„Porno hilft gegen Angst“

Interview Der Soziologe Kurt Starke über den Sexfilm-Boom im Lockdown, den Reiz von Tabus und die Prüderie des Westens
Ausgabe 31/2020

Regelmäßig veröffentlicht der Online-Sexfilmdienst Pornhub seine Statistiken – und die verraten viel über die Gesellschaft: dass Menschen scharenweise Sex anschauen, wenn ein Virus ausbricht. Oder: dass in allen ostdeutschen Bundesländern weniger Porno geschaut wird als im Westen. Woran liegt das? Der Soziologe Kurt Starke untersucht seit Jahrzehnten die Soziologie des Sex – mit einem nüchternen Blick, wie ihn wohl nur ein Nicht-Porno-Sozialisierter haben kann. Also: ein Ostdeutscher.

der Freitag: Herr Starke, wieso treibt ein Virus die Menschen zum Pornoschauen?

Kurt Starke: Es gibt dazu noch keine Untersuchungen, aber wenn ich spekulieren muss, würde ich sagen: Es ging um Angst. Corona macht Angst. Jedem. Und die ist eingebettet in eine Fülle von anderen Ängsten: um die eigene Zukunft, ob man eine Lehrstelle bekommt. Existenzängste, die sich durch Corona noch verstärken.

Und Pornos helfen gegen Angst?

Es ist eine Erfahrung, dass das traute Beisammensein – einschließlich sexueller Kontakte und sexueller Erregung – kurzfristig diese Ängste bewältigen kann. Das sollte man nicht unterschätzen!

Frauen haben auch Angst. Warum schauen sie viel seltener Pornos?

Angstbewältigung ist bei Frauen und Männern unterschiedlich. Männer neigen eher dazu, Unsicherheit in Aggressivität zu transformieren, die sie gegen andere richten. Sie prügeln sich, machen Lärm, nehmen Raum, werden übergriffig. Frauen richten die Aggression oft gegen sich selbst: indem sie anfangen zu hungern oder sich ritzen. Sexualität kann bei beiden eine Rolle spielen – Pornos werden jedoch traditionell von Männern für Männer gemacht.

Die Zugriffszahlen nehmen nach männlichen Großevents oft zu, nach WM-Fußballspielen etwa. Geht es darum, die Einsamkeit nach dem Gemeinschaftserlebnis abzufedern?

Oder das Hochgefühl, die emotionale Gesamterregung mit einem sexuellen Finale zu krönen. Pornokonsum kann eine Ersatzhandlung dafür sein, sich zu Menschen zu gesellen. Aber Sie vergessen ein wichtigeres Motiv: Unterhaltung! Pornos haben, auch im Lockdown, eine ähnliche Funktion wie das Internet, das Fernsehen. Wenn Sie einen guten Film sehen, werden Sie ja auch mitgenommen. Die Funktion von Kunst ist, Menschen in bestimmte emotionale Zustände zu heben und sie dadurch zu erregen oder zu beruhigen. Zu unterhalten.

Wie unterhaltsam ist ein Porno?

Eigentlich nicht besonders. Ein einfacher Koitus ist ja zum Sterben langweilig! Vor allem, wenn man ihn nicht selbst macht. Porno ist die andauernde Wiederholung des Blicks in die Körperöffnungen von Menschen, vor allem von Frauen.

Langweilig.

Ja, zumal die sexuelle Befriedigung durch Masturbation ja ein Geschehen ist, das bei den meisten Menschen nicht unendlich wiederholt werden kann. Dann greifen andere Motive: Neugier etwa.

Auf Sexpraktiken, die man sich selbst nicht zu machen traut?

Einfach mal sehen, was es gibt! Warum nicht einen Rundgang durch das größte Sexwarenhaus der Welt machen, wenn man gerade viel Zeit hat? Das ist beim Porno natürlich sehr widersprüchlich, weil dieses Beisammensein keineswegs immer auf Augenhöhe stattfindet, gar ins Missbräuchliche übergeht. Gerade Ostdeutsche haben damit ihre Probleme.

Zur Person

Foto: Imago Images

Kurt Starke ist Soziologe und Sexualforscher. Bis 1990 war er Forschungsleiter am Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig, 1981 erhielt er eine Professur und arbeitet seit Mitte der 1990er frei. Seine Untersuchung Pornografie und Jugend. Jugend und Pornografie erschien 2010

Gerade Ostdeutsche?

Viele Verhaltensweisen gegenüber Frauen in Pornos stoßen Ostdeutsche ab, weil sie eine ganz andere Form der Gleichberechtigung der Geschlechter erlebt haben. Die finden sie in Pornos sehr selten. Im Großen und Ganzen geht es da wüst gegen die Frauen. Und feministische Pornos setzen sich erst langsam durch, bislang noch für ein sehr spezielles Publikum.

Die Statistiken von Pornhub zeigen tatsächlich ein West-Ost-Gefälle: Im Osten werden Pornos weniger lang und weniger häufig geklickt als im Westen.

Diese Beobachtung entspricht meinen Untersuchungen: Der Pornokonsum ist im Osten geringer. Und: Die Ostdeutschen sind in Bezug auf Pornos wählerischer.

Ja, die Zahlen zeigen auch: In kürzerer Zeit klicken Ostdeutsche auf mehr Filme als Westdeutsche.

Sie sehen da ein heftiges Suchen nach einem Film, der den ästhetischen Ansprüchen genügt. Ostdeutsche sind weniger zufrieden mit ihrem Pornokonsum.

Frustriert auf viele Filme klicken, abgeschreckt sein vom Frauenbild: Ihre Beschreibung von ostdeutschem Pornoverhalten erinnert mich an weibliches Pornoverhalten. Gibt es da Ähnlichkeit?

Interessante Idee. Wie aber definieren sie, was „weiblich“ ist?

Ich meinte das rein soziologisch: Statistiken zeigen, dass Frauen auf diese Art Pornos gucken.

Wie alt sind Sie?

Mitte 30.

West oder Ost?

West.

Männer in Ihrem Alter und älter sind im Osten ganz anders sozialisiert, als Sie das kennen. Da es in der DDR so gut wie keine Pornos gab, sind die meisten nicht Porno-sozialisiert. Als sie mit der Wende dann Pornos kennenlernten, waren sie von den Angeboten ziemlich enttäuscht.

Was hatten sie denn erwartet?

Sie hatten gedacht, sie betreten eine große, schöne, erotische Welt, und dann gehen sie in einen Pornoschuppen: so ein Mist! Der ästhetische Anspruch war höher, die Hoffnung, dass sie ein kulturelles Angebot von Sexualität vorfinden.

Gab es das in der DDR überhaupt nicht? Pornobildchen etwa?

Doch, klar, aber in sehr geringem Maß. Es war eine Nebensache, kein wesentlicher Bestandteil der eigenen Lebensweise: Sex als Ware zu betrachten. Das haben Ostdeutsche nicht gelernt, sie betrachteten Sex als etwas, das man am besten gemeinsam tut – und in einer Liebesbeziehung.

Inzwischen sind doch viele junge ostdeutsche Männer im Westen sozialisiert.

Die Tradition, Sex als etwas Schönes zu betrachten – nicht als etwas grundsätzlich zum Bösen Verleitendes –, die hält sich. Im Osten wurde von Sexualität zwar nicht alles Heil, aber vor allem auch nicht alles Unheil erwartet. Immer in der Tendenz gedacht. Das gilt nicht für jeden Ostdeutschen!

Ist Porno auch schlicht weniger spannend, wenn Nacktheit weniger tabuisiert wird?

Nacktheit im Film – und auch im realen Leben – ist zunächst nicht erotisierend, das gilt auch für sexuelle Primärprozesse. Erst durch das Tabu, durch den Kontext, gewinnen sie an Attraktivität. Das Schrankenlose ist dann das Erregende. Über Pornos darf man nicht reden. Auch: über Masturbation! Immer noch ein Tabu.

Hat man sich im Osten weniger geschämt für Masturbation?

Untersuchungen haben gezeigt, dass vor allem Frauen im Osten weniger masturbierten als im Westen – die meisten Frauen bekamen ihren ersten Orgasmus mit dem Partner! Das liegt auch daran, dass sie sehr früh feste Partner und keine verklemmte Scheu voreinander hatten, weil offen über jugendlichen Sex gesprochen wurde.

Für westdeutsche Jugendliche ist die eigene Sexualität oft schambehaftet ...

Das hat mich nach 1990 schockiert: der Befund, dass für westdeutsche junge Männer Sexualität mit Versagensangst, Prestige-Ängsten, Leistungsängsten verbunden war. Das führte dazu, dass Männer dort mit Sexualität viel später begannen als im Osten. Zehn Prozent der 28-Jährigen hatten in den 1990ern noch nie Sex mit einer anderen Person! Der heiterere Umgang mit der Sexualität im Osten, auch die familiäre Zugänglichkeit der Aufklärungsliteratur – das alles führte dazu, dass es wenig Angst vor Sexualität gab.

Sexualität wurde nicht als gefährlich wahrgenommen?

Sie wurde nicht als von sich aus böse wahrgenommen. Heute stehen die „dunklen Seiten“ der Sexualität stark im Vordergrund – das ist beunruhigend für junge Leute! Es gibt aber keine dunkle Seite von Sexualität.

Ist das so? Was ist mit sexuellem Missbrauch?

Es gibt dunkle Situationen, in denen Menschen schlimme Dinge anstellen, auch in der Sexualität.

Und das kann man sich haufenweise im Internet anschauen.

Richtig, und das ist sehr schwierig für Jugendliche. Stellen Sie sich vor, wie die ersten zarten Gefühle im Jugendalter entstehen, und dann werden Sie mit so einem krassen Porno konfrontiert. Das ist ein heftiger Widerspruch, mit dem fertigzuwerden Jugendliche erst mal lernen müssen.

Wie?

Es verlangt eine kulturelle Gesamtentwicklung. Für eine souveräne Haltung zu Pornos ist ein starkes sexuelles Selbstbewusstsein nötig. Dazu eine achtungsvolle und, ja, zärtliche Einstellung zu dem Menschen, bei dem man an Sex denkt oder mit dem man Sex hat.

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