Ohne Vertrauen klappt es nicht

Corona Vor allem Ärmere sind noch nicht geimpft. Sind sie daran selbst schuld?
Ausgabe 30/2021
Das RKI hält die Gesundheitsdienste dazu an, die soziale Frage mitzudenken
Das RKI hält die Gesundheitsdienste dazu an, die soziale Frage mitzudenken

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Wer eine Gesellschaft verstehen will, tut gut daran zu verstehen, was genau in ihr ungleich verteilt ist. Nehmen wir den Ausbruch von Corona: Vor dem Virus sind alle gleich, hieß es zunächst. Ein Missverständnis. Aufdecken konnten wir es erst, als wir verstanden: Die Möglichkeit, körperliche Nähe zu reduzieren, ist ungleich verteilt. Nun heißt es: Alle können sich impfen lassen, und wer dies nicht tut, ist selbst schuld. Das heißt auch: Eine Impfpflicht trifft alle gleich. Hm.

Erste Studien aus Großbritannien und den USA zeigten, dass die Impfdosen bislang nicht gleich verteilt sind in der Gesellschaft: Sozial benachteiligte, zumeist schwarze Milieus sind weniger durchgeimpft als die weiße Mittelschicht. Auch hierzulande zeigen Studien des Robert-Koch-Instituts und der Universität Mainz: Leute mit Migrationshintergrund und ärmere Menschen sind weniger geimpft als die Mittel- und Oberschicht. Das ist nichts Neues. Schon lange hält das RKI die Gesundheitsdienste dazu an, die soziale Frage mitzudenken. Impfbusse wurden dorthin losgeschickt, wo Menschen mit wenig Einkommen eng zusammenwohnen. Und die Zahlen zeigen: Ja, dadurch steigt die Impfquote.

Doch gleichzeitig wehren sich in Frankreich Bürgerinnen auf der Straße gegen den Impfdruck. Und die Corona-Studie der Universität Mainz zeigt noch eine andere Ungleichheit: Mit dem sozialen Status sinkt auch die Impfbereitschaft. Mehr als 90 Prozent der Höhergestellten wollen sich impfen lassen. Bei den Niedriggestellten sind es weniger als 80 Prozent. Diese 80 Prozent sind in der Praxis noch lange nicht erreicht. Ärzte berichten: Zur Impfung kam bislang überwiegend die Mittelschicht. Derweil nahm etwa die Gastarbeitergeneration schon zur Zeit der Priorisierung das Impfangebot nur selten an. Viele, die einst aus Polen oder Russland nach Deutschland migrierten, so heißt es, seien kaum von einer Impfung zu überzeugen: Sie wollten in Ruhe gelassen werden, vertrauten dem Impfstoff nicht.

Was ist hier also ungleich verteilt? Es geht wohl um ein Gut, das wichtiger kaum sein könnte für ein funktionierendes Gesundheitssystem: Vertrauen. Ohne Vertrauen kommen die Menschen sehr spät zum Arzt, oft zu spät für die Prophylaxe, oft zu spät für eine heilende Behandlung. Zehn Jahre Unterschied messen Gesundheitsforscher in der Lebenserwartung zwischen Armen und Reichen. Das liegt auch an Unterschieden in der Belastung durch die Arbeit, an zu wenig Schlaf, zu viel Stress, ungesunder Ernährung, aber: Es liegt auch an der Distanz zwischen Ärztin und Patient.

Die Gesundheit muss zu den Menschen, das weiß man in der Forschung längst: Mehrsprachigkeit, soziale Nähe und Vernetzung mit der Community sind die Empfehlungen. In der Praxis wurden sie nur selten umgesetzt. Dann kam die Pandemie.

„Was kann man tun? Mit den Nachbarn sprechen?“, fragte neulich jemand. Das Malheur ist: Wer zehn Jahre lang nicht mit seinen Nachbarinnen sprach, wird jetzt nicht plötzlich jenes Vertrauen gewinnen, das nötig wäre, um intensiv über Vorteile und Risiken eines Stoffs zu diskutieren, der über eine lange Nadel in den Organismus gejagt wird.

Die Mittelschicht spricht seit Jahren: mit der Mittelschicht. Die Ärmeren sprechen seit Jahren: mit den Ärmeren. Man vertraut sich untereinander. Man misstraut den anderen. Aus Sicht der Ärmeren sind die anderen nun die mit der Spritze. Aus Sicht derer mit Spritze sind die Ärmeren nun selbst schuld.

Nein, eine Impfpflicht träfe in dieser Gesellschaft nicht alle gleich.

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