Von einer „Schießerei“ sprach der Deutschlandfunk am Morgen des 20. Februar in einer seiner ersten Meldungen zu Hanau. Von einem „fremdenfeindlichen Motiv“ sprach kurze Zeit später die Bundesstaatsanwaltschaft, und mit ihr auch die Tagesschau. Und schon geht die Debatte im Netz los, jeder Begriff wird seziert, jede Reaktion von allen Seiten in ihre ideologischen Einzelteile zerschnitten: Wer „fremdenfeindlich“ sagt, macht Shishabar-Besucher, mehrheitlich mit Migrationshintergrund, zu Fremden. Wer von einer Schießerei oder einem Amoklauf spricht, verschleiert die politische, also: rassistische Dimension der Tat. Der passende Begriff ist womöglich Rechtsterrorismus, aber ist er das, wenn es sich um einen Einzeltäter handeln sollte?
Hier soll gar nicht darauf hingewiesen werden, dass man am Morgen nach der nächtlichen Tat eigentlich viel zu wenig weiß, um die korrekte Einordnung liefern zu können. Das ist so. Aber gleichzeitig gehen nun einmal die Tweets und Videos aus Hanau über Twitter, und mit der Information über die Tat wächst der Drang nach Einordnung. Die Journalistinnen sind da in keiner angenehmen Lage, aber so ist nun einmal ihr Job im digitalen Zeitalter. Der Einordnung der Tat tut dieser zeitliche Druck sicher nicht gut, das Problem ist aber ein anderes, und es verschwindet nicht mit zunehmendem Wissen über die Tatumstände. Das Problem ist: Die Wahrnehmung von Rechtsterrorismus unterscheidet sich in der Gesellschaft stark.
Nicht alle identifizieren sich gleichermaßen mit den Opfern des mutmaßlich rassistischen Täters. Nicht alle haben nun Angst, auf die Straße zu gehen. Nicht alle haben jetzt gleichermaßen Angst, ihr Gotteshaus zu betreten, oder ihre Kneipe. Der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil wertet die Tat als „Angriff auf uns alle, auf die Freiheit in unserem Land“. Natürlich hat er Recht. Natürlich ist das ein Angriff auf uns alle, weil es ein Angriff auf die (Einwanderungs-)Gesellschaft ist, auf das Zusammenleben, auf die Demokratie; wer einen Menschen tötet, tötet die gesamte Menschheit, heißt es im Koran (Sure 5, Vers 32).
Rechte Gewalt bedroht nicht alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen
Und gleichzeitig bedroht rechte Gewalt nicht alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen. Sie bedroht Menschen mit schwarzer Haut mehr als Menschen mit weißer, muslimische und jüdische Gläubige mehr als christliche Gläubige, homosexuelle Menschen mehr als heterosexuelle, Frauen mehr als Männer. Der Täter soll in seinem Bekennerschreiben behauptet haben, dass„bestimmte Völker vernichtet werden müssten, deren Ausweisung aus Deutschland nicht mehr zu schaffen sei“. Die Zielscheibe, die er „bestimmt“, sind keine weißen Deutschen ohne Migrationshintergrund. Diese müssen sich nun nicht in Gefahr fühlen. Und dies spürt man leider auch in der Debatte der ersten Stunden nach einem der größten rechtsterroristischen Anschläge in der Geschichte der Bundesrepublik.
Schon entbrennt im Netz die nächste Diskussion über die Hintergründe des Täters: Während die einen sich fragen, ob es sich um einen sozial isolierten, im Leben nicht mitgekommenen, womöglich psychisch kranken Mann handelt, regen sich die anderen darüber auf, dass jene, die das fragen, sich mehr mit dem weißen, rassistischen Mörder identifizieren als mit ihren muslimischen Mitbürgerinnen, die nun Angst haben müssen, eine Shisha-Bar oder Moschee zu betreten. Während die einen darauf verweisen, dass „fremdenfeindlich“ nicht das richtige Wort ist, da es Menschen als fremd setzt, die teils schon seit Jahrzehnten fester Bestandteil dieser Gesellschaft sind, verweisen andere auf die Perspektive weißer Deutscher ohne Migrationshintergrund, die in ihrem Leben noch keinen drei Menschen mit Migrationshintergrund begegnet sind, geschweige denn mehr als eine Stunde am Stück mit solch einem Menschen gesprochen haben.
Die Debatte auf Twitter zeigt, wie fragmentiert die Gesellschaft ist. Nehmen wir die Redaktion dieser Zeitung hier: Zwar sitzen hier in morgendlichen Diskussionsrunden durchaus Menschen mit Migrationshintergrund mit am Tisch, aber niemand mit einem Migrationshintergrund, der sie in die Gefahr bringt, von rassistischen Tätern als Zielscheibe gesehen zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass an diesem Redaktionstisch eher über die Beweggründe des Täters diskutiert wird als über die Frage, ob man sich weiter in die Moschee trauen kann, ist in so einer sozialen Konstellation – nun ja: hoch.
„Jetzt ist Zeit für Schweigeminuten“
Auf Twitter aber hat sich die Zusammensetzung in den vergangenen Jahren geändert. Am Twitter-Redaktionstisch twittern heute auch Kübra Gümusay, Sawsan Chebli, Sibel Schick, Lady Bitch Ray, Cansu Özdemir und Karamba Diaby – deutsche Journalistinnen, Autorinnen und Politikerinnen, die in ihrem Alltag Rassismus erfahren und davon erzählen. Und sie rücken seit Jahren die Perspektive gerade: Sie verschieben den öffentlichen Diskurs, indem sie dazu zwingen, eine andere Perspektive als die weiße wahrzunehmen. Sie zeigen, dass weiße Perspektive nicht mehr ist als eine Partikularperspektive, eine unter vielen, nicht objektiv, und vor allem: begrenzt.
„Jetzt ist Zeit für Schweigeminuten – in Schulen, Parlamenten, überall. Zeit für das Fühlen des tiefen Schmerzes. Zeit für Anteilnahme. Zeit für Solidarität. Zeit für Trauer. Zeit zum Innehalten. Um dann alles dafür zu tun, damit sich so etwas nicht wiederholt. #hanau“, das twittert die Autorin Kübra Gümuşay. Für echte Anteilnahme ist Kontakt wichtig. Kontakt, um nachzuvollziehen, wie sich diese Gesellschaft eigentlich gerade anfühlt für jene, die von der AfD und rechten Mördern aus ihr herausgezerrt und zur Zielscheibe gemacht werden.
Jene, die versuchen, die Beweggründe des Täters zu verstehen, argumentieren damit, dass dies wichtig ist für die Prävention. Für die Prävention ist jedoch – auch? – eine Gegenbewegung zur Fragmentierung der Gesellschaft notwendig: Wenn es der Rechten gelingt, eine gesellschaftliche Gruppe als „fremd“ aus der Gesellschaft herauszuschälen, droht diese zur Zielscheibe zu werden, für faschistische Terroristen ebenso wie für andere Amokläufer. Im Umgang mit rechter Radikalisierung wurde zuletzt gerne versucht, dann eben „die Ostdeutschen“ als „fremd“ aus der Gesellschaft herauszuschälen – und für den Rechtsruck verantwortlich zu machen.
Was Gesellschaft zur Prävention rechten Terrors also leisten muss, ist, zusammenzuwachsen, und zwar nicht nur an Tagen wie heute, sondern im Alltag, so lange, bis sich jeder tatsächlich mitgemeint fühlt bei einem Anschlag wie in Hanau. Dieselbe Angst fühlt wie eine Muslima, die nach dem 19. Februar in Deutschland eine Moschee betritt. Höchste Zeit für Anteilnahme und Solidarität.
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