Mareice Kaiser: Mit Reichen reden. Und dann den Reichtum umverteilen
Gerechtigkeit Mareice Kaiser hat für ihr neues Buch armutsbetroffene und reiche Menschen porträtiert. Sie findet, dass sich Reiche viel zu selten für ihr Geld rechtfertigen müssen
Wie viel Geld haben Sie gerade auf dem Konto? Die Autorin Mareice Kaiser fragt stets direkt – und diesmal geht es in ihrem Buch um Geld. In Wie viel porträtiert sie von Armut betroffene und reiche Menschen, nie verurteilend, sondern immer fragend, wie es zu dieser Ungleichheit kommt. Nur einmal war sie schockiert: zu Hause bei einem Reichen.
der Freitag: Frau Kaiser, als Sie für Ihr Buch bei Sven in Brandenburg zu Besuch waren, gab es eine Fußbodenheizung. Die hat Sie schockiert. Warum?
Mareice Kaiser: Die Fußbodenheizung ist das Bild dafür, wie kalt Wärme sein kann. Einen Tag davor war ich bei Herrn H.
Einem Berliner Rentner, der Flaschen sammelt, um genug Geld zum Leben zu haben.
Ich hatte auch ihn zu Hause besucht, seine Wohnung dient ihm als Zwischenlage
Flaschen sammelt, um genug Geld zum Leben zu haben.Ich hatte auch ihn zu Hause besucht, seine Wohnung dient ihm als Zwischenlager für die Pfandflaschen und ist sehr vollgestellt. Neben seinem Bett liegt ein Fön, mit dem er sich abends das Bett warm fönt, weil die Heizung seit Monaten kaputt ist. Am nächsten Tag war ich bei Sven mit warmen Füßen von der Fußbodenheizung. Was für ein Gefühl, immer die Füße warm zu haben! Diese zwei Welten so kurz nacheinander, das war krass.Was für eine Ungleichheit.Wir wissen ja eigentlich um diese Unterschiede und Ungerechtigkeiten. Aber wenn du das so nah beieinander siehst und dann an deinem Körper auch wirklich fühlst, also an dem einen Tag diese kalte, stickige Wohnung und am nächsten Tag dieses weiße, helle, große Haus, und alles ist warm. Da war ein Kloß in meinem Hals. Ja.Über Sven schreiben Sie, dass er in der Agentur, in der Sie als Redakteurin gearbeitet haben, immer der „Mann für alles“ war, er war DJ, wurde immer erfolgreicher, besitzt jetzt mehrere Mehrfamilienhäuser. Christian Lindner würde vermutlich sagen: Der hat sich sein Geld verdient.Viele lesen bei Sven die Erfolgsgeschichte des Aufstiegs, vom Tellerwäscher zum Millionär. Aber sie vergessen, dass auch Glück eine große Rolle spielt: Die richtigen Leute zu kennen, zu den richtigen Momenten am richtigen Ort zu sein – und gesund zu sein! Da hat der eine Glück, und die andere hat es nicht. Glück ist das Gegenteil von Gerechtigkeit. Und mit Leistung lässt sich das auch nicht erklären, sonst hätten auch andere Menschen Millionen.Da fällt mir Sara ein, die Haushaltshilfe, die Sie porträtieren.Sara arbeitet von morgens bis abends, seit Jahrzehnten, sie putzt, mit vollem Körpereinsatz. Wenn Leistungsgerechtigkeit für alle funktionieren würde, wäre Sara wohl Millionärin.Dieses Ungerechtigkeitsgefühl – wieso wird das so selten thematisiert? Weil die meisten Fußbodenheizenden keinen Kontakt zu Menschen wie Herrn H. haben?Wir haben ja eigentlich alle diesen Kontakt, sobald wir auf die Straße gehen. Die meisten Menschen versuchen aber, das auszublenden. Nehmen wir den Berliner Ku’damm, da laufen jeden Tag sehr viele sehr reiche Menschen an Menschen vorbei, die von Armut betroffen sind.Aber ist das Kontakt? Ich meinte eher: eine Person kennenlernen, die mit wenig Geld auskommen muss. Sich in sie hineindenken, die Welt aus ihren Augen sehen.Es gibt eine Studie, die zeigt, wie der Platz um Menschen herum größer wird, je mehr Geld sie haben: Wer reich ist, lebt mit großer räumlicher Distanz zu anderen. Das erlaubt, wegzugucken. Sich eben nicht reinzudenken.Distanz im wahrsten Sinne des Wortes.Genau, und es hat natürlich einen Grund, warum reichere Menschen Distanz wahren wollen zu Menschen, die am Existenzminimum leben: Weil Kontakt mit Solidarität einhergehen müsste. Würde ich mich in das Leben einer von Armut Betroffenen eindenken, müsste ich darüber nachdenken, wie gerecht das eigentlich ist, dass ich mehr Geld habe. Entweder rechtfertigen wir diesen Unterschied mit Leistungsgerechtigkeit – was sich nicht lange einhalten lässt, wenn man Menschen wie die Haushaltshilfe Sara anschaut –, oder wir kommen darauf, dass wir eigentlich etwas abgeben müssen von unserem Reichtum.Der Kontakt wird insgesamt eher mehr als weniger, oder? Immerhin werden Erzählungen über Klassenungleichheit gerade viel gelesen, von Christian Baron, Didier Eribon, Édouard Louis ...Haha, das klingt gerade nach einer sehr männlichen Erzählung von Armut.Oh je, wie peinlich, ich hätte natürlich als Erstes nennen sollen: Annie Ernaux! Die Literaturnobelpreisträgerin schreibt immerhin schon seit Jahrzehnten über die Armutsbetroffenheit ihrer Familie. Oder Marlen Hobrack, Anke Stelling. Und nun tun Sie es.Ja, ich sehe das auch so: Die Mittelschicht befasst sich derzeit etwas mehr mit Armutsbetroffenheit. Vielleicht, weil sie sich selbst mehr von Armut bedroht fühlt? Aber wer nicht darüber spricht, ist noch immer die Oberschicht. Und die ist es ja, die etwas abgeben müsste.Das war für mich der eigentliche Tabubruch in Ihrem Buch: dass Sie nicht nur über den Alltag mit Armut schreiben, sondern auch über den Alltag mit Reichtum! Das war für mich neu: zu lesen, wie ein reicher Mensch lebt, nicht aus Boulevard-Perspektive, sondern aus Gerechtigkeitsperspektive: Ist so viel Reichtum gerecht?Ich bin echt froh, dass ich als Beispiel für Reichtum Sven hatte, den ich als Kollegen kennenlernte, und mit dem ich daher offen über sein Geld sprechen konnte, ohne dass meine Fragen als Angriff wahrgenommen wurden. Mein Herz hängt wirklich an allen Protagonist*innen. Aber ich finde es spannend, dass viele Menschen auf Sven so stark reagieren. Ich wurde oft auf ihn angesprochen – übrigens auch von Männern, die sagten, dass Svens Lebensrealität ihrer eigenen am nächsten komme! Sie konnten sich identifizieren.Buchmessen-Publikum?Ja, genau. Aber wenn es um Umverteilung geht, dann müssen wir aufhören, nur über Armut zu sprechen – dann müssen wir auch über Reichtum sprechen und überlegen: Wie können wir umverteilen? In Polittalkshows werden – wenn überhaupt – nur Armutsbetroffene oder Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, zu ihrem Einkommen befragt. Warum nicht mal die ganze politische und wissenschaftliche Runde, die dort sitzt? Sven hat mir davon erzählt, dass er Geld in Projekte stecken möchte, die Armut bekämpfen sollen – im Ausland. Und ich fragte ihn: Wieso denn im Ausland? Stimmt, sagte er, mit Armut in Deutschland hat er sich weniger beschäftigt.Da haben wir wieder die Distanz.Deshalb ist es so wichtig, dass Armutsbetroffene sichtbarer werden, in Talkshows, in Büchern: Damit sie nicht so leicht ausgeblendet werden können. Und auch für Armutsbetroffene selbst: Wenn du denkst, du bist mit deiner Armut alleine, fühlst du dich klein und schämst dich womöglich dafür, dann hast du auch das Gefühl, deine Stimme ist nichts wert. Und wenn du aber diese Struktur dahinter verstehst und erkennst, dass du eben nicht allein schuld daran bist, dass du Geldsorgen hast, dann stärkt das. Das ist auch die Rückmeldung, die ich auf mein Buch bekomme: Von Armut betroffene Menschen fühlen sich weniger allein.Wie aber kommen wir von dort zur Umverteilung? Die Geschichten über Armut machen betroffen, aber auch ohnmächtig. Erst wenn wir sehen, wo der Reichtum liegt, entsteht eine Handlungsperspektive.Deshalb brauchen wir beides: Geschichten von Armut – und Geschichten von Reichtum! Denn natürlich sitzen reiche Leute in Talkshows, ständig, sie sprechen über alles Mögliche – nur nicht über ihr Geld. Von Armut Betroffene werden eingeladen, um über Armut zu sprechen. Reiche werden eingeladen, um über die große Politik zu sprechen. Nicht über Reichtum.Das erinnert mich an die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern: Frauen sprechen als Frauen, Männer sprechen als universelle Stimme ohne Geschlecht. Arme sprechen als Arme – und Reiche sind die universelle Stimme ohne Herkunft und Milieu?Interessant, weil die Lösung ja dann auf der Hand liegt: Wenn wir Gleichberechtigung der Geschlechter wollen, geht das nur mit den Männern. Und Umverteilung geht nur mit den Reichen, von denen Geld umverteilt wird. Eigentlich bräuchten wir so eine Talkshow – ich würde sie auch moderieren! –, zu der wir Millionär*innen einladen und sie fragen, womit sie rechtfertigen, so viel Geld haben!Ich glaube, Sie mit Ihrer netten Art könnten das. Sie schreiben ganz ruhig über Ungleichheit. Sind Sie eigentlich nie wütend?Schöne Frage. Stimmt, für mich selbst bin ich selten wütend.Warum nicht für sich selbst? Sie beschreiben auch, wie Sie nachts in Ihr Kissen weinten, als Ihnen klar wurde, dass Sie nicht studieren können, weil Sie Geld verdienen müssen.Hätte ich das Buch vor zehn Jahren geschrieben, wäre ich vielleicht wütender gewesen, aber jetzt bin ich glücklich dort, wo ich bin. Es gab und gibt viele Hochs und Tiefs – aber gerade mache ich, was ich immer machen wollte. Dass das nicht selbstverständlich ist für ein Arbeiterkind ohne Studium, das macht mich zwischendurch schon auch noch wütend. Vor allem bin ich aber wütend für und mit anderen. Für António zum Beispiel, der mit dem Fahrrad durch die Stadt rast, um Essen auszuliefern, an Menschen, die ihn kaum ansehen. Für Sara, die einen kranken Körper von ihrer harten Arbeit hat. Aber Wut beinhaltet auch, dass es eine Möglichkeit zur Veränderung geben muss, sonst müsste man sich ja gar nicht aufregen.Na ja, es gibt auch blinde Wut! Und: Hass.Ich wurde gefragt, ob ich reiche Menschen hassen würde. Was für ein Quatsch. Ich hasse keinen einzelnen reichen Menschen. Aber ich hasse Ungerechtigkeit und Ungleichheit.
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