Letzte Generation vs. Sturm auf das Kapitol: Dürfen die das eigentlich?
Protest Sind die Blockaden von Autobahnen kriminell oder sind sie demokratisch legitim? Und was ist mit dem Sturm auf das Kapitol? Über das schwierige Verhältnis von zivilem Ungehorsam und Demokratie in Zeiten des Umbruchs
Der Verkehr, der hier sonst durchdonnert, kostet andernorts Menschen das Leben – so sehen es die Aktivistinnen
Foto: Andreas Pein/LAIF
All unser Tun wird illegitim. Wir drehen die Heizung auf, und wir denken an Russland oder Fracking. Wir starten einen Motor, und wir denken an schmelzendes Eis am Nordpol. Wir trinken Evian, und wir denken an die Trinkwasserknappheit in Südfrankreich. Wir tun es trotzdem, und wir wissen: Es ist falsch. Streng genommen ist es sogar verfassungswidrig, denn das Bundesverfassungsgericht erhob den Klimaschutz zum Staatsziel. Durch den CO₂-Ausstoß unserer Alltagsnormalität aber werden die Klimaziele nicht eingehalten, in der Folge sterben global schon jetzt Zehntausende Menschen im Jahr.
Die Letzte Generation unterbricht mit ihren Blockaden diese verfassungswidrige Normalität, und sie beruft sich dabei auf das Gesetz: Im Notstand sei Widerstand legitim. Ist es das? Manch
das? Manche Richterinnen verurteilen die Aktivistinnen. Manche Richter sprechen sie frei. Wenn sogar Gerichte unsicher sind, was Recht ist und was Unrecht – ja, wer entscheidet das dann?Der Ungehorsam bei Corona„Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht, Gehorsam aber Verbrechen!“ Wer zivilen Ungehorsam übt, beruft sich seit Jahrzehnten schon auf diesen Satz (der Bertolt Brecht zugeschrieben wird, ursprünglich aber von Papst Leo XIII. aus dem 19. Jahrhundert stammt, aber darum soll es jetzt nicht gehen). Ziviler Ungehorsam, das bedeutet: bestimmten Gesetzen gegenüber ungehorsam sein, weil diese Gesetze gegen ein wichtigeres Recht verstoßen, zu dessen Verteidigung man sich moralisch verpflichtet fühlt. Natürlich darf man normalerweise nicht einfach eine zentrale Kreuzung blockieren und Hunderte Menschen im Berufsverkehr festhalten. Wenn dieser Autoverkehr aber schon Tausenden Menschen in Pakistan und Nigeria das Leben kostete, ist es dann nicht rechtens, ihn zu blockieren?Nachdem wir in Deutschland die Erfahrung gemacht haben, dass Unrecht staatlich legitimiert zu Recht werden kann, haben die Verfasser*innen des Grundgesetzes vorgesorgt. In Artikel 20 wird nicht nur die demokratische Ordnung der Bundesrepublik festgehalten, sondern auch dies hier: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“Pikanterweise wurde dieser Artikel jüngst am lautesten von Kritikern der Coronamaßnahmen hochgehalten. Die Ausgangsbeschränkungen und die Beschränkungen für Ungeimpfte und Ungenesene waren ihrer Meinung nach Unrecht, das der Staat per Verordnung zu Recht erhob. Wurde hier nicht die Würde des Menschen angegriffen? Das war eine Notlage, so lautete die Gegenargumentation. Inzwischen befassen sich Richter*innen damit: Während ein sächsisches Gericht die Kontaktbeschränkungen und die Schließung von Sportstätten und Gastronomie als verhältnismäßig einstufte, hatte ein bayerisches Gericht festgestellt, die Ausgangsbeschränkungen seien zu strikt gewesen. Nun muss das Bundesverwaltungsgericht Ende November entscheiden: Waren die Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten verhältnismäßig für den Schutz von Leib und Leben der Bürger*innen, oder nicht? Und wenn sie rechtswidrig waren – war dann nicht der Widerstand gegen sie legitim?Auch im Klimaschutz geht es vor Gericht um die Frage der Verhältnismäßigkeit. In Flensburg war vergangene Woche ein Aktivist vor Gericht, der im Winter 2020/2021 das Bahnhofswäldchen besetzt hatte, auf dem die Deutsche Hospitality (übrigens in chinesischem Besitz) ein Intercity-Hotel bauen will. Der Hausfriedensbruch sei zwar erwiesen, entschied die Richterin – doch aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2021 zum Klimaschutz als Staatsziel sehe sie den Stadtwald als von der Verfassung geschütztes Biotop an. Das Ziel des Aktivisten, den Wald zu schützen, wiege schwerer als das Interesse der Investoren. Genau auf solche Urteile hofft auch die Letzte Generation, wenn sie auf Paragraf 34 des Strafgesetzbuches verweist: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen (…) das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“Mal ist die staatliche Ordnung rechtens, mal nicht; mal ist Widerstand rechtens, mal nicht? Wer entscheidet, wann Unrecht zu Recht wird? Wer entscheidet, welches Mittel anmessen ist, „die Gefahr“ abzuwenden – und welche Gefahr gefährlich ist?Schauen wir in die USA: Hier geht ein Teil der Bevölkerung davon aus, dass es sich bei dem Wahlsieg Joe Bidens um Unrecht handelt – nämlich Wahlbetrug. Wenn ein Viertel der Bevölkerung – nach einer repräsentativen Umfrage sind es 26 Prozent – tatsächlich glaubt, dass ein Demokrat rechtswidrig die Macht im Kapitol an sich reißt – ja, sieht es aus Perspektive dieser Bürger*innen nicht legitim aus, das Kapitol zu stürmen?Es gibt relevante Unterschiede zwischen rechtbrechendem Klimaprotest und rechtbrechender Kapitolstürmung. Selbst die Letzte Generation bewegt sich innerhalb der parlamentarischen Demokratie und will mit ihren Aktionen Druck auf die Bundesregierung ausüben, ihren Job zu machen – sie stellt die Bundesregierung selbst keineswegs infrage. Und sie bedroht keine Menschenleben. Die Kapitolstürmer hingegen störten gezielt ein demokratisch gewähltes Gremium und bedrohten Menschen. Natürlich gibt es also Mittel, Unrecht von Recht zu unterscheiden. Die Gefährdung von Menschenleben ist ein Maßstab, und daher ist es auch zentral, über die Gefährdung von Autobahnblockaden für Menschenleben zu diskutieren. Die (journalistisch und polizeilich aufgearbeitete) Faktenlage ist ein weiterer Maßstab für Recht und Unrecht: Sie lässt keinen Zweifel daran, wer in den USA rechtmäßig gewählter Präsident ist. Ein weiterer Maßstab ist die Wissenschaft: Sie lässt keinen Zweifel daran, dass Maßnahmen die Pandemie verlangsamt haben. Und sie lässt keinen Zweifel daran, dass die Bundespolitik ihre Klimaschutzziele verfehlt, und leider auch daran, dass dies gravierende Folgen hat.Die Siegerin der GeschichteAm Ende entscheidet aber weder die Faktenlage noch die Wissenschaft, was in einer Gesellschaft als rechtens oder unrechtens gilt. Die Kapitolstürmer werden in den USA zwar zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Die Gerichte befinden: Das war Unrecht – auch deshalb, weil es keinen Wahlbetrug gab. Die US-Republikaner jedoch befinden anders. Sie bezeichneten noch im Februar 2022 den Kapitolsturm als „legitime politische Meinungsäußerung“.Es herrscht eine große Verwirrung über die Grundlagen unserer Gesellschaft. In der Klimakrise und Pandemie, aber auch in den großen Verschiebungen von Geschlecht und Familie sind wir uns nicht mehr einig darüber, was Recht und was Unrecht ist. Diese Verwirrung liegt daran, dass in den Umbrüchen unserer Zeit jedes Tun neu verhandelt wird: das Einkaufen, das Essen, das Wohnen, das Bewegen, das Zusammenleben, das Kinderkriegen, die Sexualität, die Sprache, das Arbeiten, das Begrüßen, das Flirten. Normalität wird neu verhandelt. Und diese Verhandlungen sind so gewaltig, dass sie die Basis demokratischer Entscheidungsprozesse berühren.Wenn wir uns nicht einmal darüber einig sind, Wissenschaft zur Grundlage unserer Abwägungen über politisches Handeln zu nehmen – wie sollen wir uns dann darauf einigen, welche Politik und welcher Protest verhältnismäßig sind? Das gilt auch für den Staat: Ist es verhältnismäßig, Klimaaktivist*innen für 30 Tage in Vorbeugehaft zu nehmen, wie derzeit in Bayern, wo 33 Menschen ohne Verurteilung einen Monat lang im Gefängnis festgehalten werden? 86 Prozent lehnen laut einer Spiegel-Umfrage die Protestformen der Letzten Generation ab. Aber ist es rechtens, wenn die deutsche Bevölkerung ganz demokratisch entscheidet, eine Normalität ungestört fortzuführen, die jährlich Zehntausenden Menschen das Leben kostet?Am Ende entscheiden nicht Umfragen, nicht Gerichte, ob eine Autobahnblockade, ob eine Revolution oder ein Putschversuch legitim waren – am Ende entscheidet das die Geschichte. Und die Geschichte wird immer von ihren Siegern erzählt. Wer wird Siegerin unserer Geschichte sein, und wie wird sie auf die Letzte Generation blicken? Oder auf den Kapitolsturm? Genau das wird derzeit ausgehandelt.
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