Dass die Zusammenarbeit von gesetzgebender Gewalt und Judikative nicht immer so reibungslos funktioniert, ist nichts Neues. Richtersprüche werden in der Politik immer mal wieder diskutiert und kritisiert, auch von links, und das ist manchmal gut so: Auf diese Weise kommt es zu einem öffentlichen Bewusstsein dafür, dass Recht geändert werden muss. Wie zum Beispiel im Fall der Ehe für alle oder, hier wird es schon schwierig, bei der Verschärfung des Sexualstrafrechts. Dass aber rechte Politiker das Urteil eines deutschen Gerichts so vehement in Frage stellen wie nun in Nordrhein-Westfalen im Rahmen der Abschiebung von Sami A., das ist tatsächlich selten. Und die Art, wie diese Debatte abläuft, verheißt nichts Gutes – denn auch hier gilt: Recht ist nicht in Stein gemeißelt.
Natürlich nerven rechtliche Grenzen gerade jene Regierungen besonders, die eine law-and-order-Politik durchsetzen wollen. Denn eine solche Politik zeichnet sich durch Rechtsverschärfungen bis an die Grenzen des Rechtsstaates aus. Das kann man jetzt auch in Deutschland beobachten. Alles soll anders werden in Sachen Flüchtlingspolitik, damit ist Bundesheimatminister Horst Seehofer angetreten. Und nun müssen Tatsachen folgen. Wie könnte er es also auf sich sitzen lassen, dass ein „ausreisepflichtiger“ mutmaßlicher Terrorist elf Jahre lang auf deutschem Boden sitzt – obwohl die Union schon seit 2016 die Ermöglichung von Abschiebungen nach Tunesien in Aussicht stellt? Das Land gilt nur deshalb nicht als sicherer Herkunftsstaat, weil die Grünen dem im Bundesrat nicht zustimmen. Man kann sich vorstellen, wie das nervt: Nicht einmal Bin Ladens Leibwächter bekommt ihr aus dem Land raus, dröhnt es an den blauen Stammtischen.
Der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) tat deshalb vermutlich das, was Politiker in solchen Fällen meistens tun: sie versuchen, sich das Recht ein klein wenig zurecht zu biegen. Ihm wird vorgeworfen, dass er das zuständige Gericht in Gelsenkirchen zwar darüber informierte, dass die für den 12. Juli geplante Abschiebeflug storniert wurde. Dass er stattdessen am 13. Juli stattfinden sollte, diese Information kam beim Gericht nicht an. So hoffte man womöglich, Sami A. schnell abschieben zu können, bevor die Abschiebung verboten wird. „Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet“ – so zumindest legt dieses Vorgehen die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts, Ricarda Brandts, aus.
Das alles befindet sich also irgendwo im Graubereich: Wurde hier offen gegen Recht verstoßen oder hat Integrationsminister Joachim Stamp nur ein bisschen gebeugt und umschlängelt? Erschreckend ist nun aber die Richtung, die die Debatte in Nordrhein-Westfalen nach diesen Vorkommnissen nimmt: „Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen“, sagte NRW-Innenminister Reul der Rheinischen Post.
Der Innenminister (!) legt den Richtern also nahe, bestehendes Recht gegen das „Rechtsempfindens der Bevölkerung“ abzuwägen. Das ist zwar kein direkter Aufruf zur Rechtsbeugung, aber doch nicht weit davon entfernt. Das Problem ist, dass Reul das Urteil des Gerichts nicht als Rechtsspruch einordnet, sondern als Meinung – was übrigens auch CDU-Hardliner Armin Schuster Mitte Juli tat. Im Interview mit dem Deutschlandfunk fragte dieser, was nun gelte: die „Meinung“ eines Richters oder die „Meinung“ des Bamf. Ein Rechtsspruch ist jedoch keine Meinung unter anderen. Reul meint nun offenbar in ähnlicher Argumentation, das Gericht solle kein Recht sprechen, sondern Rechtsempfinden. Plädiert er also dafür, dass ein Richter Meinung sprechen sollte?
Und was ist das für eine Meinung? Das „Rechtsempfinden“ definiert er nicht näher, es scheint aber eine wabernde Vorstellung davon zu geben, dass „die Bevölkerung“ es als rechtens empfindet, dass erstens in Deutschland bestehende Gesetze nicht für mutmaßliche Terroristen gelten müssen und es zweitens schon irgendwie in Ordnung ist, wenn mutmaßliche Terroristen im schlimmsten Fall auch mal gefoltert werden. Solch ein Rechtsempfinden hätte absolut nichts mit dem geltenden Recht zu tun, sondern widerspräche diesem explizit.
Das Verhalten des Integrationsministers ist daher die eine Sache, die hoffentlich Aufklärung erfahren wird. Die Kopplung eines Richterspruchs an die Meinung der Bevölkerung stellt einen ganz anderen Tabubruch dar, der Angst macht. Denn natürlich hat Reuls Aussage auch eine gewisse Berechtigung: Wenn ein Großteil der Bevölkerung die Durchsetzung einer law-and-order-Politik gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe so wichtig ist, dass sie die rechtliche Willkür fordert, dann lässt sich diese nur schwer aufhalten. Auch nicht durch Gesetze. Nur dass dieser Punkt keinesfalls erreicht ist. Und deshalb hagelt es jetzt Ärger für Reul und Stamp – das spricht ausnahmsweise mal für ein gesundes Empfinden von Rechtsstaatlichkeit.
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