besuchten auch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der von „Sozialschmarotzern“ gesprochen hatte ...Richtig. Ich erinnere mich an die soziologische Debatte damals: Es wurde argumentiert, die technologischen Innovationen würden viele Menschen als Arbeitskräfte „überflüssig“ machen.Die „Überflüssigen“ standen für das damalige Lebensgefühl junger Berufseinsteiger*innen: Wir bewarben uns für Jobs mit 200 genauso Qualifizierten. Man fühlte sich ungebraucht.Das hat sich geändert: Der Arbeitsmarkt ist von einem Käufer- zu einem Anbieter-Markt geworden. Wir haben massive Engpässe bei Fachkräften, aber auch bei Arbeitskräften insgesamt: In der Gastronomie, in Autowerken, in Pflegeheimen, überall wird händeringend nach Arbeitskräften gesucht.1,2 Millionen Stellen sind unbesetzt, vermeldet die Bundesagentur für Arbeit.Und gleichzeitig waren in Deutschland noch nie so viele Leute in Erwerbsarbeit beschäftigt wie heute. Die Arbeit ist jedoch sehr ungleich verteilt: Die oben mit den hohen Qualifikationen arbeiten ungeheuer viel, weit über die 40 Stunden in der Woche. Und die unten in prekären Verhältnissen arbeiten wenig und würden gerne mehr arbeiten. Wer aber gut qualifiziert ist, kann heute tatsächlich unattraktive Arbeitsplätze meiden – anders als Sie es aus den Jahren der Agenda 2010 beschreiben.Ein Klempnerbetrieb am Bodensee berichtet, dass er erst dann Auszubildende fand, als er ihnen die Vier-Tage-Woche anbot.Diesen Wandel erlebe ich selbst: Ich habe Doktorandinnen-Stellen zu besetzen und schon drei Absagen von sehr guten Studentinnen. „Ich will lieber erst mal was anderes probieren, bevor ich diesen akademischen Hazard mache, wo ich bis zur Professur immer in prekären Verhältnissen bin.“Ist die Zeit der arbeiterlichen Ohnmacht vorbei, die wir im Neoliberalismus erlebt haben?Soziologisch sprechen wir davon, dass die Primärmacht von Lohnabhängigen wächst – was aber auch nur bedeuten kann: Ich stimme mit den Füßen ab und suche mir was anderes.Wenn Primärmacht individualisiert bleibt, ändert sich nichts?Ja, mein Eindruck ist: Den Organisationen ist es noch nicht gelungen, diese neue primäre Macht gewerkschaftlich zu nutzen. Wenn ich als junges Gewerkschaftsmitglied als Erstes den Hinweis auf eine kostengünstige Sterbeversicherung in die Hand gedrückt bekomme, na ja ... Das ist für junge Leute, die was machen wollen, nicht so attraktiv.Kann die neue Anspruchshaltung hier etwas ändern?Was wir sehen: Wo Kämpfe geführt werden, fällt es Gewerkschaften leichter, Mitglieder zu halten oder neu zu gewinnen. Die neun Wochen Pflegestreik der Verdi-Angestellten an den Kliniken in Nordrhein-Westfalen wären ohne diesen Anspruchswandel kaum vorstellbar gewesen! Da entwickelt sich gerade ein neues Selbstbewusstsein: „Wenn ihr nicht die Arbeitsbedingungen verbessert, wird das nix.“Nun befinden wir uns inmitten einer Inflation, Ökonom*innen warnen vor einem makroökonomischen Schock. Könnte dies die Verhältnisse wieder umkehren?Das ist eine Gemengelage, die ganz schwierig zu durchschauen ist. Bei den Jenaer Tafeln beobachten wir schon jetzt, dass auch Leute kommen, die Vollzeit arbeiten – was heißt, dass ihr verfügbares Einkommen jenseits der Fixkosten unter Hartz IV liegen muss. Die Jenaer Tafel ist nun gefährdet, weil sie noch nie so wenig Lebensmittel in so schlechter Qualität bekommen hat, aber immer mehr Andrang hat. Auch hier könnten Dinge in Bewegung kommen.Was könnte sich an den Tafeln denn bewegen?Hier kommen verschiedene Gruppen zusammen: Ganz unten sind die sogenannten Syrer, dazu zählen die Leute dort alle, die aus dem muslimischen Raum kommen. Darüber die „deutschen Rentner“. Und dazu kommen dann die Migranten aus der Ukraine, die von der Stadt sofort zu den Tafeln geschickt worden sind – obwohl die ja kein offizielles sozialpolitisches Instrument sind, das ist schon irre. Und dazu kommen jetzt die Lohnarbeiter*innen, die sich das alltägliche Leben nicht mehr leisten können. Die Tafeln werden von mehr Leuten in Anspruch genommen, die man eigentlich nicht zur „Unterklasse“ zählt – so bezeichne ich jene, die überhaupt keine Chance mehr haben, in reguläre Erwerbsarbeit reinzukommen. Sie machen in entwickelten kapitalistischen Staaten zwischen zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung aus.Die Überflüssigen der neoliberalen Ära.Genau, wobei der Begriff nur satirisch genutzt werden sollte: Es war ein zentrales Ergebnis unserer Hartz-IV-Studie, dass die Menschen, die nicht in reguläre Erwerbsarbeit kommen, eben nicht „überflüssig“ sind für diese Gesellschaft. Viele nehmen eine ganze Reihe von Tätigkeiten wahr, ehrenamtlich-bürgerschaftliches Engagement, von der Sterbehilfe bis zum Sportverein. Sie leisten wichtige Arbeit an der Gesellschaft.Diese „Unterklasse“ trifft jetzt auf die untere Mittelschicht?Viele Hartz-IV-Beziehende arbeiten selbst bei der Tafel, sie ist ihr Refugium, das sie verteidigen; wo sie Sozialbeziehungen haben. Jetzt treffen sie dort auf qualifizierte Arbeitskräfte aus Syrien, der Ukraine und Deutschland. Hier kann sich ein neues Anspruchsdenken entwickeln – jenseits des Geists der „Überflüssigen“.Placeholder infobox-1